Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Bestimmung des örtlich zuständigen Sozialgerichts bei streitiger Zuständigkeit. Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses. fehlerhafte Gesetzesauslegung
Orientierungssatz
1. Nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG wird das zuständige Gericht innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit durch das gemeinsame nächsthöhere Gericht bestimmt, wenn verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtstreit zuständig ist, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben.
2. Nach § 98 S 1 SGG iVm § 17a Abs 2 GVG ist ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wurde, bindend.
3. Einem Verweisungsbeschluss kommt ausnahmsweise nur dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf der Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichem Verhalten beruht (vgl BSG vom 25.2.1999 - B 1 SF 9/98 S = SozR 3-1720 § 17a Nr 11).
4. Als willkürlich kann ein Richterspruch nur dann angesehen werden, wenn er unter keinem denkbaren rechtlichen Aspekt vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl BVerfG vom 19.12.2001 - 1 BvR 814/01 = NVwZ-RR 2002, 389). Eine fehlerhafte Gesetzesauslegung macht einen Verweisungsbeschluss nicht willkürlich.
Normenkette
SGG § 58 Abs. 1 Nr. 4, § 98 Sätze 1-2; GVG § 17a Abs. 2
Verfahrensgang
SG Ulm (Beschluss vom 21.12.2016; Aktenzeichen S 10 R 4064/16) |
Tenor
Das Sozialgericht Mainz wird zum zuständigen Gericht bestimmt.
Gründe
I. Im Streit ist, ob die Klägerin, die im Bezirk des SG Mainz wohnt, ihre Tätigkeit in einem Pflege- und Behindertenheim (Träger C GmbH & Co KG mit Sitz in U) im Jahr 2015 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt hat. Gegen den entsprechenden Feststellungsbescheid der Beklagten hat die Klägerin vor dem SG Ulm Klage erhoben, welches sich nach Anhörung der Beteiligten für örtlich unzuständig erklärt und unter Hinweis auf den Wohnsitz der Klägerin den Rechtsstreit an das SG Mainz verwiesen hat (Beschluss vom 11.7.2016). Das SG Mainz hat sich ebenfalls für örtlich unzuständig erklärt und - ohne seine Entscheidung im Einzelnen zu begründen - den Rechtsstreit wiederum an das SG Ulm zurückverwiesen (Beschluss vom 5.12.2016). Das SG Ulm hat den Rechtsstreit ausgesetzt und dem BSG zur Bestimmung des örtlich zuständigen SG vorgelegt (Beschluss vom 21.12.2016). Das SG Mainz habe die Bindungswirkung des Beschlusses vom 11.7.2016 zu beachten, sodass eine erneute Verweisung an das SG Ulm nicht in Betracht komme.
II. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG durch das BSG liegen vor. Danach wird das zuständige Gericht innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit durch das gemeinsame nächsthöhere Gericht bestimmt, wenn verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. Sowohl das SG Ulm als auch das SG Mainz haben sich jeweils iS des § 58 Abs 1 Nr 4 SGG für unzuständig erklärt.
Zum zuständigen Gericht ist das SG Mainz zu bestimmen, weil dieses an den Verweisungsbeschluss des SG Ulm vom 11.7.2016 gebunden ist. Gemäß § 98 S 1 SGG iVm § 17a Abs 2 GVG ist ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wurde, bindend. Dies gilt im Interesse des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) und einer möglichst zügigen sachlichen Entscheidung grundsätzlich unabhängig von der Verletzung prozessualer oder materieller Vorschriften. Den Streit der beteiligten Gerichte über die Anwendung von Regelungen über die Zuständigkeit zu entscheiden oder in jedem Einzelfall die Richtigkeit des dem Verweisungsbeschluss zugrundeliegenden Subsumtionsvorgangs zu überprüfen, ist gerade nicht Aufgabe des gemeinsam übergeordneten Gerichts im Verfahren nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG (BSG Beschluss vom 18.7.2012 - B 12 SF 5/12 S - Juris RdNr 5).
Einem Verweisungsbeschluss kommt ausnahmsweise nur dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf der Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichem Verhalten beruht (vgl nur BSG Beschluss vom 25.2.1999 - B 1 SF 9/98 S - SozR 3-1720 § 17a Nr 11 S 19 ff; BSG Beschluss vom 4.4.2013 - B 12 SF 16/12 S - mwN). Anhaltspunkte hierfür liegen nicht vor. Auch wenn sich der Verweisungsbeschluss des SG Ulm wegen § 57 Abs 7 SGG, der durch das 5. SGB IV-ÄndG vom 15.4.2015 (BGBl I 583) eingefügt wurde und am 22.4.2015 in Kraft getreten ist, als rechtswidrig darstellen dürfte, ist er nach § 98 S 2 SGG verbindlich. Als willkürlich - und damit unbeachtlich - kann ein Richterspruch nur dann angesehen werden, wenn er unter keinem denkbaren rechtlichen Aspekt vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl BVerfG Beschluss vom 19.12.2001 - 1 BvR 814/01 - Juris RdNr 17). Eine fehlerhafte Gesetzesauslegung, die hier ihre Ursache darin hat, dass eine neue Sonderregelung übersehen und deshalb § 57 Abs 1 SGG als allgemeine Regelung zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit herangezogen wurde, macht den Beschluss des SG Ulm nicht willkürlich.
Fundstellen
Dokument-Index HI10333587 |