Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensmangel. Urkundsbeweis. nicht vom beauftragten Arzt erstelltes Gutachten. Kernbereich der vom beauftragten Sachverständigen zu erfüllenden Zentralaufgaben. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Schwerbehindertenrecht. Zurückverweisung
Orientierungssatz
1. Ein Gericht, welches unter Verzicht auf Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zulässigerweise ein bereits im Verwaltungsverfahren erstattetes Sachverständigengutachten (§ 21 Abs 1 S 2 Nr 2, Abs 3 SGB 10) im Wege des Urkundsbeweises verwerten will, hat sicherzustellen, dass der das Gutachten verantwortlich Unterzeichnende die Vorschriften des § 407a Abs 2 ZPO beachtet hat.
2. Der unverzichtbaren Kern der vom Sachverständigen selbst zu erfüllenden Zentralaufgaben ist jedenfalls dann betroffen, wenn sich der Sachverständige überhaupt nicht persönlich mit der zu begutachtenden Person befasst hat.
Normenkette
SGG § 118 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5; ZPO § 407a Abs. 2 Sätze 1-2, §§ 402, 415; SGB 10 § 21 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, Abs. 3 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 29. November 2012 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Mit Urteil vom 29.11.2012 hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) einen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 80 sowie auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "RF" ab dem 26.4.2005 verneint. Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen von Verfahrensmängeln begründet.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere hat der Kläger den Begründungsanforderungen nach § 160 Abs 2 S 3 SGG Genüge getan.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde - wie vorliegend - darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34, 36). Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 36). Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 S 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Diesen Anforderungen hat der Kläger hinreichend Rechnung getragen, soweit er eine Verletzung von § 118 Abs 1 SGG iVm § 407a ZPO rügt. Gemäß § 407a Abs 2 S 1 ZPO ist der Sachverständige nicht befugt, den Auftrag auf einen anderen zu übertragen. Soweit er sich der Mitarbeit einer anderen Person bedient, hat er diese namhaft zu machen und den Umfang ihrer Tätigkeit anzugeben, falls es sich nicht um Hilfsdienste von untergeordneter Bedeutung handelt (§ 407a Abs 2 S 2 ZPO). Dazu hat der Kläger vorgetragen, das LSG hätte das im Verwaltungsverfahren bei Prof. Dr. B. eingeholte Gutachten vom 11.12.2006 nicht verwerten dürfen, weil der Sachverständige dieses Gutachten von seinem Oberarzt und der Assistenzärztin habe erstellen lassen.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist auch begründet. Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Durch die Verwertung des bereits im Verwaltungsverfahren bei Prof. Dr. B.
eingeholten Gutachtens vom 11.12.2006 hat das LSG § 118 Abs 1 SGG iVm § 407a Abs 2 ZPO verletzt. Die letztgenannte Vorschrift betrifft zwar unmittelbar nur die Einholung von Sachverständigengutachten durch das Gericht. Aber auch für die Einholung eines Gutachtens durch die Verwaltung gelten gemäß § 21 SGB X ähnliche Grundsätze (s auch § 26 Verwaltungsverfahrensgesetz ≪VwVfG≫). Danach besteht für Sachverständige die Pflicht zur Erstattung von Gutachten, wenn sie durch Rechtsvorschriften vorgesehen ist (§ 21 Abs 3 S 1 SGB X). Zudem muss der Sachverständige unparteiisch sein. Er darf von der Teilnahme am Verwaltungsverfahren weder kraft Gesetzes noch wegen Besorgnis der Befangenheit ausgeschlossen sein (§§ 16, 17 SGB X; s auch §§ 20, 21 VwVfG, dazu Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 14. Aufl 2013, § 26 RdNr 31). Auch die inhaltlichen Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Sachverständigengutachten, wie sie § 407a Abs 2 ZPO normiert, muss ein im Verwaltungsverfahren eingeholtes Gutachten grundsätzlich erfüllen (vgl Senatsbeschluss vom 17.4.2013 - B 9 V 36/12 B - SozR 4-1500 § 118 Nr 3 RdNr 5; Ramsauer, aaO, RdNr 30).
