Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Verzinsung zurücküberwiesener Vorauszahlungen gemäß § 233a AO 1977 bei ausschließlichem Fehler des FA - Billigkeitserlaß von Nachforderungszinsen- Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen - Verzinsung nach § 233a AO 1977 - Nachprüfung einer Erlaßentscheidung des FA
Leitsatz (amtlich)
Die Verzinsung von an Steuerpflichtige zurücküberwiesenen Vorauszahlungen ist jedenfalls dann gemäß § 233a AO 1977 nicht zulässig, wenn die Rückzahlung ausschließlich auf einem Fehler des FA beruht, die Steuerpflichtigen das FA unverzüglich auf diesen Fehler aufmerksam machen und den Betrag zur sofortigen Rückzahlung auf einem Girokonto bereithalten.
Orientierungssatz
1. Die Möglichkeit eines Erlasses aus Billigkeitsgründen nach § 227 AO 1977 besteht grundsätzlich auch, wenn ein Erlaß von Nachforderungszinsen begehrt wird, da es sich bei den Zinsansprüchen i.S. des § 233a AO 1977 um Nebenleistungen aus dem Steuerschuldverhältnis handelt (vgl. BFH vom 5.6.1996 X R 234/93).
2. Ein Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen kann gegeben sein, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, aber nach dem Zweck des zugrundeliegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft. Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes einer Vorschrift bewußt in Kauf genommen hat, rechtfertigen jedoch keinen Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen.
3. Die Zinsen nach § 233a AO 1977 sind weder Sanktion noch Druckmittel oder Strafe, sondern laufzeitabhängige Gegenleistungen für eine mögliche Kapitalnutzung (vgl. BFH-Beschluß vom 27.9.1994 VIII B 21/94).
4. Das Gericht kann, obwohl eine Erlaßentscheidung des FA gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbar ist, eine Verpflichtung zum Erlaß aussprechen, wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, daß nur eine Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (vgl. BFH-Rechtsprechung).
Normenkette
AO 1977 §§ 227, 233a; FGO § 101 S. 1, § 102
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) wurden im Streitjahr 1989 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Mit Bescheid vom 23. September 1991 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die Einkommensteuer auf 13 053 DM fest. Aufgrund von Steueranrechnungsbeträgen und geleisteten Einkommensteuervorauszahlungen kam es zu einer Erstattung von 52 721 DM Einkommensteuer und 1 318 DM Zinsen. Bei der Veranlagung hatte das FA allerdings infolge eines Eingabefehlers erklärte Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 142 517 DM nicht berücksichtigt. Die Kläger wiesen am 26. September 1991 auf diesen Fehler hin. In dem auf § 129 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Berichtigungsbescheid vom 30. Oktober 1991 setzte das FA die Einkommensteuer auf 76 949 DM und Zinsen auf 1 234 DM fest. Dies führte zu einer Nachzahlung von 63 869 DM Einkommensteuer und 2 552 DM Zinsen. In dem geforderten Zinsbetrag war die Rückzahlung der fehlerhaft erstatteten Zinsen in Höhe von 1 318 DM enthalten.
Nach erfolglosem Antrag der Kläger auf Erlaß der Zinsen und einer ablehnenden Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion erhoben diese Klage mit dem Begehren, Zinsen in Höhe von 790 DM zu erlassen. Das Finanzgericht (FG) verpflichtete daraufhin das FA, die Zinsen zur Einkommensteuer in Höhe von 742 DM zu erlassen (vgl. Entscheidungen der Finanzgerichte 1996, 738). Dabei berücksichtigte es eine Verzinsung auf dem Girokonto des Klägers in Höhe von 0,5 % p.a.
Mit der Revision rügt das FA eine Verletzung von § 227 AO 1977 und § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Das FG verkenne die Intention des Gesetzgebers, der eine Typisierung der Verzinsungstatbestände gewollt habe und auch den vorliegenden Fall der Verzinsung habe unterwerfen wollen. Die Formulierung der Gesetzesbegründung weise darauf hin, daß es auf eine Verursachung oder ein Verschulden hinsichtlich der Verzögerung der Steuerfestsetzung nicht ankomme.
Im vorliegenden Fall sei kein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers erkennbar und demzufolge kein Erlaß auszusprechen, denn die Kläger hätten die Möglichkeit gehabt, die erstattete Summe in Monatsgeldern anzulegen. Zumindest der damalige steuerliche Berater, dessen Wissen sich die Kläger zurechnen lassen müßten, habe gewußt, daß eine Änderung des Bescheides wegen des maschinellen Verfahrens mit der Verarbeitung der Daten im Rechenzentrum längere Zeit in Anspruch nehmen werde und der Berichtigungsbescheid nicht innerhalb weniger Tage zu erwarten gewesen sei. Auch sehe § 36 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) eine Zahlungsfrist von einem weiteren Monat ab Bekanntgabe des Bescheides vor. Die tatsächliche Anlagemöglichkeit führe dazu, daß die Festsetzung der Nachforderungszinsen und die Ablehnung eines Erlasses rechtmäßig gewesen sei.
