Leitsatz (amtlich)
Eine erweiternde Auslegung des § 576 Abs. 1 ZPO kommt nicht in Betracht, auch wenn bei der Anwendung von Landesrecht eine Rechtsbeschwerde zum OLG nicht eingelegt werden kann.
Normenkette
ZPO § 576
Verfahrensgang
LG Lübeck (Beschluss vom 04.06.2003) |
AG Ratzeburg |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 7. Zivilkammer des LG Lübeck v. 4.6.2003 wird auf Kosten des Drittschuldners zurückgewiesen.
Der Beschwerdewert wird auf 6.504,22 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Auf Antrag der Gläubigerin hat das AG Ratzeburg die Ansprüche des Schuldners auf Zahlung von Übergangsgeld aus parlamentarischer Tätigkeit im Schleswig-Holsteinischen Landtag sowie alle künftigen Versorgungsbezüge gepfändet und der Gläubigerin zur Einziehung überwiesen. Am 7.5.2002 hat es auf die Erinnerung des Drittschuldners den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss aufgehoben und angeordnet, dass der aufhebende Beschluss erst mit Rechtskraft wirksam wird. Das LG (Einzelrichter) Lübeck hat auf die sofortige Beschwerde der Gläubigerin die Entscheidung des AG v. 7.5.2002 wieder aufgehoben. Auf die zugelassene Rechtsbeschwerde des Drittschuldners hat der Senat den Beschluss des Beschwerdegerichts wegen fehlerhafter Besetzung aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses zurückverwiesen. Daraufhin hat der Einzelrichter des LG das Verfahren gem. § 568 S. 2 Nr. 2 ZPO der Kammer zur Entscheidung übertragen. Diese hat mit Beschl. v. 4.7.2003 erneut den Beschluss des AG v. 7.5.2002 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, Art. 11 Abs. 3 S. 2 der Landesverfassung Schleswig-Holstein (LV), nach dem die Entschädigungsansprüche nicht übertragbar und damit nach § 851 Abs. 1 ZPO unpfändbar seien, bezwecke die Sicherstellung der Unabhängigkeit des Abgeordneten während seiner Zugehörigkeit zum Parlament, sodass die nach dem Ausscheiden aus dem Landtag anfallenden Ansprüche auf Übergangsgeld und Altersentschädigung pfändbar seien. Dagegen richtet sich die - erneut zugelassene - Rechtsbeschwerde des Drittschuldners.
II.
1. Das Rechtsmittel ist gem. § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 2 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist der Drittschuldner mit dem Einwand, die gepfändeten und überwiesenen Ansprüche seien unpfändbar, beschwerdebefugt (vgl. BGHZ BGHZ 69, 144 [148]; Zöller/Stöber, ZPO, 24. Aufl., § 766 Rz. 16; Musielak/Lackmann, ZPO, 3. Aufl,. § 766 Rz. 19, § 829 Rz. 25).
2. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet, weil die Auslegung und Anwendung des Art. 11 Abs. 3 S. 2 LV durch das LG - worauf die Rechtsbeschwerdeerwiderung zutreffend hinweist - einer Nachprüfung durch den BGH entzogen ist.
Nach § 576 Abs. 1 ZPO kann die Rechtsbeschwerde nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Verletzung des Bundesrechts oder einer Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk eines OLG hinaus erstreckt. Im Streitfall liegt keine dieser Alternativen vor.
a) Art. 11 Abs. 3 S. 2 der Landesverfassung Schleswig-Holstein ist kein Bundes-, sondern Landesrecht. Da Schleswig-Holstein nur ein OLG besitzt, erstreckt sich der Geltungsbereich der Landesverfassung über den Bezirk eines OLG nicht hinaus. Eine erweiternde Auslegung des § 576 Abs. 1 ZPO kommt wegen seines eindeutigen Wortlauts nicht in Betracht, auch wenn bei der Anwendung von Landesrecht eine der Rechtsvereinheitlichung dienende Rechtsbeschwerde zum OLG Schleswig nicht eingelegt werden kann (§ 119 Abs. 1 und 2, § 133 GVG).
Entgegen der Meinung des Beschwerdegerichts und des Drittschuldners kann die Rechtsbeschwerde nicht deshalb auf die Verletzung von Art. 11 Abs. 3 S. 2 LV gestützt werden, weil sich die Zuständigkeit des Vollstreckungsgerichts nach dem Wohnort des Schuldners richtet (§§ 13, 828 Abs. 1 und 2 ZPO) und damit im Einzelfall auch Gerichte außerhalb der Landesgrenzen Schleswig-Holsteins über dessen Auslegung entscheiden müssen. Denn der in § 576 Abs. 1 ZPO genannte Geltungsbereich des Gesetzes ist der räumliche Bezirk, für den es von der dort herrschenden Staatsgewalt erlassen worden ist (vgl. BGH BGHZ 24, 253 [255 f.]; Zöller/Gummer, ZPO, 24. Aufl., § 545 Rz. 6), so dass die Landesverfassung Schleswig-Holstein allein im Hoheitsgebiet dieses Bundeslandes gilt. Dabei ist es unerheblich, dass auch ein Gericht außerhalb von Schleswig-Holstein dessen Landesrecht anzuwenden hat, wenn ihm ein Sachverhalt mit Bezug zum schleswig-holsteinischen Landesrecht unterbreitet wird. Denn auch in einem solchen Fall wendet es Recht an, das in seinem Bezirk keine Geltung hat (vgl. BGH BGHZ 24, 253 [255 f.]).
b) Der Umstand, dass der Bund und mehrere Bundesländer dem Art. 11 Abs. 3 S. 1 der Landesverfassung Schleswig-Holstein ("Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung.") entsprechende Regelungen getroffen haben, vermag eine Nachprüfbarkeit der vom Beschwerdegericht vorgenommenen Auslegung des Art. 11 Abs. 3 S. 2 LV ("Dieser Anspruch ist weder übertragbar noch kann auf ihn verzichtet werden.") durch den BGH nicht zu begründen.
Die Rechtsbeschwerde ist der Meinung, die Voraussetzung des § 576 Abs. 1 ZPO 2. Alt. läge vor, weil die Auslegung des Art. 11 Abs. 3 S. 2 LV von derjenigen des Art. 11 Abs. 3 S. 1 LV abhängig und die zuletzt genannte Vorschrift vom BGH als Vorfrage überprüfbar sei. Die Überprüfbarkeit von Art. 11 Abs. 3 S. 1 LV ergebe sich daraus, dass sich entsprechende Bestimmungen sowohl in Art. 48 Abs. 3 S. 1 des Grundgesetzes als auch in den Verfassungen mehrerer Bundesländer (Art. 40 S. 1 Landesverfassung Baden-Württemberg; Art. 13 Abs. 3 S. 1 Landesverfassung Niedersachsen) fänden und die Übereinstimmung nicht nur zufällig sei, sondern vom schleswig-holsteinischen Verfassungsgeber bewusst und gewollt herbeigeführt worden sei.
Diese Auffassung der Rechtsbeschwerde vermag nicht zu überzeugen. Zwar geht sie zutreffend davon aus, dass eine Entscheidung über den Inhalt einer nur innerhalb eines OLG-Bezirks gültigen Norm der Rechtskontrolle durch den BGH insoweit unterliegt, als sie von einer Vorfrage abhängt, die nach gem. § 576 Abs. 1 ZPO 2. Alt. nachprüfbarem Recht zu beurteilen ist (vgl. BGH Urt. v. 6.4.1992 - III ZR 39/91, MDR 1992, 1082 = NJW 1992, 2769 f.). Jedoch hängt die Entscheidung über den Umfang der Unpfändbarkeit der Entschädigungsansprüche eines Landtagsabgeordneten aus Schleswig-Holstein (Art. 11 Abs. 3 S. 2 LV) nicht von der Auslegung des Art. 11 Abs. 3 S. 1 LV als Vorfrage ab.
Art. 11 Abs. 3 S. 1 LV regelt die Maßstäbe, nach denen die Entschädigung eines Abgeordneten zur Sicherung seiner Unabhängigkeit der Höhe nach zu bemessen ist. Diese muss einerseits für den Abgeordneten und seine Familie eine ausreichende Existenzgrundlage abgeben und andererseits der Bedeutung des Amtes unter Berücksichtigung der damit verbundenen Verantwortung und Belastungen sowie dem Rang gerecht werden, der dem Amt im Verfassungsgefüge zukommt (vgl. Mutius/Wutke/Hübner, Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 11 Rz. 25). Die Vorschrift hat aber keine Bedeutung für die Streitfrage, welche der Entschädigungsansprüche (monatliche Grundentschädigung, Aufwandsentschädigung, Übergangsgeld und Altersentschädigung) nach Art. 11 Abs. 3 S. 2 LV dem Zugriff von Vollstreckungsgläubigern entzogen sein sollen. Das folgt daraus, dass im Bund (vgl. § 31 AbgG), in Schleswig-Holstein (vgl. Art. 11 Abs. 3 S. 2 LV) und in den von der Rechtsbeschwerde angeführten Bundesländern (vgl. § 27 AbgG Niedersachsen; § 23 AbgG Baden-Württemberg) zur Pfändbarkeit der Abgeordnetenentschädigungen unterschiedliche Regelungen getroffen worden sind, obwohl der Abgeordnete nach den einschlägigen Vorschriften jeweils Anspruch auf eine angemessene, seine Unabhängigkeit sichernde Entschädigung hat. Ein besonderer Pfändungsschutz für das Übergangsgeld oder die Altersentschädigung besteht weder im Bund (vgl. § 31 S. 2 und 3 AbgG) noch im Land Niedersachsen (vgl. § 27 S. 2 AbgG). In Baden-Württemberg (vgl. § 23 S. 2 und 3 AbgG) ist das Übergangsgeld zur Hälfte pfändbar, während es für die Altersentschädigung keinen Pfändungsschutz gibt, der über die allgemeinen Schutzvorschriften der §§ 850 ff ZPO hinausgeht. Somit ist der Umfang des in Art. 11 Abs. 3 S. 2 LV geregelten Pfändungsschutzes für Landtagsabgeordnete des Landes Schleswig-Holstein allein nach dessen Sinn und Zweck unter Berücksichtigung der durch Art. 14 des Grundgesetzes geschützten Interessen der Vollstreckungsgläubiger auszulegen.
Da es somit an der Vorgreiflichkeit einer der Rechtskontrolle des BGH unterfallenden Vorschrift fehlt, hat der Senat nicht zu entscheiden, ob die Übereinstimmung des Art. 11 Abs. 3 S. 1 LV mit dem wortlautidentischen Art. 48 Abs. 3 S. 3 des Grundgesetzes und den inhaltsgleichen Regelungen in den von der Rechtsbeschwerde genannten Landesverfassungen bewusst und gewollt zum Zwecke der Rechtsvereinheitlichung herbeigeführt worden ist (vgl. BGH, Urt. v. 28.1.1988 - IX ZR 77/87, MDR 1988, 671 = NJW-RR 1988, 1021).
Fundstellen
Haufe-Index 1101297 |
BGHR 2004, 555 |
EBE/BGH 2004, 2 |
WM 2004, 444 |
InVo 2004, 281 |
MDR 2004, 587 |