Jedenfalls hat ein Gericht, welches unter Verzicht auf Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zulässigerweise ein bereits im Verwaltungsverfahren erstattetes Sachverständigengutachten (§ 21 Abs 1 S 2 Nr 2, Abs 3 SGB X) im Wege des Urkundsbeweises (s Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 7f mwN; BSG Urteil vom 8.12.1988 - 2/9b RU 66/87 - Juris) verwerten will, sicherzustellen, dass der das Gutachten verantwortlich Unterzeichnende die Vorschriften des § 407a Abs 2 ZPO beachtet hat. Dies folgt schon daraus, dass im Verwaltungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten in der Regel kein geringerer Beweiswert beizumessen ist als gerichtlich eingeholten Gutachten (Keller, aaO, mwN; vgl insgesamt Senatsbeschluss vom 17.4.2013 - B 9 V 36/12 B -, aaO, RdNr 5 ff). Durch die Verwertung von im Verwaltungsverfahren erstatteten Sachverständigengutachten im Wege des Urkundsbeweises kann die Vorschrift des § 407a Abs 2 ZPO nicht umgangen werden.
Nach der zu § 407a Abs 2 ZPO ergangenen Rechtsprechung des BSG muss der Sachverständige die zentralen Aufgaben der Begutachtung selbst erbringen (vgl BSG Beschluss vom 5.5.2009 - B 13 R 535/08 B - Juris RdNr 12 mwN; Keller, aaO, § 118 RdNr 11h mwN). Inwieweit die Durchführung der persönlichen Untersuchung des Probanden zum sog unverzichtbaren Kern der vom Sachverständigen selbst zu erfüllenden Zentralaufgaben zählt, hängt von der Art der Untersuchung ab. Je stärker die Untersuchung auf objektivierbare und dokumentierbare organmedizinische Befunde bezogen ist, umso eher ist der Einsatz von Mitarbeitern möglich (Keller, aaO). Der unverzichtbare Kern ist in jedem Falle betroffen, wenn sich der Sachverständige, wie vorliegend, überhaupt nicht persönlich mit der zu begutachtenden Person befasst.
Danach ist das Gutachten vom 11.12.2006 unter Verstoß gegen § 407a Abs 2 ZPO zustande gekommen. Es ist nicht von dem damit beauftragten Prof. Dr. B. erstellt worden, sondern von dem Oberarzt Dr. V. und der Assistenzärztin W. Der Kläger ist - wovon auch das LSG ausgegangen ist - von Prof. Dr. B. nicht persönlich untersucht worden. Der Umstand, dass Prof. Dr. B. nach den Feststellungen des LSG das Gutachten mit seinem Zustimmungsvermerk unterzeichnet hat (s Urteil S 13), ändert daran nichts.
Der Kläger hat das Recht zur Rüge dieses Mangels des Gutachtens des Prof. Dr. B.
auch nicht im laufenden Gerichtsverfahren verloren. Nach § 295 ZPO, der gemäß § 202 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anwendbar ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 61 mwN), kann die Verletzung einer das Verfahren betreffenden Vorschrift nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet oder wenn sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung (…) den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste. Hierzu hat das LSG in seiner Entscheidung ausdrücklich festgestellt, dass der Kläger bereits im Verfahren vor dem SG Braunschweig den Mangel gerügt und das daraus folgende Verwertungsverbot geltend gemacht hat.
Auf dem gerügten Verfahrensmangel kann das angegriffene Berufungsurteil beruhen, weil sich das LSG für seine Feststellung, dass der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mindestens 80 sowie auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "RF" habe, ausdrücklich auch auf das Gutachten vom 11.12.2006 aus der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde der Universität M. gestützt und dieses seiner Entscheidung mit zugrunde gelegt hat.
Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht auch zur Beschleunigung des Verfahrens von dieser Möglichkeit hinsichtlich des angefochtenen Urteils Gebrauch, da dieses von dem erfolgreich gerügten Verfahrensmangel insgesamt betroffen ist. Unter diesen Umständen kann es hier dahinstehen, ob auch die weiteren vom Kläger gerügten Verfahrensmängel vorliegen.
Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen