Entscheidungsstichwort (Thema)
Witwenrente. Absenkung des Zugangsfaktors bei Tod des Versicherten vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Anspruch auf abschlagsfreie Altersrente im Erlebensfall
Leitsatz (amtlich)
Eine Witwenrente ist auch dann mit einem abgesenkten Zugangsfaktor zu berechnen, wenn der vor Vollendung seines 60. Lebensjahrs verstorbene Versicherte im Erlebensfall ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf abschlagsfreie Altersrente gehabt hätte.
Normenkette
SGB 6 § 46; SGB 6 § 77 Abs. 2; SGB 6 § 88 Abs. 2; SGB 6 § 236a S. 5 Nr. 1 Fassung: 2000-12-20; SGB 6 § 236a Abs. 4 Fassung: 2007-04-20; GG Art. 14 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Im Streit steht ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung höherer Witwenrente.
Der am 1947 geborene Ehemann der Klägerin, der Versicherte G. W., ist am 6.11.2005 verstorben; er war mit Wirkung ab 11.8.2000 als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 anerkannt und hat selbst nie Rente bezogen. Die Beklagte bewilligte der Klägerin ab 6.11.2005 große Witwenrente auf der Grundlage von 65,4443 Entgeltpunkten (EP), welche nach Multiplikation mit dem - für 36 Kalendermonate um je 0,003, insgesamt also um 0,108 reduzierten - Zugangsfaktor 0,892 für sie 58,3763 persönliche EP ergaben (Rentenbescheid vom 27.12.2005, Widerspruchsbescheid vom 17.7.2006) .
Das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen hat die Beklagte zur Zahlung der Witwenrente unter Zugrundelegung des ungekürzten Zugangsfaktors 1,0 verurteilt; zur Begründung hat es auf das Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.5.2006 (B 4 RA 22/05 R - SozR 4-2600 § 77 Nr 3) Bezug genommen (Urteil vom 16.10.2007) . Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 8.5.2009 die Klage abgewiesen und sich dabei auf die Entscheidungen des 5. Senats des BSG vom 14.8.2008 berufen (B 5 R 32/07 R - BSGE 101, 193 = SozR 4-2600 § 77 Nr 5; speziell zur Hinterbliebenenrente: B 5 R 98/07 R - SozR 4-2600 § 77 Nr 6) .
Die Klägerin macht mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem genannten LSG-Urteil die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Sie hat zwar den Zulassungsgrund grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) jedenfalls hinsichtlich einer Rechtsfrage in einer den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG entsprechenden Weise dargelegt. Die mithin zulässige Beschwerde ist jedoch nicht begründet, da nicht alle Voraussetzungen für eine Revisionszulassung tatsächlich vorliegen.
Die Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 mwN; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 5 RdNr 3; Nr 13 RdNr 19) . Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, falls sich die Antwort auf die Rechtsfrage ohne Weiteres aus den Rechtsvorschriften oder aus bereits vorliegender höchstrichterlicher Rechtsprechung ergibt (zur Verneinung der Klärungsbedürftigkeit im Falle klarer Antwort siehe zB BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 7 RdNr 8) . Diese Anforderungen sind verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 sowie Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ - Kammer, SozR 4-1500 § 160a Nr 12 RdNr 3 f; Nr 16 RdNr 4 f) .
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Nach diesen Maßstäben kommt der von der Klägerin aufgeworfenen Rechtsfrage, |
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ob der Zugangsfaktor einer Hinterbliebenenrente auch dann gemäß § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 4 Buchst a Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) zu verringern sei, wenn der vor Vollendung des 60. Lebensjahres verstorbene Versicherte mit Vollendung des 60. Lebensjahres abschlagsfreie Rente in Anspruch hätte nehmen können, oder ob in diesen Fällen im Hinblick auf die Regelungen in § 77 Abs 2 Satz 2 und § 236a Abs 4 SGB VI der dem Versicherten ab Vollendung des 60. Lebensjahres zuzubilligende Zugangsfaktor von 1,0 auch bei der Hinterbliebenenrente zugrunde zu legen sei, |
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keine grundsätzliche Bedeutung zu. |
Allerdings trifft zu, dass eine ausdrückliche Entscheidung des BSG zu der im vorliegenden Fall maßgeblichen Konstellation noch nicht ergangen ist. Diese ist dadurch geprägt, dass der Versicherte selbst nach der besonderen Übergangsregelung in § 236a Satz 1 iVm Satz 5 Nr 1 SGB VI (idF des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ≪RRErwerbG≫ vom 20.12.2000, BGBl I 1827) aufgrund seines Alters und der bei ihm am Stichtag 16.11.2000 anerkannten Schwerbehinderung im Erlebensfalle nach Vollendung seines 60. Lebensjahres (dh ab 1.12.2007) Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen - und zwar gemäß § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Regelung 2 SGB VI (idF des RRErwerbG) mit ungekürztem Zugangsfaktor 1,0 - gehabt hätte, sofern er zu diesem Zeitpunkt weiterhin als schwerbehinderter Mensch anerkannt oder aber berufs- oder erwerbsunfähig gewesen wäre (die inhaltsgleiche Regelung findet sich ab 1.1.2008 in § 236a Abs 4 SGB VI idF des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20.4.2007, BGBl I 554) . Der aktuellen Rechtsprechung des 5. Senats des BSG, aufgrund derer die vom SG noch in Bezug genommene Entscheidung des vormaligen - jetzt für Rentenversicherungsrecht nicht mehr zuständigen - 4. Senats (vgl BSG SozR 4-2600 § 77 Nr 3) überholt ist, sind jedoch ebenso wie dem Wortlaut sowie der Systematik der gesetzlichen Regelung hinreichend deutliche Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass auch in der soeben benannten Konstellation der Zugangsfaktor gemäß § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB VI (hier noch anzuwenden in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung des RRErwerbG) zu vermindern ist. Der Durchführung eines weiteren Revisionsverfahrens zur Klärung der von der Klägerin aufgeworfenen Frage bedarf es mithin nicht.
Die Klägerin stützt ihre Rechtsauffassung im Wesentlichen darauf, dass gemäß § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI (idF des RRErwerbG) eine Verringerung des Zugangsfaktors unter den Wert, der dem Versicherten bei Vollendung des 60. Lebensjahres zugestanden hätte, ausgeschlossen sei. Nach dieser Vorschrift ist die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors ua dann maßgebend, wenn bei Hinterbliebenenrenten der Versicherte vor Vollendung des 60. Lebensjahres verstorben ist. Deshalb sei in diesem Zusammenhang gleichfalls zu berücksichtigen, dass § 236a SGB VI dem Versicherten ab diesem Zeitpunkt den Bezug einer - abschlagsfreien - Altersrente mit Zugangsfaktor 1,0 ermögliche. Damit reklamiert die Klägerin im Ergebnis einen "Besitzschutz", der sich auf den Zugangsfaktor einer künftig von dem Versicherten - im Falle seines Nichtversterbens - möglicherweise zu beanspruchenden Altersrente für schwerbehinderte Menschen bezieht und der für ihre Hinterbliebenenrente auch dann maßgeblich sein soll, wenn diese infolge des Todes des Versicherten bereits vor Erreichen der für dessen besondere Altersrente einschlägigen Altersgrenze zu leisten ist.
Dass dieses Verständnis des § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI nicht zutrifft, ergibt sich bereits aus den Entscheidungen des 5. Senats des BSG vom 14.8.2008. In ihnen ist ausgeführt, dass die genannte Norm als Berechnungsregel zur Umsetzung der allgemeinen Grundsätze zur Rentenhöhe iS des § 63 Abs 5 iVm § 64 Nr 1 SGB VI zu verstehen ist (BSGE 101, 193 = SozR 4-2600 § 77 Nr 5, RdNr 13; BSG SozR 4-2600 § 77 Nr 6 RdNr 14) . Gemäß § 63 Abs 5 SGB VI soll der Zugangsfaktor im Rahmen der Berechnung der Rentenhöhe dazu dienen, die Vorteile und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer auszugleichen. Verstirbt deshalb ein Versicherter vor Vollendung seines 60. Lebensjahres, ist somit für die von den Hinterbliebenen - für eine längere Dauer als bei dessen späterem Ableben - in Anspruch genommene Rente wegen Todes stets der Zugangsfaktor nach Maßgabe von § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB VI zu vermindern. Um aber zu vermeiden, dass der Zugangsfaktor bei einem sehr frühen Versterben des Versicherten bis auf null sinkt, modifiziert die Regelung des § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI die Grundnorm in § 77 Abs 1 SGB VI: Verstirbt der Versicherte vor Vollendung seines 60. Lebensjahres, wird nicht dessen tatsächliches Alter bei Eintritt des Todes, sondern vielmehr die Vollendung von dessen 60. Lebensjahr - fiktiv - als Ausgangspunkt für die rechnerische Ermittlung des Zugangsfaktors herangezogen; dieser ist mithin im Ergebnis um maximal 0,108 zu mindern und somit auf 0,892 festzulegen (BSG SozR 4-2600 § 77 Nr 6 RdNr 14, 16 für Hinterbliebenenrenten; ebenso BSGE 101, 193 = SozR 4-2600 § 77 Nr 5, RdNr 15 für Erwerbsminderungsrenten) . Gerade bei der Hinterbliebenenrente wird hierdurch deutlich, dass es bei der in § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI enthaltenen Bezugnahme auf das 60. Lebensjahr des Versicherten um eine Fiktion für die Bemessung des Zugangsfaktors und nicht etwa um die Festlegung des Beginns der Rentenminderung geht (BSGE 101, 193 = SozR 4-2600 § 77 Nr 5, RdNr 15; BSG SozR 4-2600 § 77 Nr 6 RdNr 16) .
Schon diese systematischen Erwägungen legen nahe, dass die Regelung in § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI entgegen der Ansicht der Klägerin auch kein "Abschlagsverbot" für Hinterbliebenenrenten enthält, wenn der Versicherte - fiktiv im Erlebensfalle - ab dem Zeitpunkt der Vollendung des 60. Lebensjahres Altersrente mit ungekürztem Zugangsfaktor 1,0 hätte erhalten können. Vielmehr bleibt auch für diese Fallkonstellation maßgebend, dass bei einem frühzeitigen Versterben des Versicherten die Hinterbliebenenrente typischerweise für einen längeren Zeitraum zu zahlen ist und damit einen versicherungsmathematischen Abschlag rechtfertigt.
Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Umfang des für Hinterbliebenenrenten geltenden Besitzschutzes in § 88 Abs 2 SGB VI ausdrücklich normiert ist. Nach Satz 1 der genannten Vorschrift sind einer Hinterbliebenenrente, die spätestens innerhalb von 24 Kalendermonaten nach dem Ende einer Rente des verstorbenen Versicherten aus eigener Versicherung beginnt, mindestens die bisherigen persönlichen EP des verstorbenen Versicherten zugrunde zu legen. Die Anknüpfung dieser Besitzschutzregelung an die "persönlichen Entgeltpunkte" des verstorbenen Versicherten verdeutlicht, dass hierbei der für den Versicherten maßgebliche Zugangsfaktor heranzuziehen ist (vgl § 64 Nr 1 iVm § 66 Abs 1 Satz 1 SGB VI) . Die Regelung greift allerdings nur ein, wenn der Versicherte selbst bereits eine Rentenleistung bezogen hat. Gleichwohl zeigt diese Bestimmung, dass Hinterbliebene als Besitzschutz nur das beanspruchen können, was dem verstorbenen Versicherten zum Zeitpunkt seines Todes an persönlichen EP nach Anwendung des für ihn zu diesem Zeitpunkt maßgeblichen Zugangsfaktors zustand; auf einen in der ferneren Zukunft möglicherweise - fiktiv - für ihn anzuwendenden Zugangsfaktor kommt es nicht an. Der Ehemann der Klägerin hätte aber zum Zeitpunkt seines Todes kurz vor Vollendung des 58. Lebensjahres allenfalls Rente wegen (voller) Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI beanspruchen können, welche gemäß § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 iVm Satz 2 SGB VI gleichfalls nach einem um 0,108 geminderten Zugangsfaktor zu bemessen gewesen wäre. Mithin bietet auch der Aspekt des Besitzschutzes keinerlei Rechtfertigung, der Klägerin ab dem Todestag ihres Ehemannes Witwenrente auf der Grundlage eines (ungekürzten) Zugangsfaktors zu zahlen, der diesem - nur unter bestimmten Umständen - erst mehrere Jahre später zugute gekommen wäre.
Soweit die Klägerin die Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung im Hinblick darauf begehrt, dass noch immer klärungsbedürftig sei, ob Hinterbliebenenrentner bei Versterben des Versicherten vor Vollendung des 60. Lebensjahres überhaupt eine Absenkung des Zugangsfaktors hinnehmen müssten, ist ihre Beschwerde unzulässig. Denn sie hat nicht in der gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG erforderlichen Weise dargelegt, aus welchen Gründen im Einzelnen diese Rechtsfrage trotz der von ihr erwähnten Klärung durch die Entscheidung des BSG vom 14.8.2008 (SozR 4-2600 § 77 Nr 6) weiterhin klärungsbedürftig sein soll. Allein der Hinweis auf ein vor dem BVerfG noch anhängiges Verfahren zur vergleichbaren Problematik der Absenkung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten genügt hierfür nicht (vgl BSG, Beschluss vom 28.9.2009 - B 5 R 344/09 B - BeckRS 2009-73071 RdNr 10; Beschluss vom 20.11.2009 - B 13 R 427/09 B - BeckRS 2009-74761 RdNr 6) . Auch wenn die Klägerin zusätzlich die Begründung der Verfassungsbeschwerde (Az: 1 BvR 3588/08) in ihren Kernaussagen wiedergibt und dabei speziell zur Hinterbliebenenrente auf einen Verstoß gegen Art 14 Grundgesetz abstellt, lässt doch ihre Beschwerdebegründung die erforderliche intensive Auseinandersetzung mit der maßgeblichen aktuellen Rechtsprechung des BSG zu dieser Frage nicht erkennen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34) . Vor allem setzt sie sich nicht damit auseinander, ob nach der Rechtsprechung des BVerfG Hinterbliebenenrenten überhaupt dem Eigentumsschutz unterliegen (vgl BVerfGE 97, 271, 284 = SozR 3-2940 § 58 Nr 1 S 5; s hierzu auch BSG SozR 4-2600 § 77 Nr 6 RdNr 32) .
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen