Leitsatz (amtlich)
Eine gesonderte und einheitliche Feststellung gemäß § 180 Abs.1 Nr.2 Buchst.a, § 179 Abs.2 Satz 2 AO 1977 ist auch dann erforderlich, wenn zweifelhaft ist, ob überhaupt einkommensteuerpflichtige Einkünfte vorliegen, an denen mehrere Personen beteiligt bzw. die mehreren Personen zuzurechnen sind, oder wenn zweifelhaft ist, ob für diese Personen überhaupt eine Einkommensteuerveranlagung durchgeführt werden darf.
Orientierungssatz
1. Hat das FA zu Unrecht seine Zuständigkeit zur endgültigen Entscheidung hinsichtlich einer Besteuerungsgrundlage im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung angenommen, weil es davon ausging, daß es eines Verfahrens zur einheitlichen und gesonderten Feststellung der Einkünfte nicht bedurfte, so muß das FG ein gegen den Einkommensteuerbescheid angestrengtes Klageverfahren gemäß § 74 FGO aussetzen, um den Ausgang eines Verfahrens der gesonderten Feststellung abzuwarten. Ein Verstoß dagegen berührt die Grundordnung des Verfahrens und ist vom BFH auch ohne entsprechende Verfahrensrüge zu beachten (vgl. BFH-Rechtsprechung).
2. Änderungen auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts (hier: Art. 97 § 1 EGAO 1977 i.V.m. § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977) sind auch in einem anhängigen Gerichtsverfahren zu berücksichtigen (vgl. BFH-Rechtsprechung).
3. Ein Fall geringerer Bedeutung i.S. von § 180 Abs. 3 Alt. 2 AO 1977 ist anzunehmen, wenn es sich um einen leicht überschaubaren Sachverhalt handelt, die Ermittlung der Einkünfte hinsichtlich Höhe und Zurechnung verhältnismäßig einfach und die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen nahezu ausgeschlossen ist (vgl. BFH-Urteil vom 26.7.1983 VIII R 28/79).
Normenkette
AO 1977 § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a, § 179 Abs. 2 S. 2; EGAO 1977 Art. 97 § 1; AO 1977 § 155 Abs. 2, § 162 Abs. 2; FGO §§ 74, 118 Abs. 3
Verfahrensgang
FG Köln (Entscheidung vom 28.09.1982; Aktenzeichen III (XIII) 280/79 E) |
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) bezog in den Streitjahren Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Sie hatte außerdem in den Jahren 1969 bis 1971 negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Aufgrund einer Kontrollmitteilung wurde bekannt, daß der Klägerin und ihrer Mutter 1968 im Vermächtniswege für fünf Jahre ein Wohnrecht im Anwesen in X. zugewandt worden war. Mit notariellem Vertrag vom 6.September 1968 (Vertrag) hatten sich die Vermächtnisnehmerinnen gegenüber den Erben des Vermächtnisgebers bezüglich des Wohnrechts verpflichtet, mit Wirkung vom 1.September 1968 die Wohnung im Interesse und zum Wohlergehen der Firma der Erben zu verlassen. Die Gegenleistung der Erben ist in § 3 dieses Vertrages wie folgt bestimmt:
"Als Gegenleistung für die Aufgabe der Wohnung haben ... die Erben ...
eine monatliche Abstandssumme als Miete von DM 432 festgelegt. Das von
Herrn ... erstellte Gutachten weist den Mietwert mit DM 432 aus und wird
von beiden Parteien anerkannt, einmal für die Entschädigung der Aufgabe
der Wohnung einerseits und andererseits für die Übernahme der Wohnung
gegen Zahlung von monatlich DM 432 auf die Dauer von vier Jahren und sechs
Monaten. Dabei wird davon ausgegangen, daß die Damen die Wohnung vom
Todestage (ergänze: des Erblassers) bis zum 6.September 1968 genutzt
haben."
Die berechtigten Vermächtnisnehmerinnen verzichteten auf weitere Ansprüche aus der Wohnungsaufgabe. Im Innenverhältnis sollte die Entschädigung den Berechtigten je zur Hälfte zustehen (§ 4 des Vertrags).
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) erfaßte die der Klägerin aufgrund dieser Vereinbarung zugeflossenen Beträge von monatlich 216 DM bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung. Die Einsprüche blieben im Ergebnis erfolglos. Allerdings ordnete das FA nunmehr in der Einspruchsentscheidung vom 28.August 1979 die Zuwendungen als sonstige Einkünfte nach § 22 Nr.3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ein.
Auf die Klage hob das Finanzgericht (FG) die Einkommensteuerbescheide 1969 bis 1972 in Gestalt der Einspruchsentscheidung antragsgemäß auf, weil die fraglichen Zuwendungen nicht einkommensteuerpflichtig seien.
Die Entscheidung des FG ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1983, 289 veröffentlicht.
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die fehlerhafte Anwendung des § 22 Nr.3 EStG, hilfsweise, die Nichtanwendung des § 21 EStG durch das FG.
Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Vorentscheidung verletzt § 180 Abs.1 Nr.2 Buchst.a der Abgabenordnung (AO 1977) i.V.m. Art.97 § 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) vom 14.Dezember 1976 (BGBl I, 3341, BStBl I, 694). Im Streitfall hätte das FG das Verfahren gemäß § 74 FGO aussetzen und den Abschluß eines Verfahrens der gesonderten Feststellung abwarten müssen. Der Verstoß hiergegen berührt die Grundordnung des Verfahrens. Er ist auch ohne entsprechende Verfahrensrüge zu beachten (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14.Februar 1984 VIII R 126/82, BFHE 141, 124, BStBl II 1984, 580, und vom 26.Juli 1983 VIII R 28/79, BFHE 139, 335, BStBl II 1984, 290).
Zwar gilt die Vorschrift des § 180 Abs.1 Nr.2 Buchst.a AO 1977 erst ab dem Inkrafttreten der AO 1977 am 1.Januar 1977. Sie ist aber auch anzuwenden, wenn Bescheide noch im zeitlichen Geltungsbereich der Reichsabgabenordnung (AO) erlassen worden sind, das Verfahren über sie aber noch nicht bestandskräftig abgeschlossen worden ist (vgl. Art.97 § 1 EGAO 1977). Im Streitfall erging die Einspruchsentscheidung nach dem 31.Dezember 1976. Nach der Rechtsprechung des BFH sind Änderungen auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts auch in einem rechtshängigen Gerichtsverfahren zu berücksichtigen (Urteile vom 8.Februar 1977 VIII R 50/74, BFHE 121, 379, BStBl II 1977, 516, und in BFHE 139, 335, BStBl II 1984, 290). § 180 Abs.1 Nr.2 Buchst.a AO 1977 bezieht sich auf alle einkommensteuerpflichtigen Einkünfte im Sinne des § 2 Abs.3 Nr.1 bis 7 EStG 1969 bzw. 1971.
Eine gesonderte und einheitliche Feststellung gemäß § 180 Abs.1 Nr.2 Buchst.a , § 179 Abs.2 Satz 2 AO 1977 ist aber auch dann erforderlich, wenn zweifelhaft ist, ob überhaupt einkommensteuerpflichtige Einkünfte vorliegen, an denen mehrere Personen beteiligt bzw. ob sie mehreren Personen zuzurechnen sind.
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob dies vom Wortlaut des § 180 Abs.1 Nr.2 Buchst.a AO 1977 noch gedeckt ist. Denn Zweck dieser Vorschrift ist u.a. gerade, in Fällen der Beteiligung mehrerer an Einkünften eine einheitliche Sachbehandlung durch die Finanzbehörden sicherzustellen (vgl. dazu mit weiterem Nachweis Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 8.Aufl., § 180 AO Rdnr.92; zum Vorläufer des § 180 Abs.1 Nr.2 Buchst.a AO 1977 schon Strutz, Kommentar zum Einkommensteuergesetz 1925, § 65 Anm.2 a, b). Dies gilt nicht nur für Art, Höhe und Zurechnung von Einkünften, sondern gleichermaßen auch für den Fall, daß die Einkommensteuerpflicht solcher Einkünfte, an denen mehrere beteiligt sind, zweifelhaft ist. Denn auch ein solcher Fall erfordert eine einheitliche Klärung.
Der Senat schließt mit dieser Auffassung an die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (RFH) an, wonach die Frage, ob durch die Tätigkeit mehrerer Personen steuerpflichtige oder mangels Einkunftserzielungsabsicht nicht steuerbare Einkünfte vorliegen, im Verfahren der gesonderten und einheitlichen Feststellung entschieden werden müsse (Urteil vom 13.März 1929 VI a 24, 25/29, RStBl 1929, 369; gegenteiliger Ansicht Söhn, a.a.O., § 180 AO Rdnr.143). Dem steht nicht die Entscheidung des BFH vom 14.April 1972 IV R 172/69 (BFHE 105, 360, BStBl II 1972, 599) entgegen, wonach eine einheitliche Gewinnfeststellung gemäß § 215 Abs.2 AO wegen fehlender Gewinnerzielungsabsicht nicht in Betracht kommt. Denn dort lag ein negativer Feststellungsbescheid des FA vor, so daß die Gefahr divergierender Entscheidungen nicht bestand.
Hiernach durfte das FG im Verfahren wegen Einkommensteuer 1969 bis 1972 der Klägerin keine Entscheidung darüber treffen, ob die "Wohnungsmietentschädigungen" steuerpflichtige oder nicht steuerbare Einkünfte darstellten, auch wenn es im konkreten Fall von letzterem ausging. Der Senat teilt die vom FG München in seinem Urteil vom 30.November 1978 I (VI) 227/71 (EFG 1979, 343) vertretene Ansicht nicht. Insbesondere ist diese Ansicht nicht auf solche Fälle übertragbar, in denen --wie hier-- die Steuerpflicht von Einkünften, an denen mehrere beteiligt sind, zweifelhaft ist. Diese Zweifel des FA, daß die von der Klägerin bezogenen Einkünfte --entweder als sonstige Einkünfte oder als solche aus Vermietung und Verpachtung-- einkommensteuerpflichtig sind, können nur durch gesonderte und einheitliche Feststellungen geklärt werden, weil die Klägerin und ihre Mutter diesen Sachverhalt gemeinschaftlich (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 19.Februar 1981 IV R 152/76, BFHE 133, 180, BStBl II 1981, 602) verwirklicht haben. Denn das vermächtnisweise zugewandte obligatorische Nutzungsrecht stand nach dem vom FG festgestellten Sachverhalt, an den der Senat mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen gebunden ist (§ 118 Abs.2 FGO), der Klägerin und ihrer Mutter gemeinsam zu und beide ließen sich den Verzicht auf die Ausübung des Wohnrechts gemeinsam abgelten. Eine Steuerpflicht der Bezüge der Mutter der Klägerin entfiele jedenfalls nach Auffassung des FG, wenn man wie das FG von einem Ausgleich für den Verzicht auf eine vermögenswerte Rechtsposition ausgeht. Dem FG ist jedoch eine Entscheidung mit Bindungswirkung für die Mutter der Klägerin verwehrt (§ 110 Abs.1 Satz 1 FGO).
Das FG hätte auf die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO auch nicht im Hinblick auf die durch Art.13 Nr.2 und 3 des Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes, des Körperschaftsteuergesetzes und anderer Gesetze vom 20.August 1980 (BGBl I 1980, 1545, 1554, BStBl I 1980, 589, 598) in die AO 1977 eingeführten Vorschriften des § 155 Abs.2 bzw. § 162 Abs.3 AO 1977 verzichten dürfen. Hiernach kann das FA einen Folgebescheid mit geschätzten Besteuerungsgrundlagen erlassen, wenn ein Grundlagenbescheid noch nicht ergangen ist. Diese Fallgestaltung liegt hier nicht vor. Denn das FA wollte im Hinblick auf die fraglichen Einkünfte keine vorläufige Maßnahme treffen, sondern ging davon aus, daß es eines Verfahrens zur Feststellung der umstrittenen Einkünfte nicht bedürfe. Damit hat es zu Unrecht seine Zuständigkeit zur endgültigen Entscheidung einer Besteuerungsgrundlage in Anspruch genommen. Auch in diesem Fall muß das FG das Klageverfahren gemäß § 74 FGO aussetzen, um den Ausgang des Verfahrens der gesonderten Feststellung abzuwarten (Urteil in BFHE 139, 335, BStBl II 1984, 290, 292 m.w.N.).
Das Erfordernis eines gesonderten Feststellungsverfahrens entfällt auch nicht wegen geringerer Bedeutung im Sinne des § 180 Abs.3 2.Alternative AO 1977. Ein Fall geringerer Bedeutung ist anzunehmen, wenn es sich um einen leicht überschaubaren Sachverhalt handelt, die Ermittlung der Einkünfte hinsichtlich Höhe und Zurechnung verhältnismäßig einfach und die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen nahezu ausgeschlossen ist (Urteil in BFHE 139, 335, BStBl II 1984, 290).
Im Streitfall ist schon die Entscheidung schwierig, ob überhaupt steuerbare Einkünfte vorliegen und wenn ja, unter welcher Einkunftsart sie einzuordnen wären. Hinzu kommt, daß die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen besteht, wenn für die Klägerin bzw. ihre Mutter nicht dasselbe FA zuständig ist.
Fundstellen
Haufe-Index 60869 |
BStBl II 1986, 239 |
BFHE 145, 308 |
BFHE 1986, 308 |
BB 1986, 518-519 (ST) |
DB 1986, 952-952 (ST) |
HFR 1986, 225-226 (ST) |