Entscheidungsstichwort (Thema)
Kosten für behindertengerechte Unterbringung in betreuter Wohngemeinschaft als außergewöhnlich Belastung; Notwendigkeitsnachweis
Leitsatz (amtlich)
Kosten für die behinderungsbedingte Unterbringung in einer betreuten Wohngemeinschaft können außergewöhnliche Belastungen sein. Werden die Kosten vom Sozialhilfeträger übernommen, braucht die Notwendigkeit der Unterbringung nicht anhand eines amtsärztlichen Attestes nachgewiesen zu werden.
Normenkette
EStG §§ 33, 33b Abs. 3; BSHG § 3 Abs. 2 S. 2, §§ 3a, 39
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der 1949 geborene Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist seit seiner Geburt körperlich und mental behindert. Ihm ist vom Versorgungsamt ein Grad der Behinderung von 60 v.H. bescheinigt worden. Seine Defizite sind nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) augenfällig, er ist jedoch nicht hilflos (Merkzeichen: "H") oder pflegebedürftig i.S. von § 15 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI).
Der Kläger lebt mindestens seit 1991 in einer betreuten Wohngruppe, die der vollstationären Unterbringung volljähriger Menschen mit Behinderungen dient und ein Heim i.S. des § 1 des Heimgesetzes (HeimG) ist. Aufgenommen werden Menschen mit geistiger und mit geistiger und mehrfacher Behinderung.
Der Leistungsplan des Heimes bietet direkte und indirekte Leistungen, deren Zielsetzung in Anlehnung an die §§ 39, 40 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) bestimmt ist. Die Kosten werden als Eingliederungshilfe gemäß § 39 BSHG vom Landessozialamt getragen. Das Betreuungsgeld betrug im Streitjahr 1997 entsprechend der Pflegesatzvereinbarung zwischen Sozialamt und dem Träger des Heimes (ohne zusätzlichen Barbetrag und Taschengeld für die Bewohner) monatlich 4 781,90 DM. Der Heimträger erstellt über den Kläger regelmäßig mehrseitige Folgeberichte für das Landesamt für Rehabilitation. Die Notwendigkeit der Betreuung des Klägers in der Wohngruppe ist durch ―undatiertes― ärztliches Zeugnis bescheinigt worden.
Während alle anderen Mitbewohner in einer beschützenden Werkstatt tätig sind, ist der Kläger seit etwa 30 Jahren als Abpacker beschäftigt. Nachdem er zunächst 20 Jahre in Vollzeit gearbeitet hatte, wurde seine Arbeitszeit vor ca. 10 Jahren infolge ärztlichen Verlangens auf halbschichtige Tätigkeit reduziert.
Der Nettoarbeitslohn des Klägers wird vom Sozialamt vollständig zur Bezahlung der Heimkosten eingesetzt; im Streitjahr waren dies 11 792,55 DM. Darüber hinaus hat das Sozialamt eine seit 1. Oktober 1995 bezogene Erwerbsunfähigkeitsrente des Klägers ―im Streitjahr 17 389 DM― auf sich übergeleitet. Der Kläger erhält ―wie andere Mitbewohner auch― vom Heimträger ein Taschengeld und einen zusätzlichen Barbetrag von monatlich 225,75 DM (= 2 709 DM im Jahr).
Im Einkommensteuerbescheid 1997 gewährte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) einen Behindertenpauschbetrag nach § 33b Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 1 410 DM. Der Kläger beantragte im Einspruchsverfahren, zusätzlich 17 182 DM als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen. Diesen Betrag errechnete er, indem er von der Summe des an das Landessozialamt überwiesenen Betrages ―Nettoarbeitslohn 11 792,55 DM zuzüglich Rente 17 389 DM = 29 181,55 DM― eine Haushaltsersparnis von 12 000 DM abzog. Der Kläger legte eine vom Landessozialamt unter dem 11. Februar 1999 erstellte "Bescheinigung zur Vorlage beim Finanzamt" vor, in der es heißt, dass er "die Voraussetzung gemäß § 14 SGB" erfülle und einen Teil der Heimkosten selbst trage. Der Einspruch blieb erfolglos, da das FA der Auffassung war, der Nachweis sei nicht entsprechend R 188 Abs. 1 der Einkommensteuer-Richtlinien (EStR) 1997 erbracht.
Die dagegen gerichtete Klage, mit der nur noch außergewöhnliche Belastungen in Höhe von 14 182 DM geltend gemacht wurden ―als Haushaltsersparnis wurden nunmehr 15 000 DM angerechnet―, war erfolgreich.
Das FG, dessen Urteil in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 1372 veröffentlicht ist, ermittelte unter Anrechung
der Haushaltsersparnis, des Taschengeldes und der zumutbaren Belastung einen nach § 33 EStG abziehbaren Betrag in Höhe von 10 154 DM. Ob der vom FA gewährte Behindertenpauschbetrag daneben zu gewähren sei, ließ das FG offen, da auch bei Wegfall des Pauschbetrags das zu versteuernde Einkommen unterhalb des Grundfreibetrags läge.
Mit seiner Revision rügt das FA eine Verletzung des § 33 Abs. 1 EStG.
Es beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet. Zu Recht hat das FG die Kosten für die Unterbringung des Klägers in der betreuten Wohngemeinschaft als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt.
1. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen (außergewöhnliche Belastung). Aufwendungen sind außergewöhnlich, wenn sie nicht nur ihrer Höhe, sondern auch ihrer Art und dem Grunde nach außerhalb des Üblichen liegen.
Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind (Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 29. September 1989 III R 129/86, BFHE 158, 380, BStBl II 1990, 418).
Zu den üblichen Aufwendungen für die Lebensführung rechnen die Kosten für die Unterbringung und die Verpflegung, gleichgültig in welcher Höhe sie tatsächlich anfallen. Unterschiede der Lebenshaltungskosten, z.B. in Ballungs- und ländlichen Gebieten, sind grundsätzlich unbeachtlich. Entstehen aber einem Steuerpflichtigen durch außergewöhnliche und zwangsläufige Umstände höhere Aufwendungen als der Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse, können ausnahmsweise auch die Mehrkosten für Unterbringung und Verpflegung nach § 33 EStG abziehbar sein. Nach der Rechtsprechung des Senats gilt dies insbesondere bei einer behinderungs- oder krankheitsbedingten Unterbringung in einem Heim (vgl. Urteil vom 24. Februar 2000 III R 80/97, BFHE 191, 280, BStBl II 2000, 294, m.w.N.). Den Steuerpflichtigen erwachsen in diesen Fällen aufgrund ihrer Erkrankung oder Behinderung zwangsläufig höhere Lebenshaltungskosten als im Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 EStG berücksichtigt sind.
2. a) Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, dass die Unterbringung eines jüngeren Menschen in einem Heim außergewöhnlich ist. Zwar rechnen nach der ständigen Rechtsprechung des BFH die Kosten für die Unterbringung in einem Altersheim zu den üblichen Aufwendungen der Lebensführung. Leitend hierfür ist die Erwägung, dass derartige Aufwendungen, mögen sie wegen altersbedingter Hilfsbedürftigkeit auch zwangsläufig sein, ihrer Art und dem Grunde nach nicht außergewöhnlich sind, weil sie anderen in vergleichbaren Verhältnissen lebenden Steuerpflichtigen ebenfalls erwachsen. Es ist nichts Außergewöhnliches, dass ein älterer Mensch in einem Altersheim lebt, weil er nicht mehr für sich sorgen kann oder will (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile in BFHE 158, 380, BStBl II 1990, 418, und in BFHE 191, 280, BStBl II 2000, 294, m.w.N.). Derartige Kosten sind durch die allgemeinen Freibeträge abgegolten und fallen, soweit sie diese übersteigen, unter das Abzugsverbot des § 12 EStG. Für Menschen im arbeitsfähigen Alter ist dagegen die Unterbringung in einem Heim außergewöhnlich, da diese in der Regel entweder allein oder mit anderen, etwa Ehegatten oder Familienangehörigen, leben.
b) Die Unterbringung im Heim ist für den Kläger auch zwangsläufig. Die Schlussfolgerung des FG, der Heimaufenthalt sei ausschließlich durch die körperliche und mentale Behinderung des Klägers veranlasst, ist nicht zu beanstanden. Durch den Schwerbehindertenausweis des Klägers, die ärztliche Bescheinigung, den Folgebericht des Heimträgers und vor allem durch die teilweise Übernahme der Unterbringungskosten als Eingliederungshilfe gemäß § 39 BSHG ist hinreichend nachgewiesen, dass der Kläger aufgrund seiner Behinderung im Heim wohnt.
Nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BSHG soll Hilfe in einem Heim nur gewährt werden, wenn dies erforderlich ist und andere Hilfen nicht möglich sind oder nicht ausreichen. § 3a BSHG bestimmt hierzu ergänzend, die erforderliche Hilfe solle soweit wie möglich außerhalb des Heimes gewährt werden. Übernimmt der Sozialhilfeträger diese Kosten, ist dies daher ein wesentliches Indiz für die Notwendigkeit der Heimunterbringung. Dass sich die im Heim erbrachten Leistungen zum Teil mit denen eines Vormundes decken, steht einer Berücksichtigung dieser Kosten nicht entgegen. Entscheidend für den Abzug ist nicht die Art der im Heim erbrachten Leistungen, sondern ob der Kläger aufgrund seiner Behinderung in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, oder ob er der Betreuung in einem Heim bedarf. Entgegen der Annahme des FA ist das Urteil des Senats vom 14. September 1999 III R 39/97 (BFHE 190, 309, BStBl II 2000, 69) schon deshalb nicht einschlägig, weil dort die Aufwendungen für den Vormund zweier minderjähriger Vollwaisen ihrer Art nach Werbungskosten waren und deshalb dem Abzugsverbot des § 33 Abs. 2 Satz 2 EStG unterlagen.
Das FG hat zu Recht kein amtsärztliches Attest verlangt. Nach der ständigen Senatsrechtsprechung (vgl. BFH-Urteile vom 7. Juni 2000 III R 54/98, BFHE 193, 79, BStBl II 2001, 94, und vom 1. Februar 2001 III R 22/00, BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543) ist bei Aufwendungen, die ihrer Art nicht eindeutig und unmittelbar der Linderung einer Krankheit oder Behinderung dienen, ein amtsärztliches Zeugnis erforderlich, in dem die medizinische oder behinderungsbedingte Notwendigkeit der Maßnahme festgestellt wird. Verwaltung und Gerichten fehlt in diesen Fällen regelmäßig die Fachkunde, diese Abgrenzung selbst vorzunehmen. Hierdurch soll die Inanspruchnahme ungerechtfertigter Steuervorteile verhindert werden, mit der bei Aufwendungen zu rechnen ist, die auch dem Bereich der allgemeinen Lebensführung zugerechnet werden können. Diese Gefahr besteht aber bei der Unterbringung in einer betreuten Wohngemeinschaft nicht.
Der Gesetzgeber hat den Sozialhilfeträger in § 3 Abs. 2 Satz 2 BSHG und § 3a BSHG verpflichtet, die Kosten für eine Heimunterbringung nur zu übernehmen, wenn diese notwendig ist und eine ambulante Hilfe nicht ausreicht. Da der Sozialhilfeträger als staatliche Behörde der Gesetzestreue und der Wirtschaftlichkeit verpflichtet ist, kann regelmäßig von einer sorgfältigen, ordnungsmäßigen Prüfung und von der Richtigkeit seiner Entscheidung ausgegangen und deshalb von einer Überprüfung durch eine weitere neutrale staatliche Stelle abgesehen werden. Entsprechend verlangt der Senat bei Kurreisen dann kein amtsärztliches Attest, wenn eine gesetzliche Krankenkasse die medizinische Notwendigkeit der Kur geprüft und positiv durch einen Zuschuss zu den Kosten für Unterkunft und Verpflegung beschieden hat (Urteil vom 30. Juni 1995 III R 52/93, BFHE 178, 81, BStBl II 1995, 614).
Hinzu kommt, dass nach der Lebenserfahrung niemand ohne Not aus persönlichen Gründen der Lebensführung in ein Heim für Menschen mit geistiger oder mit geistiger und mehrfacher Behinderung ziehen wird. Anders als eine Kurreise oder der Besuch eines Internats scheiden hier Gründe der gesundheitlichen Vorbeugung und Erholung oder sonstige Motive der persönlichen Lebensführung aus.
c) Offen bleiben kann, ob der Kläger neben den Kosten der Heimunterbringung zusätzlich den Behindertenpauschbetrag nach § 33b Abs. 3 EStG beanspruchen kann. Wie das FG in seinem Urteil zu Recht ausführt, liegt das zu versteuernde Einkommen des Klägers auch ohne den Pauschbetrag unter dem Grundfreibetrag.
Fundstellen
Haufe-Index 771582 |
BFH/NV 2002, 1227 |
BStBl II 2002, 567 |
BFHE 199, 296 |
BFHE 2002, 296 |
BB 2002, 1739 |
DB 2002, 1863 |
DStRE 2002, 1065 |
HFR 2002, 891 |