Das FA beantragt, das Urteil des FG Düsseldorf vom 18. April 1996 10 K 5474/92 AO aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des FA ist unbegründet; sie ist zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).
1. Nach § 227 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre.
a) Die Möglichkeit eines Erlasses aus Billigkeitsgründen nach § 227 AO 1977 besteht grundsätzlich auch, wenn ein Erlaß von Nachforderungszinsen begehrt wird, da es sich bei den Zinsansprüchen i.S. des § 233a AO 1977 um Nebenleistungen aus dem Steuerschuldverhältnis handelt (§ 3 Abs. 3, § 37 Abs. 1 AO 1977; vgl. auch Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 5. Juni 1996 X R 234/93, BFHE 180, 240, BStBl II 1996, 503, m.w.N.).
b) Unbilligkeit aus sachlichen Gründen --auf die die Kläger allein ihren Erlaßantrag stützen-- kann gegeben sein, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, aber nach dem Zweck des zugrundeliegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft. Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes einer Vorschrift bewußt in Kauf genommen hat, rechtfertigen jedoch keinen Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen (BFH-Urteil vom 20. Januar 1997 V R 28/95, BFH/NV 1997, 720; BFH in BFHE 180, 240, BStBl II 1996, 503). Ein Erlaß aus Billigkeitsgründen darf nicht dazu führen, die generelle Geltungsanordnung eines den Steueranspruch begründenden Gesetzes zu unterlaufen (BFH-Urteil vom 11. Juli 1996 V R 18/95, BFHE 180, 524, BStBl II 1997, 259).
2. Danach liegen im Streitfall die Voraussetzungen für einen Erlaß der Zinsen aus sachlichen Billigkeitsgründen vor. Die von den Klägern geltend gemachten Umstände widersprechen den der Verzinsungsregelung des § 233a AO 1977 zugrundeliegenden Wertungen.
a) Zweck der Vorschrift des § 233a AO 1977 ist es, einen Ausgleich dafür zu schaffen, daß die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen, aus welchen Gründen auch immer, zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden (vgl. die Gesetzesbegründung: BTDrucks 11/2157 S. 194). Wegen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung sollen die Liquiditätsvorteile, die aus dem verspäteten Erlaß eines Steuerbescheides entstehen, jedenfalls für die Zeit nach Ablauf von 15 Monaten nach Entstehung der Steuern abgeschöpft werden (vgl. BFH in BFHE 180, 240, BStBl II 1996, 503). Durch die sog. Vollverzinsung sollen die Zinsvorteile des Steuerpflichtigen und die Zinsnachteile ausgeglichen werden, die auf Seiten des Steuergläubigers objektiv entstehen (BFH-Urteil vom 19. März 1997 I R 7/96, BFHE 182, 293, BStBl II 1997, 446). Die Zinsen nach § 233a AO 1977 sind weder Sanktion noch Druckmittel oder Strafe, sondern laufzeitabhängige Gegenleistungen für eine mögliche Kapitalnutzung (BFH-Beschluß vom 27. September 1994 VIII B 21/94, BFHE 175, 516).
b) Die Verzinsung von an Steuerpflichtige zurücküberwiesene Vorauszahlungen widerspricht jedenfalls dann dem Gesetzeszweck des § 233a AO 1977, wenn die Rückzahlung ausschließlich auf einem Fehler des FA beruht, der Steuerpflichtige das FA unverzüglich auf diesen Fehler aufmerksam macht und den Betrag zur sofortigen Rückzahlung auf einem Girokonto bereithält.
Im Streitfall wird nicht ein Liquiditätsvorteil, der auf einer verspäteten Steuerfestsetzung beruht, ausgeglichen. Die Zinsen resultieren vielmehr ausschließlich auf der Korrektur eines Erfassungsfehlers des FA, auf den der Steuerpflichtige unverzüglich aufmerksam gemacht hat. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß der Steuerbescheid nicht nach einer eigenen Prüfung des FA berichtigt worden ist, sondern daß die Kläger auf den Erfassungsfehler hingewiesen und das Geld zur Rückzahlung bereitgehalten haben. Dadurch unterscheidet sich der vorliegende Fall von einer Änderung der Steuerfestsetzung, in der der Steuerpflichtige Zins- oder Liquiditätsvorteile erlangen kann, weil ihm ein Steuerbetrag über einen längeren Zeitraum zur Verfügung steht.
Zu Recht hat das FG auch darauf hingewiesen, daß die Kläger keine Möglichkeit hatten, die Rückzahlung der geleisteten Vorauszahlungen zu verhindern, um so die Entstehung des Zinsanspruchs zu vermeiden. Sie konnten lediglich das FA auf den Fehler aufmerksam machen, um eine Rückforderung des Betrages durch das FA zu erreichen.
Im Streitfall widerspricht die Einziehung der Zinsen auch deshalb den Wertungen des § 233a AO 1977, weil die Steuerpflichtigen keinen über die Verzinsung auf dem Girokonto hinausgehenden Liquiditätsvorteil erlangen konnten. Die Steuerpflichtigen haben unverzüglich --noch vor Eingang des Geldes auf ihrem Konto-- beim FA die Korrektur des fehlerhaften Bescheides angeregt und das Geld zur Rückzahlung bereitgehalten. Entgegen der Auffassung des FA mußten die Kläger nicht damit rechnen, daß die Änderung des Bescheides längere Zeit in Anspruch nehmen werde. Sie durften vielmehr davon ausgehen, daß der Berichtigungsbescheid kurzfristig ergehen würde und sie den ihnen zu Unrecht überwiesenen Betrag alsbald zurückzahlen mußten. Im Hinblick darauf war es folgerichtig, den Betrag nicht längerfristig ertragbringend anzulegen, sondern auf dem Girokonto bereitzuhalten. Durch die Verzinsung der fehlerhaft erstatteten Vorauszahlungsbeträge gemäß § 233a AO 1977 konnte daher im vorliegenden Fall kein Vorteil des Steuerpflichtigen ausgeglichen werden, weil aus der Sicht der Kläger keine Möglichkeit einer weitergehenden Kapitalnutzung bestand.
Auch wenn objektiv ein Zinsnachteil des Steuergläubigers vorliegt, bedurfte es unter der Berücksichtigung des Gesetzeszwecks des § 233a AO 1977 keines Ausgleichs durch eine Verzinsung des Betrages bei den Klägern. Die Tatsache, daß dem FA die erstatteten Einkommensteuervorauszahlungen vorübergehend nicht zur Verfügung standen, beruht ausschließlich auf dem Erfassungsfehler bei der Erstveranlagung und fällt damit in die Verantwortung des FA.
3. Im Streitfall kommt nur der Erlaß der Nachforderungszinsen in Höhe von 742 DM in Betracht.
a) Die Erlaßentscheidung ist eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung, die gemäß § 102 FGO (i.V.m. § 121 FGO) grundsätzlich nur eingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung unterliegt (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Gleichwohl kann das Gericht ausnahmsweise eine Verpflichtung zum Erlaß aussprechen (§ 101 Satz 1 FGO), wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, daß nur eine Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (vgl. zur Ermessensreduzierung auf Null: BFH-Urteile vom 25. Januar 1996 IV R 91/94, BFHE 180, 61, BStBl II 1996, 289; vom 21. Januar 1992 VIII R 51/88, BFHE 168, 500, BStBl II 1993, 3; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl. 1997, § 101 Anm. 3 und § 102 Anm. 3; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rz. 391; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 102 FGO Rz. 59, jeweils m.w.N.). Das ist hier der Fall.
b) Nach den besonderen Umständen des Streitfalles kommt nur der Erlaß der Zinsen in Betracht. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß die Kläger unverzüglich nachdem sie den fehlerhaften Steuerbescheid erhielten, das FA auf den Fehler aufmerksam machten. Es ist unbillig, von den Klägern, die von sich aus eine sofortige Korrektur des Steuerbescheides veranlaßten und auf eine mögliche ertragbringende Anlage des erstatteten Vorauszahlungsbetrages verzichteten, Nachforderungszinsen zu verlangen.
Fundstellen
Haufe-Index 66856 |
BFH/NV 1998, 895 |
BFH/NV 1998, 895-896 (Leitsatz und Gründe) |
BStBl II 1998, 550 |
BFHE 185, 94 |
BFHE 1998, 94 |
BB 1998, 886 |
DB 1998, 1014 |
DStR 1998, 646 |
DStRE 1998, 374 |
DStRE 1998, 374 (Leitsatz) |
DStZ 1998, 523 |
DStZ 1998, 523-524 (Leitsatz und Gründe) |
HFR 1998, 444 |