Leitsatz (amtlich)
Für Entscheidungen nach § 131 AO sind die in den Steuergesetzen selbst gesetzten Maßstäbe bindend. Demnach können Umstände, die dem Besteuerungszweck entsprechen oder die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung eines Tatbestandes bewußt in Kauf genommen hat, einen Erlaß aus Billigkeitsgründen nicht rechtfertigen.
Normenkette
AO § 131 Abs. 1 S. 2; UStG 1951 § 4 Nr. 4; UStDB 1951 § 14 Abs. 3, § 11 Abs. 4
Tatbestand
Die Klägerin, Revisionsklägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) war in der hier in Betracht kommenden Zeit vom Dezember 1962 bis September 1964 Organträger der X-GmbH in D. Diese betrieb auf dem dortigen Großmarkt den Obst- und Gemüsegroßhandel. Die Klägerin nahm für die Lieferungen der GmbH Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 4 UStG 1951 in Anspruch, die der Beklagte, Revisionsbeklagte und Revisionskläger (FA) nach einer Fahndungsprüfung für einen Teil der Umsätze versagte, weil die GmbH insoweit den Buchnachweis nicht ordnungsgemäß erbracht habe. Das FA stützte seine Meinung auf das Ergebnis der Prüfung. Danach hatte die GmbH, um ihre Großhandelslieferungen buchmäßig nachzuweisen, die Durchschriften der Ausgangsrechnungen nach den Namen der Abnehmer alphabetisch geordnet aufbewahrt und gesondert ein Anschriftenverzeichnis geführt, ohne Beruf oder Gewerbe der Kunden in den Unterlagen zu vermerken. Mehrere Abnehmer, für die die GmbH Rechnungsdurchschriften abgelegt hatte, waren in dem Verzeichnis nicht eingetragen, andere waren unter den angegebenen Namen oder der im Kundenverzeichnis angeführten Anschrift nicht zu ermitteln. Das FA vertrat daher in Übereinstimmung mit den Prüfern die Ansicht, daß wegen des insoweit fehlenden Buchnachweises Umsätze von insgesamt ... DM dem Satz von 4 v. H. zu unterwerfen seien und Umsatzsteuer von ... DM nachzufordern sei.
Mit den Schreiben vom Mai und Oktober 1965 beantragte die Klägerin, die Mehrsteuern aus Billigkeitsgründen zu erlassen. Das FA lehnte den Antrag ab, die Beschwerde wurde als unbegründet zurückgewiesen.
Das FG hat auf das Rechtsmittel der Klägerin die genannten Entscheidungen nach § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufgehoben, dem FA gem. § 101 Satz 2 FGO die Verpflichtung auferlegt, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden....
Wegen der Ausführungen wird auf den in den EFG 1970, 40 abgedruckten Teil der Vorentscheidung Bezug genommen.
Wegen der übrigen Umsätze, bei denen ein ordnungsgemäßer Buchnachweis fehlte, ... sei, so hat das FG weiter ausgeführt, nach dem Akteninhalt und dem Vorbringen der Klägerin ein unredliches Verhalten der Abnehmer nicht erkennbar. Die Buchnachweismängel hätten ihre Ursache offenbar ausschließlich im Bereich der GmbH. Somit erscheine die Erhebung der Steuer in diesen Fällen nicht unbillig, zumal wegen der besonderen Umstände nicht auszuschließen sei, daß die GmbH, ungeachtet der Mängel des Buchnachweises, tatsächlich im Einzelhandel geliefert und demzufolge die Umsatzsteuer zu zahlen habe, die bei Lieferungen im Einzelhandel entstanden sei.
Gegen diese Entscheidung richten sich die Revisionen der Klägerin und des FA.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Auf die Revision des FA ist das angefochtene Urteil aufzuheben.
Wie der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes in dem Beschluß vom 19. Oktober 1971 GmSOGB 3/70 (BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603) entschieden hat, handelt es sich bei dem in § 131 AO verwendeten Begriff "unbillig" - entgegen der Meinung der Klägerin - nicht um einen von den Gerichten voll nachprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff. Die Entscheidung der Verwaltung nach § 131 AO, ob die Einziehung einer Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, ist vielmehr von den Gerichten nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätze zu prüfen. Danach werden Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens durch den Maßstab der Billigkeit bestimmt. Diese Ausführungen des Gemeinsamen Senats sind in dem Sinne zu verstehen, daß der in § 131 Abs. 1 Satz 1 AO enthaltene Begriff der Unbilligkeit der Einziehung einer Steuer die Grenze bildet, die das Gesetz dem Ermessen setzt und daß die Ermessensausübung innerhalb dieser Grenze durch Billigkeit und Zweckmäßigkeit bestimmt wird, wobei Zweckmäßigkeit i. S. des § 2 Abs. 2 StAnpG bedeutet, daß der Gesetzeszweck zu berücksichtigen ist (vgl. Urteil des BFH vom 26. Juli 1972 I R 158/71, BFHE 106, 489, BStBl II 1972, 919). Das Gericht hat demnach zu beurteilen, ob die Behörde im Rahmen des ihr zustehenden Spielraums tätig geworden ist, Billigkeit und Zweckmäßigkeit beachtet und von ihrem Ermessen in rechtlich vertretbarer Weise Gebrauch gemacht hat. Das ist nach dem sachlichen Inhalt der von der Verwaltung gegebenen Begründungen zu bejahen.
Nach der neueren Rechtsprechung des BFH, die durch den Beschluß GmS-OGB 3/70 im Ergebnis als zutreffend bestätigt worden ist, kann ein Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen nur gewährt werden, wenn die Besteuerung eines Sachverhalts, der unter einen gesetzlichen Besteuerungstatbestand fällt, im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Steuergesetzes nicht vereinbar ist, wenn also ein Überhang des gesetzlichen Tatbestands über die Wertungen des Gesetzgebers feststellbar ist und der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Besteuerung aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft (BFH-Urteil vom 25. Juli 1972 VIII R 59/68, BFHE 106, 486, BStBl II 1972, 918). Demnach können Umstände, die dem Besteuerungszweck entsprechen oder die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung eines Tatbestands bewußt in Kauf genommen hat, einen Erlaß aus Billigkeitsgründen nicht rechtfertigen. Denn auch für Entscheidungen nach § 131 AO sind die in den Steuergesetzen selbst gesetzten Maßstäbe bindend.
In diesem Zusammenhang ist auf folgendes hinzuweisen: Der Gesetzgeber hat neben dem allgemeinen Steuersatz von 4 v. H. nach § 7 Abs. 1 UStG 1951 u. a. den ermäßigten Satz von 1 v. H. (§ 7 Abs. 3 UStG 1951) und Steuerfreiheit für Lieferungen bestimmter Gegenstände im Großhandel (§ 4 Nr. 4 UStG 1951) vorgesehen. Damit gewährte er einem bestimmten Kreis von Unternehmern Vergünstigungen. Bei der Schaffung dieser Regelung war er nicht gehindert, die Steuerermäßigung oder -freiheit von bestimmten Bedingungen abhängig zu machen. Während der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber durch § 161 Abs. 1 Nr. 2 AO und § 15 UStDB 1951 für alle Unternehmer die Aufzeichnungspflicht bindend vorgeschrieben hat, stellte er denjenigen Unternehmern, die Steuerfreiheit oder -ermäßigung in Anspruch nehmen wollten, im eigenen Interesse anheim, den buchmäßigen Nachweis über das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen der beanspruchten Vergünstigung in einer bestimmten Art zu führen (§ 14 Abs. 3 UStDB 1951), damit der Verwaltung eine leichte Nachprüfung möglich ist, ob die Voraussetzungen der Begünstigungstatbestände vorliegen. Auszugehen ist dabei nach ständiger Rechtsprechung des BFH vom objektiven Zustand der buchmäßigen Aufzeichnungen, ohne daß es darauf ankommt, ob der Buchnachweis infolge eines Irrtums oder sogar ohne jedes Verschulden des Unternehmers unterblieben ist. Sind aus irgendeinem Grunde Lieferungen im Großhandel als solche aus der Buchführung nicht eindeutig und leicht nachprüfbar ersichtlich, hat also der Unternehmer den buchmäßigen Nachweis tatsächlich nicht erbracht, "gelten" die Großhandelslieferungen als Umsätze im Einzelhandel (§ 11 Abs. 4 UStDB 1951). Durch diese rechtliche Gestaltung hat der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber eine objektive Abgrenzung geschaffen und damit zum Ausdruck gebracht, in welchen Fällen er Steuerfreiheit gewähren wollte, und daß er Unternehmern, die den buchmäßigen Nachweis nicht erbracht haben, die Vergünstigung auch dann versagen wollte, wenn das Fehlen des buchmäßigen Nachweises nicht auf ihrem Verschulden beruht. Wenn die gesetzgebenden Organe trotz Kenntnis der Rechtsprechung des erkennenden Senats zum Buchnachweis nicht eine Änderung der seit Jahrzehnten geltenden Vorschriften, insbesondere des § 11 Abs. 4 UStDB 1951, herbeiführten, kann hieraus nur geschlossen werden, daß Härten, die durch die Auslegung des § 4 Nr. 4 UStG 1951 i. V. mit §§ 14 Abs. 3, 11 Abs. 4 UStDB 1951 auftreten können, in Kauf genommen worden sind, ohne daß diese Regelung durch Billigkeitsmaßnahmen außer Kraft gesetzt werden sollte. Die Verwaltung konnte demzufolge im Rahmen des ihr zustehenden Ermessensspielraums das Vorliegen sachlicher Billigkeitsgründe verneinen, weil bei der klaren Fassung der einschlägigen Vorschriften nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers nicht angenommen werden kann, daß dieser die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage - hätte er sie geregelt - im Sinne des begehrten Erlasses entschieden haben würde, und weil besondere Umstände, die die gesetzlichen Rechtsfolgen im vorliegenden Fall als unbillig erscheinen lassen, nicht gegeben sind.....
Das angefochtene Urteil, das den von der Klägerin behaupteten Täuschungshandlungen der Kundin A besondere Bedeutung zugemessen hat, auf die es jedoch, wie oben ausgeführt, nicht ankommt, ist auf die Revision des FA wegen unrichtiger Rechtsanwendung aufzuheben, ohne daß auf die gerügten Verfahrensmängel einzugehen ist.
Die Revision der Klägerin kann keinen Erfolg haben.
Nach den vorstehenden Ausführungen zur Revision des FA ist die Ablehnung des begehrten Erlasses durch die Verwaltung nicht rechtswidrig, weil diese die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht überschritten und auch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.
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Fundstellen
Haufe-Index 70408 |
BStBl II 1973, 466 |
BFHE 1973, 571 |
NJW 1973, 1824 |