Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 1. Juli 1959 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte der Klägerin Waisenrente vom 1. Januar 1957 bis 31. März 1959 zu gewähren hat.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Klägerin ist am 11. November 1938 geboren. Bis Ende November 1956 bezog sie Waisenrente aus der Invalidenversicherung ihres im Jahre 1942 gefallenen Vaters. Im Juli 1953 war festgestellt worden, daß sie an Lungentuberkulose litt. Seitdem trug sie einen Pneumothorax.
Im April 1957 beantragte ihre Mutter die Weitergewährung der Rente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus.
Durch Bescheid vom 25. November 1957 lehnte die Beklagte die Weiterzahlung der Waisenrente ab, weil nach der fachärztlichen Untersuchung vom 9. bis 12. September 1957 die Erkrankung an Lungentuberkulose (linksseitige, produktiv-indurative Lungen-Tbc) kein Gebrechen im Sinne des § 1267 der Reichsversicherungsordnung (RVO) mehr darstelle, sondern nur noch eine Erkrankung, die durch entsprechende Behandlung beseitigt werden könne; damit sei die Gewährung von Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus nicht möglich.
Hiergegen erhob die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht (SG) Nürnberg mit der Begründung, daß sie sich wegen ihrer Tbc-Erkrankung und des noch bestehenden Pneumothorax nicht selbst unterhalten könne und deshalb gebrechlich sei. Weil sie wegen einer Besserung ihres Gesundheitszustandes seit dem 13. April 1959 als Arbeiterin in einer Malkastenfabrik tätig war, beantragte die Klägerin, die inzwischen geheiratet hatte,
ihr die Waisenrente vom 1. Dezember 1956 bis zum 31. März 1959 weiter zu gewähren.
Das SG verurteilte nach Einholung eines ärztlichen Gutachtens die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 25. November 1957 antragsgemäß zur Weiterzahlung der Waisenrente vom 1. Dezember 1956 bis zum 31. März 1959. Es schloß sich der Auffassung des Sachverständigen an, daß die Klägerin infolge ihres Leidens bis zum Frühjahr 1959 berufsunfähig gewesen sei. Erst dann habe sich ihr Gesundheitszustand so gebessert, daß sie wieder hätte arbeiten können. Auch eine Infektionskrankheit könne ein Gebrechen sein. Die Lungen-Tbc habe einen Zustand dargestellt, mit dessen Portbestand für nicht absehbare Zeit hätte gerechnet werden müssen. Solange eine Waise infolge einer solchen Erkrankung ihren notwendigen Lebensbedarf nicht selbst durch Arbeit verdienen könne, bestehe ein Gebrechen, das die Weitergewährung der Waisenrente rechtfertige. Daß 1957 begründete Aussicht auf Behebung der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit bestanden habe, sei unerheblich. Die Berufung wurde zugelassen.
Gegen das ihr am 13. Juli 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 24. Juli 1959 unter Beifügung einer schriftlichen Einverständniserklärung der Mutter der Klägerin Sprungrevision eingelegt mit dem Antrag,
das Urteil des SG Nürnberg vom 1. Juli 1959 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
In der am 8. September 1959 eingegangenen Revisionsbegründung wird die Verletzung sachlichen Rechts gerügt. Nach dem im Rentenverfahren eingeholten Gutachten vom 7. Oktober 1957 seien damals sämtliche Untersuchungen auf Tbc-Bazillen negativ verlaufen. Daher habe eine offene Lungen-Tbc nicht mehr vorgelegen, sondern höchstens noch eine – fraglich – aktive. Es habe sich deshalb im Jahre 1957 um ein behandlungsbedürftiges Leiden gehandelt, von dem zu erwarten gewesen sei, daß es nach Abschluß der Pneumothorax-Behandlung, also in absehbarer Zeit, behoben sein werde. Somit habe es an der für die Annahme von Gebrechlichkeit erforderlichen notwendigen dauernden Erwerbsbeschränkung gefehlt, so daß die Rente nicht hätte weiter gewährt werden dürfen. Auf Grund der Fortschritte in der Medizin stelle eine Tbc längst nicht mehr eine so schwierige, ernste und langwierige Erkrankung dar wie früher.
Die Klägerin beantragt unter Rücknahme der weitergehenden Klage,
die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Beklagte verurteilt wird, ihr die Waisenrente vom 1. Januar 1957 bis zum 31. März 1959 zu zahlen.
Nach den bindenden Feststellungen des SG habe sie vom Juli 1953 bis Anfang 1959 an einer Lungen-Tbc gelitten und sei sie deshalb nicht in der Lage gewesen, sich in dieser Zeit selbst zu unterhalten. Hieraus habe das SG zutreffend gefolgert, daß für diesen Zeitraum ein Zustand der Gebrechlichkeit bestanden habe, so daß die Waisenrente nach dem Recht des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) weiter hätte gezahlt werden müssen.
Entscheidungsgründe
Die nach den §§ 161, 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das SG hat die Beklagte im Ergebnis im wesentlichen zu Recht zur Weiterzahlung der Waisenrente verurteilt.
Körperliche oder geistige Gebrechen, die ein Kind daran hindern, sich selbst zu unterhalten, haben schon frühzeitig dazu geführt, daß deswegen höhere oder längere Leistungen zu gewähren sind, und zwar sowohl im Unterhaltsrecht (§ 1708 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches – BGB –) als auch in der Unfallversicherung – UV – (§ 591 RVO idF des Zweiten Gesetzes über Änderungen in der UV vom 14.7.1925 – RGBl I 97 –), in der Rentenversicherung – RentV – (§ 1259 Abs. 1 Satz 3 RVO idF des Gesetzes zur Änderung der RVO und des Angestelltenversicherungsgesetzes – AVG – vom 25.6.1926 – RGBl I 311 –) sowie im Versorgungsrecht (§§ 30 Abs. 4 Satz 1, 41 Abs. 3 Satz 1 des früheren Reichsversorgungsgesetzes – RVG – vom 31.7.1925 und §§ 32 Abs. 3b, 45 Abs. 3b des jetzigen Bundesversorgungsgesetzes – BVG –), im Beamtenrecht (z.B. § 133 Abs. 2 des Deutschen Beamtengesetzes – DBG vom 26.1.1937 – RGBl I 39 –, § 164 Abs. 2 des Bundesbeamtengesetzes – BBG – vom 18.9.1957 – BGBl I 1337 – und § 18 Abs. 3 des Bundesbesoldungsgesetzes vom 27.7.1957 – BGBl I 993 –, wobei hier allerdings verlangt wird, daß das körperliche oder geistige Gebrechen dauernde Erwerbsunfähigkeit zur Folge hat), und neuerdings in der Kindergeldgesetzgebung (§ 2 Abs. 1 Satz 2 des Kindergeldgesetzes – KGG – vom 13.11.1954 – BGBl I 333 idF des Kindergeldergänzungsgesetzes – KGEG – vom 23.12.1955 – BGBl I 841).
Hierzu hat das frühere Reichsversicherungsamt (RVA) in der Grundsätzlichen Entscheidung (GE) Nr. 3194 vom 18. April 1928 (AN 1928, 232 = EuM 22, 424) zutreffend ausgeführt, daß nach dem Sinn und Zweck der in Betracht kommenden gesetzlichen Bestimmungen der RVO Gebrechen und Krankheit nicht zwei scharf getrennte Begriffe sein können, die sich gegenseitig ausschließen. In den §§ 141 Abs. 1 Satz 1, 588 Abs. 1 Satz 2, 1254 aF, 1246 und 1247 Abs. 2 Satz 1 nF werden mit der Fassung „Krankheiten oder andere Gebrechen” die Krankheiten sogar schlechthin zu den Gebrechen gezählt, und nur der Umstand, daß anderenfalls die Unterscheidung von Krankheit und Gebrechen keinen rechten Sinn hätte, verbietet es, das „Gebrechen” als den Oberbegriff auf zufassen, der die Krankheit als eine besondere Unterart des Gebrechens mit enthält. Demnach muß nicht jede Krankheit zugleich ein Gebrechen sein, doch kann es gleichwohl Krankheiten geben, die sich auch als Gebrechen darstellen. Von diesem sind nur diejenigen Krankheiten auszuschließen, deren Verlauf sich auf eine kürzere oder längere, jedenfalls aber im voraus abschätzbare Dauer beschränkt, namentlich also die akuten Krankheiten. Sonst aber sind Gebrechen entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch alle von der Regel abweichenden körperlichen oder geistigen Zustände, mit deren Dauer für nicht absehbare Zeit zu rechnen ist (ebenso EuM 23, 461, Urt. vom 9.11.1928).
