Beteiligte
Landesamt für Soziales und Versorgung -Landesversorgungsamt- |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Brandenburg vom 28. August 1998 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1991 bis zum 31. Oktober 1996 Anspruch auf eine Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) hat.
Im Dezember 1990 beantragte der 1925 geborene Kläger Beschädigtenversorgung. Mit Bescheid vom 13. November 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 1993 lehnte der Beklagte diesen Antrag ab. Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Cottbus (SG) mit Urteil vom 7. Oktober 1996 den Beklagten unter Abänderung des streitbefangenen Bescheides verurteilt, bei dem Kläger eine posttraumatische Streßkrankheit als Schädigungsfolge nach dem BVG anzuerkennen und im übrigen die Klage abgewiesen. Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Weil nach den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz” (AHP) 1996 im Unterschied zu den vorher gültigen AHP 1983 die vom SG festgestellte Schädigungsfolge mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 vH zu bewerten ist, hat der Beklagte einen Anspruch des Klägers auf eine entsprechende Grundrente ab dem 1. Januar 1997 anerkannt. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen. Mit Urteil vom 28. August 1998 hat das Landessozialgericht Brandenburg (LSG) den angefochtenen Bescheid und das erstinstanzliche Urteil über das angenommene Teilanerkenntnis hinaus geändert und den Beklagten verurteilt, dem Kläger auch für die Zeit vom 1. November 1996 bis 31. Dezember 1996 Grundrente nach einer MdE von 30 vH zu gewähren. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, zwar seien die bei dem Kläger festzustellenden medizinischen Befunde seit Antragstellung weitgehend unverändert. Nach den hier bis einschließlich Oktober 1996 anzuwendenden AHP 1983 erreiche die daraus resultierende MdE aber noch keine rentenberechtigende Höhe. Erst ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der AHP 1996 im November 1996 ergebe sich eine MdE von 30 vH.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von §§ 30 Abs 1, 31 BVG, § 54 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Vorliegend sei auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen, da bisher noch kein bindend gewordener Bescheid existiere. Damit seien die AHP 1996 für den gesamten Zeitraum seit Antragstellung anzuwenden.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 28. August 1998 sowie das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 7. Oktober 1996 und den Bescheid der Beklagten vom 13. November 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 1993 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm auch für die Zeit vom 1. Januar 1991 bis zum 31. Oktober 1996 eine Grundrente nach einer MdE von 30 vH zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Seiner Auffassung nach sind die AHP 1996 nicht rückwirkend, sondern erst ab 1. Januar 1997 anzuwenden.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Er hat für den allein noch streitigen Zeitraum vom 1. Januar 1991 bis 31. Oktober 1996 keinen Anspruch auf eine Grundrente nach § 30 BVG. Denn hier sind die AHP 1983 und nicht die AHP 1996 anzuwenden und unter Zugrundelegung dieser Anhaltspunkte erreicht die MdE des Klägers, wie das LSG zutreffend festgestellt hat, keine rentenberechtigende Höhe.
Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger sein Begehren vorliegend mit einer Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG) geltend macht, bei der der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtslage idR die letzte mündliche Verhandlung ist (vgl BSG SozR Nr 71 zu § 54 SGG; BSGE 12, 127, 130 = SozR Nr 72 zu § 54 SGG; BSG SozR 3-3100 § 35 Nr 6 sowie Kummer, Das sozialgerichtliche Verfahren, 1996, RdNr 83 mwN), denn dieser Grundsatz gilt nicht, wenn es in einem Klageverfahren um die Frage geht, welche AHP für die Bestimmung der MdE eines Beschädigten im streitigen Zeitraum heranzuziehen sind, weil die bisher geltenden AHP im Laufe des gerichtlichen Verfahrens durch neue ersetzt worden sind.
Wie der Senat bereits entschieden hat, sind die AHP 1996 nicht rückwirkend anwendbar, sondern entfalten ab 1. Januar 1997 Wirkung allein für die Zukunft (vgl Senatsbeschluß vom 21. Oktober 1998 in SozR 3-3870 § 3 Nr 8 sowie Einzelheiten bei Bürck, ZfS 1999, 129, 133 ff). Anders wäre es allenfalls, wenn die AHP ähnlich wie neue Gesetzesbestimmungen rechtswirksam mit Rückwirkung „in Kraft gesetzt werden” könnten und dies mit dem entsprechenden Geltungswillen auch tatsächlich geschehen wäre. Beides ist indessen nicht der Fall.
Gesetze mit sog „unechter Rückwirkung” sind, freilich nur mit Einschränkungen, insbesondere unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, grundsätzlich zulässig. Im Falle unechter Rückwirkung werden Sachverhalte in die gesetzlichen Regelungen einbezogen, die in der Vergangenheit begründet worden, auf Dauer angelegt und noch nicht abgeschlossen sind (vgl zB BSGE 71, 202, 208 = SozR 3-4100 § 45 Nr 3; Möller/Rührmair, NJW 1999, 908 jeweils mwN). Ob ein Gesetz derartige Sachverhalte umfaßt und regelt, hängt entscheidend von seinem Geltungswillen ab. Insbesondere Übergangsbestimmungen können eine unechte Rückwirkung ausdrücklich anordnen. Ist das nicht der Fall, kann die gebotene verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes möglicherweise zu diesem Ergebnis führen. Jedenfalls reicht das alleinige Anknüpfen an die gerade gewählte Klagart (Anfechtungs-, Leistungs- und/oder Verpflichtungsklage) für die Bestimmung des maßgeblichen Rechts nicht aus. Allenfalls als Faustregel kann die Anknüpfung an die Klagart von Nutzen sein (vgl BSG SozR 3-4100 § 52 Nr 7 sowie Bürck, aaO, 134). Vielmehr ist insoweit auf das geltende materielle Recht abzustellen.
Danach gilt, daß die AHP keine Rechtsnormen sind und deshalb auf sie auch nicht die Grundsätze anzuwenden sind, die für die Rückwirkung von Gesetzen gelten und ihnen überdies auch kein entsprechender Geltungswille zu entnehmen ist. Nach dem erklärten Geltungswillen des Herausgebers der AHP 1996 – dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) – kommt den AHP 1996 keine Rückwirkung zu. Der Herausgeber geht eindeutig davon aus, daß die AHP 1996 die von 1983 mit Wirkung vom 1. Januar 1997 für die Zukunft abgelöst haben (vgl Rundschreiben vom 19. Dezember 1996 - BArbBl 1997, Nr 2 S 98 und vom 20. Februar 1997 - BArbBl 1997, Nr 4 S 79). Für den hier streitigen Zeitraum sind deshalb die AHP 1983 heranzuziehen. So liegt es vor allem deshalb, weil es sich bei den AHP nicht um Rechtsnormen, sondern um ein einleuchtendes, abgewogenes und geschlossenes Beurteilungsgefüge ua zur Bestimmung der MdE nach dem BVG und des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertengesetz handelt. Es äußert allerdings insoweit normähnliche Wirkungen, als es vor allem aus Gründen der Gleichbehandlung wie untergesetzliche Rechtsnormen angewandt wird (vgl BSGE 67, 204, 209 = SozR 3-3870 § 4 Nr 1), die Verwaltung bindet und auf das auch die Gerichte angewiesen sind. Die geltenden AHP geben jeweils den aktuellen medizinischen Wissens- und Erkenntnisstand wieder und ermöglichen damit der Versorgungsverwaltung und den Gerichten, mit Hilfe von Willensentscheidungen für Schädigungen oder eine Behinderung den zutreffenden Grad der MdE oder den GdB zu bestimmen (vgl insoweit BSGE 75, 176, 177 = SozR 3-3870 § 3 Nr 5; Wachholz, br 1992, 35, 36). Dieser Umstand steht einer Rückwirkung der jeweils aktuell geltenden AHP in Zeiträume vor ihrem „Inkrafttreten” entgegen.
Das Begehren des Klägers kann auch deshalb keinen Erfolg haben, weil die AHP 1983 dem Gesetz nicht widersprechen, es nicht erkennbar und vom Kläger auch nicht geltend gemacht worden ist, daß sie dem Stand der medizinischen Wissenschaft während des gesamten hier streitigen Zeitraums nicht entsprochen haben oder daß hier ein Sonderfall vorliegt, der aufgrund der individuellen Verhältnisse einer gesonderten Beurteilung bedarf (vgl BSG MesoB 20a/210; BSG SozR 3870 § 4 Nr 3; BSGE 72, 285, 287 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6; BSGE 75, 176, 178 = SozR 3-3870 § 3 Nr 5). Insbesondere ist nicht erkennbar, daß die Überlegungen oder Erkenntnisse, die in den AHP 1996 zu einer Neubewertung der MdE für solche Schädigungen, wie sie die Kläger erlitten hat, geführt haben, schon lange vor dem 1. Januar 1997 vorgelegen, aber nicht zu einer Änderung der AHP 1983 geführt haben. Wäre es anders, wären jedoch die AHP 1996 nicht etwa rückwirkend anzuwenden, sondern die AHP 1983 müßten systemgerecht korrigiert werden (vgl Senatsbeschluß vom 21. Oktober 1998 in SozR 3-3870 § 3 Nr 8 und Bürck, aaO, 133 ff sowie auch BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 6 S 30). Insoweit hat indes der Kläger nichts vorgetragen und ein dementsprechender Sachverhalt ist auch nicht bekannt geworden. Wird – wie hier – die MdE für eine posttraumatische Streßkrankheit bestimmter Ausprägung von 20 auf 30 vH erhöht, so muß dies nicht auf grundsätzlichen neuen medizinischen Erkenntnissen über die einer Behinderung zugrundeliegenden Erkrankungen beruhen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt zur herrschenden medizinischen Auffassung verdichtet haben. Gerade bei psychischen Regelabweichungen dürfte einer geringfügigen MdE-Korrektur eher eine systemgerechte, geänderte Einschätzung im Rahmen des einer gerichtlichen Nachprüfung nicht zugänglichen Einschätzungsspielraums der Verwaltung bei der Schaffung der AHP zugrunde liegen (vgl zu den AHP 1996 Rößner/Raddatz, Medizinischer Sachverständiger 1996, 173, 177 f, Herter, br 1997, 89, 92 sowie BSGE 75, 176, 178 = SozR 3-3870 § 3 Nr 5).
Gegen die vom Kläger vertretene Auffassung, die AHP 1996 seien rückwirkend anzuwenden, spricht schließlich auch die Überlegung, daß ein in Übereinstimmung mit den geltenden AHP ergangener Bescheid, der zwischen den Beteiligten bindend geworden ist, regelmäßig nicht rückwirkend als inhaltlich falsch und damit rechtswidrig angesehen werden kann (vgl BSG SozR 3870 § 4 Nr 3). Es ist kein sachgerechter Grund ersichtlich, solche Ansprüche um die es hier geht, entscheidend von der Bearbeitungsdauer eines Antrags abhängig zu machen oder – wie hier – einen Kläger für den zurückliegenden streitigen Zeitraum besser zu behandeln als jemand, der ein auf die damals geltenden Anhaltspunkte zutreffend gestütztes Urteil hingenommen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 543080 |
SozSi 2000, 107 |