Entscheidungsstichwort (Thema)
Tilgung der Haftungsschuld; Berechnung der Lohnsteuer-Haftungsschuld
Leitsatz (NV)
1. Zur Reihenfolge der Tilgung der Lohnsteuer-Haftungsschuld des Geschäftsführers bei Zahlungen der mit ihm gesamtschuldnerisch haftenden Arbeitgeber-GmbH.
2. Die Lohnsteuer, für die der Geschäftsführer einer GmbH nach §§ 69, 71 AO 1977 haftet, ist auch dann mit dem niedrigeren Bruttosteuersatz zu berechnen, wenn gegenüber der Arbeitgeber-GmbH ein Haftungsbescheid ergangen ist, in dem die Lohnsteuer-Haftungsschuld rechtswidrig mit dem höheren Nettosteuersatz berechnet worden und dieser Bescheid bestandskräftig geworden ist.
Normenkette
AO 1977 §§ 69, 71, 44, 47, 166, 191, 255, 370 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war Geschäftsführer einer GmbH, die überwiegend geringverdienende Arbeitskräfte beschäftigte. Die Auswertung der Unterlagen der GmbH über die Lohnversteuerung ergab, daß bei ... v. H. der pauschal versteuerten Aushilfslöhne die gesetzlichen Voraussetzungen dafür nicht erfüllt waren.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) forderte von der GmbH mit Haftungsbescheid aus dem Jahre 1987 Lohnsteuer und Lohnkirchensteuer von insgesamt ... DM für die zu Unrecht pauschal versteuerten Löhne der Jahre 1981 bis September 1986. Gegenüber dem Kläger erließ das FA einen auf §§ 69, 71 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Haftungsbescheid über ... DM Lohnsteuer und die entsprechende Lohnkirchensteuer. Es war bei seiner Berechnung der Lohnsteuer in beiden Haftungsbescheiden von einem Nettosteuersatz von 28,2 v. H. ausgegangen, hatte sodann jedoch jeweils berücksichtigt, daß die GmbH bereits eine Pauschalversteuerung mit 10 v. H. vorgenommen hatte.
Mit Bescheid vom März 1991 minderte das FA die Haftungsschuld des Klägers für Lohnsteuer um einen Anspruch der GmbH auf Erstattung von Körperschaftsteuer.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und hob den Haftungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom Juli 1991 auf. Es entschied, die Haftungsschuld des Geschäftsführers für Lohnsteuer sei ebenso wie diejenige des Arbeitgebers mit dem niedrigeren Bruttosteuersatz und nicht -- wie vom FA angenommen -- mit dem höheren Nettosteuersatz zu berechnen. Die solchermaßen berechnete Haftungsschuld des Klägers sei jedoch durch "Zahlungen" der GmbH getilgt worden und damit erloschen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1995, 698 veröffentlicht.
Entscheidungsgründe
Das FA rügt mit seiner Revision eine Verletzung der §§ 69, 71 und 191 AO 1977.
I. Die Revision des FA ist entgegen der Auffassung des Klägers schon deshalb zulässig, weil sie im Tenor des finanzgerichtlichen Urteils in vollem Umfang ohne jede Einschränkung zugelassen worden ist.
II. Die Revision des FA ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
Dem FG kann auf der Grundlage seiner bisherigen tatsächlichen Feststellungen nicht darin gefolgt werden, daß die Haftungsschuld des Klägers -- wenn man ihr Bestehen dem Grunde nach unterstellt -- erloschen und daher der Haftungsbescheid insgesamt aufzuheben ist. Allerdings wäre, wenn die übrigen Voraussetzungen der §§ 5, 69, 71, 191 Abs. 1 AO 1977 vorlägen und eine Tilgung durch die GmbH nicht festgestellt werden kann, die Lohnsteuer wegen der in den Jahren 1985 und 1986 zu Unrecht pauschal versteuerten Löhne entgegen der Auffassung des FA auf jeden Fall nur mit dem (niedrigeren) Bruttosteuersatz und nicht mit dem Nettosteuersatz zu berechnen.
1. Da der Haftungsbescheid vom Oktober 1987 i. d. F. des Bescheides vom März 1991 und der Einspruchsentscheidung vom Juli 1991 durch den nach Erlaß des finanzgerichtlichen Urteils ergangenen Bescheid vom März 1995 teilweise aufgehoben worden ist, ist nunmehr nur noch die Lohnsteuer und die von dieser in ihrer Höhe abhängige Lohnkirchensteuer für die Jahre 1985 und 1986 im Streit. Der Haftungsbescheid i. d. F. vom März 1995 wäre zwar auf jeden Fall aufzuheben, wenn die Annahme des FG zuträfe, daß die Haftungsschuld auch insoweit von der GmbH getilgt worden und damit erloschen ist (vgl. §§ 44, 47, 225 AO 1977). Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des FG lassen eine derartige Schlußfolgerung jedoch nicht zu. Die Rechtsansicht des FG, eine Tilgung sei schon deshalb eingetreten, weil die GmbH insgesamt auf die Lohnsteuer der Jahre 1981 bis 1986 einen höheren Betrag geleistet habe, als die Berechnung der Lohnsteuer mit dem Bruttosteuersatz ergebe, entbehrt der Rechtsgrundlage.
Gegenüber der GmbH war die Lohnsteuer durch Haftungsbescheid aus dem Jahre 1987 festgesetzt worden. Die Lohnsteuer in diesem Bescheid war mit dem (höheren) Nettosteuersatz und nicht mit dem (niedrigeren) Bruttosteuersatz berechnet worden. Dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden. Damit hatte die GmbH die festgesetzten Beträge unabhängig davon zu entrichten, ob sie fehlerfrei oder fehlerhaft zu hoch berechnet worden waren. Die GmbH schuldete auf jeden Fall die bestandskräftig festgesetzten Beträge (§ 218 Abs. 1 AO 1977).
Das FA ist davon ausgegangen, daß durch die Leistungen der GmbH jeweils in vollem Umfang -- und nicht etwa nur anteilig in Höhe des niedrigeren Bruttosteuersatzes -- die Lohnsteuerhaftungsschulden älterer Jahre getilgt worden sind. Dies ergibt sich aus der Berechnung der verbleibenden Haftungsschuld des Klägers in dem Teilaufhebungsbescheid vom März 1995. Denn dort ist die ursprünglich einmal auch für die Jahre 1981 bis 1984 festgesetzte Haftungsschuld des Klägers, die das FA ebenfalls mit dem Nettosteuersatz berechnet hatte, vollständig und nicht etwa nur anteilig in Höhe des Bruttosteuersatzes als getilgt behandelt worden.
Das FA kann sich für die Richtigkeit seiner Vorgehensweise auf § 225 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 berufen, wenn die gegenüber der GmbH festgesetzte Haftungsschuld insgesamt an demselben Tage fällig geworden ist. Denn nach dieser Vorschrift ist die Finanzbehörde berechtigt, bei gleichzeitig fällig gewordenen Beträgen die Reihenfolge der Tilgung zu bestimmen. Vor diesem rechtlichen Hintergrund könnte ohne weitere tatsächliche Feststellungen des FG eine anteilige Tilgung der Lohnsteuer der Jahre 1985 und 1986 durch die GmbH nur dann zweifelsfrei angenommen werden, wenn das FG festgestellt hätte, daß die GmbH freiwillige Zahlungen mit der ausdrücklichen Bestimmung erbracht hat, die Haftungsschuld für Lohnsteuer 1985 und 1986 solle ganz oder zumindest anteilig getilgt werden (vgl. § 225 Abs. 1 AO 1977). Eine derartige Feststellung hat das FG jedoch nicht getroffen.
2. Der nur noch die Lohnsteuer der Jahre 1985 und 1986 betreffende Haftungsbescheid i. d. F. vom März 1995 verletzt den Kläger aber in seinen Rechten und wird mithin auf jeden Fall aufzuheben sein, soweit darin die Lohnsteuer (Haftungsschuld) mit dem höheren Nettosteuersatz und nicht mit dem niedrigeren Bruttosteuersatz berechnet worden ist.
a) Nach § 71 AO 1977, auf den das FA den Haftungsbescheid u. a. gestützt hat, wird u. a. "für die verkürzten Steuern" gehaftet. Gemäß § 370 Abs. 4 AO 1977 sind Steuern namentlich dann verkürzt, wenn sie nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden. Für die in den Jahren 1985 und 1986 zu Unrecht pauschal versteuerten Löhne war die Lohnsteuer nur in der mit dem Bruttosteuersatz berechneten Höhe verkürzt. Nur insoweit war die GmbH und damit der Kläger als ihr Geschäftsführer zu ihrer Anmeldung und Abführung (§ 41 a des Einkommensteuergesetzes -- EStG --) verpflichtet. "Lohnsteuer auf Lohnsteuer" und mithin eine höhere Steuer als die mit dem Bruttosteuersatz berechnete Lohnsteuer konnte für die zu Unrecht pauschal versteuerten Lohnzuflüsse in den Jahren 1985 und 1986 frühestens erst in dem Zeitpunkt entstehen und ggf. durch Unterlassen ihrer Anmeldung und Abführung verkürzt werden, in dem die GmbH die mit dem Bruttosteuersatz berechnete Lohnsteuer für 1985 und 1986 bezahlt hat. Denn erst die Zahlung dieser Lohnsteuer konnte in Verbindung mit einem Regreßverzicht den Zufluß weiteren Lohnes im Zeitpunkt der Zahlung bewirken (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 29. Oktober 1993 VI R 26/92, BFHE 172, 472, BStBl II 1994, 197). Aus der eigenen Berechnung des FA, die seinem Bescheid vom März 1995 erkennbar zugrunde liegt, läßt sich aber ableiten, daß es selbst annimmt, die Lohnsteuer der Jahre 1985 und 1986 sei von der GmbH bisher gerade noch nicht getilgt worden.
b) Im Ergebnis gilt nichts anderes, soweit das FA die Haftung aus § 69 AO 1977 ableitet. Diese Vorschrift hat Schadensersatzcharakter (BFH-Urteil vom 5. März 1991 VII R 93/88, BFHE 164, 203, BStBl II 1991, 678, 680, unter Nr. 2 b aa der Entscheidungsgründe). Daraus folgt, daß sich der Umfang der Haftung danach bestimmt, inwieweit zwischen der Pflichtverletzung und dem eingetretenen Steuerausfall (Schaden) ein Kausalzusammenhang besteht (vgl. BFH- Urteile in BFHE 164, 203, BStBl II 1991, 678, 680; vom 26. August 1992 VII R 50/91, BFHE 169, 13, BStBl II 1993, 8, 9, unter Nr. 2 b der Entscheidungsgründe; vom 23. August 1994 VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570, 571). Im Streitfall ist dem FA wegen der zu Unrecht mit 10 v. H. pauschalversteuerten Löhne der Jahre 1985 und 1986 bisher aber nur ein Schaden in Höhe der mit dem Bruttosteuersatz berechneten Lohnsteuer entstanden. Ein diese Lohnsteuer übersteigender höherer Schaden könnte frühestens dann eintreten, wenn die GmbH die Lohnsteuer in dieser Höhe bezahlt. Denn frühestens dann könnte -- wie bereits dargelegt -- eine Lohnsteuer auf die Lohnsteuer entstehen.
c) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 166 AO 1977 in Verbindung mit dem Umstand, daß der gegenüber der GmbH erlassene Haftungsbescheid, in dem die Lohnsteuer mit dem Nettosteuersatz berechnet worden ist, unanfechtbar geworden ist. Nach § 166 AO 1977 muß eine unanfechtbare Steuerfestsetzung u. a. auch gegen sich gelten lassen, wer in der Lage gewesen wäre, den gegen den Steuerpflichtigen erlassenen Bescheid als dessen Vertreter, Bevollmächtigter oder kraft eigenen Rechts anzufechten. § 166 befindet sich in dem die Steuerfestsetzung betreffenden Dritten Abschnitt des Vierten Teils der AO 1977. Diese Vorschriften gelten -- soweit nicht ausdrücklich etwas anderes angeordnet ist -- nicht für Haftungsbescheide (vgl. Kühn/Hofmann, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, Nebengesetze, 17. Aufl., § 191 AO 1977 Bem. 2 a. E.). Eine entsprechende Anwendung des § 166 AO 1977 auf die unanfechtbare Festsetzung einer Haftungsschuld ist weder in § 191 AO 1977 noch an anderer Stelle angeordnet worden. Sie wäre auch sinnwidrig, soweit -- wie im Streitfall -- unterschiedliche Haftungsvoraussetzungen bestehen.
3. Die Vorentscheidung ist von anderen Grundsätzen ausgegangen und deshalb aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG wird im zweiten Rechtsgang abschließend zu klären haben, ob unter Berücksichtigung des § 225 AO 1977 eine Tilgung der Lohnsteuer der Jahre 1985 und 1986 durch die Leistungen der GmbH eingetreten ist und ob verneinendenfalls die Voraussetzungen der §§ 5, 69, 71, 191 Abs. 1 AO 1977 für eine Inanspruchnahme des Klägers in Höhe der mit dem Bruttosteuersatz berechneten Lohnsteuer erfüllt sind.
Fundstellen
Haufe-Index 421117 |
BFH/NV 1996, 285 |