Verfahrensgang
LSG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 15.01.1997) |
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 15. Januar 1997 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten, ob die Ehefrau des Klägers (Versicherte) bei ihrem tödlichen Unfall am 6. März 1991, an dessen Folgen sie am 21. März 1991 verstarb, unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand und der Kläger Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen hat (ablehnender Bescheid des Beklagten vom 20. Januar 1994 idF des Widerspruchsbescheids vom 15. November 1994; der Klage stattgebende Urteile des Sozialgerichts vom 27. Juli 1995 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 15. Januar 1997).
Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, die Versicherte habe am 6. März 1991 einen als Arbeitsunfall entschädigungspflichtigen Wegeunfall iS des hier noch anwendbaren § 220 Abs 2 des Arbeitsgesetzbuchs der DDR vom 16. Juni 1977 erlitten. Für die Prüfung des sog inneren Zusammenhangs bei einem Wegeunfall mit der betrieblichen Tätigkeit könne angesichts der Vergleichbarkeit des einschlägigen bundesdeutschen Rechts entsprechend der Reichsversicherungsordnung (RVO) mit den entsprechenden Bestimmungen der ehemaligen DDR auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) grundsätzlich zurückgegriffen werden. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze stehe nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens zur Überzeugung des LSG fest, daß der von der Versicherten zurückgelegte Weg dazu gedient habe, ihren Arbeitsplatz in M. … zu erreichen und daß sie von T. … aus, dh von ihrer Wohnung aus, gekommen sei. Die Versicherte habe zwar am Unfalltag den sonst von ihr üblicherweise zurückgelegten kürzesten Weg von T. … nach M. … insofern nicht genommen, da sie eine Haltestelle aus Richtung T. … gesehen nach dem Halt in M. … in G. -B. … verunglückt sei. Dieser Umstand lasse den Versicherungsschutz nach der Rechtsprechung des BSG nicht entfallen, wenn die Wahl der weiteren Wegstrecke aus der durch objektive Gegebenheiten erklärbaren Sicht der Versicherten noch dem Zurücklegen des Wegs zu dem Ort ihrer Tätigkeit zuzurechnen wäre, weil etwa die Versicherte sich „verirrt” habe. Ein solches „Verirren” auf dem Weg zur Arbeit bzw eine versehentliche „Zielüberschreitung” bezüglich des Arbeitsorts lasse den bestehenden Versicherungsschutz bzw erforderlichen inneren Zusammenhang des zurückgelegten „weiteren” Wegs nicht deshalb entfallen, weil dabei die Handlungstendenz des Versicherten nicht unterbrochen bzw dergestalt aufgehoben sei, daß die Zurücklegung des Wegs nicht mehr der Aufnahme der versicherten Tätigkeit diene. Letzteres ließe sich nur annehmen, wenn die „Zielüberschreitung” dazu diene, etwa privatnützliche bzw eigenwirtschaftliche Tätigkeiten aufzunehmen. Das LSG hat weiter ausgeführt, es sei davon überzeugt, daß sich die Versicherte zum Unfallzeitpunkt in G. -B. … auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte in M. … befunden habe; entweder sei dieser Weg von der Wohnung in T. … oder von ihrer anderen Arbeitsstelle in der Schule in T. … aus angetreten worden. Jedenfalls stehe fest, daß der Aufenthalt der Klägerin in G. -B. … dazu gedient habe, ihre Arbeitsstätte in M. … zu erreichen, weil sie zuvor mit dem Bus aus T. … kommend, der dort um 13.20 Uhr den Busbahnhof verlassen habe, die Haltestelle in M. … verpaßt habe und daher irrtümlich mit dem Bus zu weit bis zur nächsten Haltestelle in G. -B. … gefahren sei und von dort nach M. … habe zurückkehren wollen.
Die hiergegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde, die der Beklagte auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫), auf Abweichung von der Rechtsprechung des BSG (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) sowie auf Verfahrensmängel im Urteil des LSG (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) stützt, ist zurückzuweisen. Die geltend gemachten Zulassungsgründe können nicht zur Zulassung der Revision führen.
Die umfangreiche Begründung der Beschwerde des Beklagten zielt im Kern auf das Begehren einer materiell-rechtlichen Überprüfung der Rechtsansicht des LSG und auf die Beweiswürdigung durch das LSG. Gegenstand des Verfahrens über die Nichtzulassungsbeschwerde ist aber nicht die Frage, ob das LSG in der Sache richtig entschieden hat (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 sowie Beschluß des Senats vom 28. November 1996 – 2 BU 227/96 – mwN). Ebenso schließt § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG es aus, die Nichtzulassungsbeschwerde auf Fehler der Beweiswürdigung iS des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG zu stützen. Dieser Hinweis bedeutet nicht, daß der Senat revisionsrechtliche Bedenken gegen die Rechtsauffassung des LSG oder die von ihm getroffene Beweiswürdigung iS des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG zum Ausdruck bringen wollte.
Die unter Nr I auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsgründe liegen nicht vor.
Nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die grundsätzliche Bedeutung ist anzunehmen, wenn die vom Beschwerdeführer für grundsätzlich gehaltene abstrakte Rechtsfrage für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits im angestrebten Revisionsverfahren klärungsbedürftig, klärungsfähig und entscheidungserheblich ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 53; Beschluß des Senats vom 21. Januar 1997 – 2 BU 269/96 –; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, IX, RdNr 63 mwN). Das ist hier nicht der Fall.
Die unter Nr 1a aufgeführte Frage betrifft die Handlungstendenz der Versicherten, der, wie der Beschwerdeführer zu Recht ausführt, bei der Beurteilung des inneren Zusammenhangs eine entscheidende Bedeutung zukommt (s vor allem BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 4), und die sich unter Einbeziehung aller Umstände des Einzelfalls beurteilt (BSG Urteil vom 8. Dezember 1988 – 2 RU 15/88 – mwN in HV-INFO 1989, 521 = Breithaupt 1989, 872 mwN). Dies hat das LSG im Rahmen seiner freien richterlichen Beweiswürdigung zu beurteilen; das ist hier geschehen. Auf Fehler der Beweiswürdigung gerichtete Rügen können, wie bereits dargelegt, nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG nicht zur Zulassung der Revision führen.
Nach den Feststellungen des LSG hatte die Versicherte „die Haltestelle in M. … verpaßt” und ist „daher irrtümlich mit dem Bus zu weit bis zur Haltestelle in G. -B. … gefahren” (s S 16 des Urteils). Nach diesen Feststellungen hatte die Versicherte sich „verirrt” und war auch auf den dadurch bedingten Umweg versichert (s BSG SozR Nr 13 zu § 543 RVO aF sowie Krasney in Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band 3, Gesetzliche Unfallversicherung, 1997, § 8 RdNr 229). Einer weiteren Klärung, inwieweit irrtümliche Umwege versichert sind, bedarf es – entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers unter Nr 1b – für die Entscheidung des vorliegenden Falls nicht.
Die unter Nr 1c angesprochene Grenze der objektiven Beweislast bzw Fragen einer Beweislastentscheidung betreffen ebenfalls im Kern die Beweiswürdigung durch das LSG, die sich – wie das LSG zutreffend ausgeführt hat – erst stellen, wenn das Tatsachengericht nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten eine bestimmte Tatsache nicht feststellen kann (BSGE 27, 40). Im vorliegenden Fall hat das LSG eine solche „Beweislastentscheidung” ausdrücklich nicht getroffen; vielmehr hat es genügend Anhaltspunkte festgestellt, die die Annahme rechtfertigten, daß der von der Versicherten zurückgelegte Weg von dem Zweck bestimmt war, ihren Arbeitsplatz in M. … zu erreichen und die es erlaubten, das Vorliegen einer versicherten Tätigkeit anzunehmen. Insofern stelle sich nach den Feststellungen des LSG hier nicht die Frage einer Beweislastentscheidung, da nicht nur die Möglichkeit für einen Versicherungsschutz der Ehefrau des Klägers am 6. März 1991 bestehe, sondern die Gesamtumstände genügend Hinweise bzw Anhaltspunkte für einen versicherten Weg am Unfalltag böten.
Die vom LSG dem irrtümlichen Umweg gleichzusetzende versehentliche und irrtümliche Zielüberschreitung bedarf entgegen der Meinung des Beschwerdeführers unter Nr 1d entsprechend den Feststellungen des LSG keiner weiteren rechtlichen Klärung, wenn – wie hier – die Versicherte die Haltestelle in M. … verpaßt hatte und daher irrtümlich mit dem Bus eine Haltestelle zu weit bis in G. -B. … gefahren war und von dort nach M. … … wieder zurückkehren wollte.
Ein über den Einzelfall hinausgehendes, die Allgemeinheit betreffendes Interesse wird in aller Regel für die Auslegung von bereits außer Kraft getretenen Vorschriften nicht angenommen, es sei denn, daß noch eine erhebliche Zahl von Fällen der Entscheidung harrt und darin die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage liegt (BSG SozR 1500 § 160a Nr 19; Krasney/Udsching aaO IX RdNr 61 mwN). Zu seiner Frage unter Nr 1e, ob es zulässig sei, zur Prüfung des inneren Zusammenhangs bei Arbeits- bzw Wegeunfällen, die nach § 220 AGB-DDR zu beurteilen seien, auf die Rechtsprechung des BSG zu den entsprechenden Vorschriften der RVO zurückzugreifen, hat der Beschwerdeführer nichts dementsprechendes vorgetragen.
Die unter Nr II auf Abweichungen von der Rechtsprechung des BSG gerichteten Rügen sind ebenfalls nicht begründet.
Soweit der Beschwerdeführer unter Nr 1 eine Abweichung von der Entscheidung des BSG Nr 23 zu § 543 RVO aF rügt, übersieht er, daß sich der im vorliegenden Fall vom LSG festgestellte Sachverhalt, von dem im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde auszugehen ist, von demjenigen, der dem angezogenen Urteil zugrunde lag, wesentlich unterscheidet. In der vom Beschwerdeführer angeführten Entscheidung war der Versicherte über seinen Heimatbahnhof hinausgefahren, weil er eingeschlafen war. Im vorliegenden Fall dagegen hat das LSG keine dementsprechenden Feststellungen getroffen.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers unter Nr 2 hat das LSG im angefochtenen Urteil nicht den abstrakten Rechtssatz aufgestellt, wonach ein innerer Zusammenhang und damit Versicherungsschutz nach § 550 RVO dann bestehen solle, wenn nach dem Verlassen des üblichen und direkten Wegs Anhaltspunkte für eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit fehlten und sich der Unfallort in zeitlicher und räumlicher Nähe zum Zielort befinde. Dazu hat der Beschwerdeführer auch lediglich ausgeführt, dieser Rechtssatz müsse der Entscheidung des LSG zugrunde gelegen haben.
In den weiteren Ausführungen unter Nr 3, mit denen der Beschwerdeführer eine Abweichung von einem weiteren Rechtssatz des BSG rügt, fehlt es an der Bezeichnung eines abstrakten Rechtssatzes aus dem angefochtenen Urteil. Er meint, das LSG gehe ausweislich seiner verwendeten Formulierung nicht auf das eigentliche und unfallbringende Ereignis – das Überqueren der Straße – ein. Damit gehe das LSG nicht auf den konkreten Weg ein, auf dem sich die Versicherte zum Unfallzeitpunkt befunden habe. Das LSG erörtere vielmehr ausschließlich, auf welchem Weg die Versicherte in den Bereich der Unfallstelle gelangt sei, wobei sich diese deutlich außerhalb des unmittelbaren Wegs befinde. Des weiteren würdige das LSG ausschließlich das Verhalten der Versicherten bis zum Erreichen dieses Bereichs der Unfallstelle. Wie oft die Versicherte die Straße in Höhe der Bushaltestelle in G. -B. … überquert habe und zu welchem Zweck sie schließlich die Straße zum Unfallzeitpunkt betreten habe, werde nicht erörtert. Aus dieser Vorgehensweise, die immerhin dazu führe, den Versicherungsschutz zum Unfallzeitpunkt zu bejahen, müsse ebenfalls auf die Zugrundelegung eines bestimmten Rechtssatzes geschlossen werden. Dies ist keine Bezeichnung eines abstrakten Rechtssatzes aus dem angefochtenen Urteil des LSG.
Das gleiche gilt für die Ausführungen des Beschwerdeführer unter Nr 4. Auch hier fehlt es an der Bezeichnung eines abstrakten Rechtssatzes. Vielmehr macht der Beschwerdeführer im wesentlichen geltend, die Rechtsauffassung des LSG könne mit der des BSG „weder jeweils im einzelnen noch insgesamt in Übereinstimmung gebracht werden”.
Die schließlich unter Nr III gerügten Verfahrensmängel können ebensowenig zur Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG führen.
Soweit der Beschwerdeführer unter Nr 1 rügt, das LSG hätte Frau K. als Zeugin laden und vernehmen müssen, fehlt es bereits an der für die Zulassung der Revision erforderlichen Bezeichnung eines vom LSG übergangenen Beweisantrags aus dem Berufungsverfahren.
Der ferner unter Nr III 2 bis 5 gerügte Verfahrensmangel eines „unvollständigen” Urteils liegt nicht vor. Nach § 136 Abs 1 Nrn 5 und 6 SGG enthält das Urteil ua die gedrängte Darstellung des Tatbestands und die Entscheidungsgründe. Entscheidungsgründe enthält das Urteil dann, wenn in der Begründung selbst mindestens diejenigen Erwägungen zusammengefaßt worden sind, auf denen die Entscheidung über jeden einzelnen für den Urteilsausspruch rechtserheblichen Streitpunkt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. Die Begründung soll zwar bündig kurz, muß aber derart ausführlich sein, daß die höhere Instanz das angefochtene Urteil zuverlässig nachprüfen und der unterlegene Beteiligte aus ihm ersehen kann, worauf das Gericht seine Entscheidung stützt (BSG SozR 1500 § 136 Nr 10 mwN). Eine den Anforderungen des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG nicht genügende Begründung liegt daher nicht erst dann vor, wenn überhaupt keine Gründe vorhanden sind. Entscheidungsgründe fehlen schon, wenn zu einem entscheidungserheblichen Streitpunkt die Erwägungen, die das Gericht zum Urteilsausspruch geführt haben, dem Urteil selbst nicht zu entnehmen sind. Zu dem Mindestinhalt der Entscheidungsgründe gehört demnach die ausreichende Angabe der angewandten Rechtsnormen und der für erfüllt bzw nicht gegeben erachteten Tatbestandsmerkmale sowie der dafür ausschlaggebend gewesenen tatsächlichen und rechtlichen Gründe (vgl BSG SozR 1500 § 136 Nr 8; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 152). Fehlen in diesem Sinne „die Entscheidungsgründe”, liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel vor (BSG Beschluß vom 14. Dezember 1995 – 2 BU 189/95 –). Diesen Anforderungen wird entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers die angegriffene Entscheidung in vollem Umfang gerecht. Das LSG hat zunächst auf die Rechtsprechung des BSG zum inneren Zusammenhang hingewiesen und hat sodann unter deren Berücksichtigung in einer eingehenden Beweiswürdigung festgestellt, daß der Aufenthalt der Klägerin in G. -B. … dazu diente, ihre Arbeitsstätte in M. … zu erreichen, weil sie zuvor mit dem Bus aus T. … kommend, der dort um 13.20 Uhr den Busbahnhof verließ, die Haltestelle in M. … verpaßt hatte und daher irrtümlich mit dem Bus zu weit bis zur Haltestelle in G. -B. … gefahren ist und von dort nach M. … zurückkehren wollte. Daß das LSG bei seinen eingehenden Entscheidungsgründen von dem Beklagten einzelne als rechtlich erhebliche Gesichtspunkte nicht ausdrücklich erörtert und erwähnt hat, rechtfertigt in keiner Weise die von ihm erhobene Verfahrensrüge.
Die Beschwerde war daher insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen