Vielehe
Sachstand:
Gemäß § 34 Abs. 1 SGB I reicht ein Rechtsverhältnis, das gemäß Internationalem Privatrecht dem Recht eines anderen Staates unterliegt und nach diesem Recht besteht, soweit Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch (SGB) ein familienrechtlichen Rechtsverhältnis voraussetzen, nur aus, wenn es dem Rechtsverhältnis im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs entspricht.
Mit dem verstärkten Zuzug von Musliminnen und Muslimen kam in der Praxis die Frage auf, wie bei Leistungen der GKV, die eine Ehe voraussetzen, mit der im islamischen Recht teilweise anerkannten Vielehe umzugehen ist.
Das Sozialrecht baut auf dem Privatrecht auf und ist insoweit privatrechtsabhängig. Dies gilt auch für statusrechtliche Vorfragen aus dem Familienrecht. Es sind die Regelungen des internationalen Familienrechts zu beachten, welche wiederum Folgen für das anknüpfende Sozialrecht haben können.
Verkürzt dargestellt unterliegen gemäß Art. 13 Abs. 1 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche (EGBGB) die Voraussetzungen für die Eheschließung dem Recht des Staates, wo die Ehe geschlossen wurde. Gemäß Art. 6 des Allgemeinen Teils des EGBGB ist eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen unvereinbar ist. Sie ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist (sog. Ordre-public-Vorbehalt).
§ 34 Abs. 2 SGB I regelt, wie die Renten unter den Hinterbliebenen aufzuteilen sind, wenn eine Vielehe vorlag. Diese Ehe ist dem deutschen Recht zwar fremd, im islamischen Recht aber teilweise anerkannt: Ein Mann darf danach mit bis zu vier Frauen gleichzeitig verheiratet sein und schuldet ihnen Gleichbehandlung. Dieser auf Normen des Sozialversicherungsabkommens zwischen Deutschland und Marokko beruhenden Regel gibt § 34 Abs. 2 SGB I einen allgemeinen Ausdruck: Sie erkennt mit Wirkung für das deutsche Recht die im Heimatstaat geschlossene Vielehe an und ordnet nach dem Tod des Ehemannes die Aufteilung der Rente unter den Frauen zu gleichen Teilen an. Sie verwirft damit als denkbare Alternativen die Zahlung der vollen Rente an eine der Frauen oder die Aufteilung unter den Frauen nach Ehezeit.
Für die übrigen sozialrechtlichen Leistungen fehlt eine dem § 34 Abs. 2 SGB I vergleichbare Regelung zum Umgang mit der (wirksam im Ausland geschlossenen) Vielehe. Die Frage ist also anhand der allgemeinen Regelung des § 34 Abs. 1 SGB V zu prüfen.
Die Argumente für die restriktive Auslegung des § 34 SGB I fußen auf der Einheitlichkeit der deutschen Rechtsordnung:
Wie oben dargestellt ist gemäß Art. 6 EGBGB eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn die Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen unvereinbar ist.
Die Vielehe, die in einigen Ländern rechtskonform ist, ist mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts unvereinbar, da sowohl das Zivil- als auch das Strafrecht sie verbieten. Wer eine Doppelehe in Deutschland schließt, erfüllt den Straftatbestand des § 172 StGB; das Zivilrecht verbietet in § 1306 BGB die Vielehe.
Art. 6 EGBGB erklärt insbesondere eine ausländische Rechtsnorm für unanwendbar, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist. Nach den uns zur Verfügung stehenden Informationen ist in den entsprechenden Ländern die Vielehe nur für den Mann erlaubt, sodass die Rechtsnorm nach welcher die Vielehe in den entsprechenden Ländern erlaubt ist, mit dem Allgemeinen Gleichheitssatz, Art. 3 GG, und somit mit den Grundrechten unvereinbar ist. Nach deutlicher Tendenz der Rechtsprechung und des Schrifttums schützt auch Art. 6 GG grundsätzlich nur die Einehe (VG Berlin, Urteil v. 16.2.2009, 24 A 273.08, m.w.N.). Diese Einschätzung hat das BVerfG bereits im Beschluss vom 30.11.1982, 1 BvR 818/81 sinngemäß zum Ausdruck gebracht: damit ein familienrechtliches Verhältnis den Schutz des Art. 6 GG genieße, müsse sichergestellt sein, dass "die wesentlichen das Institut der Ehe bestimmenden Prinzipien (…) – etwa das Prinzip der Einehe" beachtet wurden.
Um ein einheitliches Verständnis im Umgang mit Vielehen zu erzielen, war eine Thematisierung in der Fachkonferenz Leistungs- und Beziehungsrecht angezeigt.
Besprechungsergebnis:
Die Besprechungsteilnehmer/-innen vertreten einvernehmlich die Auffassung, dass in Bezug auf die Prüfung von Leistungsansprüchen, die ein familienrechtliches Rechtsverhältnis voraussetzen, nur die erstgeschlossene Ehe zugrunde zu legen ist, wenn der Krankenkasse mehrere bestehende Ehen bekannt werden.