Entscheidungsstichwort (Thema)
Bayerisches Landeserziehungsgeld. türkische Staatsangehörige. Antragsfrist. Fristversäumnis. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. höhere Gewalt
Orientierungssatz
Eine türkische Staatsangehörige, die wegen der Verwaltungspraxis des Bayerischen Landesamtes für Versorgung und Familienförderung erst nach der Entscheidung des BSG vom 29.1.2002 - B 10 EG 2/01 R = BSGE 89, 129 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2 - einen Antrag auf Gewährung von bayerischem Landeserziehungsgeld gestellt hat, war aufgrund höherer Gewalt und ohne eigenes Verschulden iS des § 27 SGB 10 an der Einhaltung der gesetzlichen Antragsfrist des Art 3 Abs 2 LErzGG BY gehindert.
Normenkette
LErzGG BY Art. 3 Abs. 2, Art. 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 Fassung: 1995-11-16, Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 Sätze 1-2; BErzGG § 10; SGB X § 27 Abs. 2; Beschluss des Assoziationsrats Nr.3/80 Fasssung: 1980-09-19
Tenor
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 05.05.2004 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des zweiten Rechtszuges zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch der Klägerin auf Landeserziehungsgeld (LErzg) für den 25. mit 36. Lebensmonat (21.10.1999 mit 20.10.2000) ihres Sohnes M. (M.) streitig.
I. Die 1968 geborene Klägerin, eine verheiratete türkische Staatsangehörige, welche seit 02.11.1990 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist und seit März 1994 ihren Aufenthalt in Bayern hat, ist die Mutter des 1997 in M. geborenen M. Sie lebte seither mit diesem, zwei weiteren Kindern und ihrem Ehemann in einem gemeinsamen Haushalt, betreute und erzog M. und übte daneben keine Erwerbstätigkeit aus. Sie war bei der AOK Bayern familienversichert. Durch Bescheide des Amtes für Versorgung und Familienförderung München I vom 01.12.1997 und 17.07.1998 wurde ihr Bundeserziehungsgeld (BErzg) gewährt, zuletzt für das zweite Lebensjahr des Kindes in Höhe von 580,00 DM monatlich (21.10.1998 mit 20.10.1999).
Die vom Beklagten den in Frage kommenden Eltern u.a. bereits bei der Geburt eines Kindes zur Verfügung gestellten Antragsgebinde für BErzg, LErzg und Familienbeihilfe (Stand 2/97, 2/98, 2/99, 2/00) enthalten auf S.7 jeweils folgende Hinweise: "Das LErzg erhält die Mutter/der Vater, wenn sie/er ... e) Deutscher ist oder die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union (EU) oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) besitzt.
Derselbe Wortlaut findet sich in der vom Beklagten herausgegebenen Broschüre "Bayerisches Landeserziehungsgeld" (Stand 2001) für die Anspruchsberechtigung bei Geburten vor dem 01.01.2001. Im Übrigen wird auf den Inhalt der vorgenannten Unterlagen vollinhaltlich verwiesen.
Am 29.01.2002 (Datum der BSG-Entscheidung, B 10 EG 2/01 R, SozR 3-6940 Art.3 Nr.2) hat das Bayerische Sozialministerium bekanntgegeben, "dass die Entscheidung des BSG vom selben Tage (welche türkischen Staatsangehörigen einen Anspruch auf LErzg zubilligt hat) von den Ämtern für Versorgung und Familienförderung so rasch wie möglich vollzogen werde."
"Seither haben die Ämter tausenden türkischen Familien Anträge auf LErzg ausgehändigt, sie beraten und tausende Anträge entgegengenommen" (vgl. Leserbrief der Bayerischen Sozialministerin in der Süddeutschen Zeitung vom 18.02.2002, S.54).
Am 31.01.2002 und 05.02.2002 berichtete die Deutschland-Ausgabe des Hürriyet erstmals über das oben angeführte höchstrichterliche Urteil.
Der daraufhin am 08.02.2002 von der Klägerin gestellte Antrag auf Bewilligung von LErzg wurde durch Bescheid vom 14.10.2002 (Widerspruchsbescheid vom 14.02.2003) mit der Begründung abgelehnt, der Antrag wirke höchstens sechs Monate vor der Antragstellung zurück, rage also nicht in den möglichen Anspruchszeitraum (21.10.1999 mit 20.10.2000) hinein. Auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH vom 04.05.1999 könne nicht auf die Einhaltung des konstitutiven Tatbestandsmerkmals der Antragsfrist verzichtet werden.
II. Mit der am 24.02.2003 zum Sozialgericht (SG) München erhobenen Klage machte die Klägerin im Wesentlichen geltend, der Beklagte habe bisher im außergerichtlichen Verfahren LErzg versagt. Die zeitliche Begrenzung des EuGH in der "Sürül"-Entscheidung sei willkürlich. Der Klägerin sei im Übrigen seinerzeit eine Broschüre mit dem Hinweis "in die Hand gedrückt worden", aufgrund der vorliegenden türkischen Staatsangehörigkeit stehe ihr LErzg nicht zu.
Der Beklagte verwies darauf, dass ein Leistungsanspruch nur gegeben sei, wenn die Voraussetzungen des Herstellungsanspruchs vorliegen. Er sei frühestens nach dem 04.05.1999 in der Lage gewesen, den betroffenen Personenkreis und damit auch die Klägerin zu informieren. Erst ab diesem Zeitpunkt hätten beachtliche Aussichten auf einen entsprechenden Leistungsanspruch bestanden. Erforderlich sei jedoch ein konkreter Anlass für eine eingehende Beratung, wohingegen Informationen über Merkblä...