In der Entscheidung vom 1. Dezember 1928 (EuM 23, 382) hat das RVA mit Recht ausgeführt, daß ein tuberkulöser Infektionszustand, mit dessen Dauer für nicht absehbare Zeit zu rechnen ist, ebenfalls ein Gebrechen i. S. des § 1259 Abs. 1 Satz 3 und des § 1291 Abs. 1 Satz 3 RVO sein kann. Die tuberkulöse Infektion hat einen von der Regel abweichenden körperlichen Zustand zur Folge. Für den Begriff des Gebrechens darf nicht verlangt werden, daß es sich um eine in der Entwicklung abgeschlossene Gesundheitsstörung handelt, die keiner ärztlichen Heilmaßnahme mehr zugänglich wäre. Eine solche Auslegung würde zu einer zu engen Begrenzung des Begriffs des Gebrechens führen.
In der Folgezeit hat sich die Auffassung des RVA weitgehend durchgesetzt (vgl. zB die Verwaltungsvorschriften Nr. 10 zu § 32 BVG sowie das Schreiben des Gesamtverbandes der Familienausgleichskassen – KG 8/56 vom 28.1.1956 –, in welchem ausgeführt wird, es bestünden keine Bedenken, die Rechtsgrundsätze der RVA-Entscheidungen vom 18.4.1928, 9.11. und 1.12.1928 für das Kindergeldrecht anzuwenden; ähnlich Lauterbach/Wickenhagen, KGG, Anm. 13 zu § 2 und Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III S. 690).
Damit ist das SG zu Recht davon ausgegangen, daß eine langwierige Lungen-Tbc ein Gebrechen i. S. der genannten Vorschriften der RentV sein kann, wenn es sich um einen Zustand handelt, mit dessen Dauer für nicht absehbare Zeit zu rechnen ist, während kein Gebrechen vorliegen würde, wenn die Erkrankung nur vorübergehender Natur ist. Die Richtigkeit dieses Ergebnisses wird durch die historische Entwicklung des derzeitigen Rechtszustandes bestätigt. Nach § 1258 Abs. 1 RVO in der bis zum 31. Dezember 1956 gültigen Fassung nach § 13 des KGEG erhielten das dritte und jedes weitere Kind eines Versicherten nach seinem Tode Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus bis zum vollendeten 25. Lebensjahr ua dann, wenn sie wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen außerstande waren, sich selbst zu unterhalten. Nach § 1267 Abs. 1 RVO idF des ArVNG gilt jetzt Entsprechendes für jedes Kind, das „bei Vollendung des 18. Lebensjahres infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, solange dieser Zustand dauert”. Diese neue Vorschrift gilt nach Art. 2 § 20 ArVNG auch für Versicherungsfälle vor dem Inkrafttreten des Gesetzes. Damit folgt aus dieser erneuten, schon dem früheren Recht bekannten Beschränkung der Weitergewährung der Waisenrente auf die Zeit des Andauerns des Zustandes der Gebrechlichkeit ebenfalls, daß es sich nicht um ein Gebrechen handeln muß, das einen abgeschlossenen Dauerzustand darstellt und dauernde Erwerbsunfähigkeit zur Folge hat.
Ein solches Gebrechen aber hat, wenn die nicht angegriffenen Feststellungen im Urteil des SG (§ 163 SGG) zugrunde gelegt werden, zur Zeit des hier maßgebenden Zeitpunktes, nämlich der Vollendung des 18. Lebensjahres, d. h. also im November 1956, vorgelegen. Denn nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes dürfen an das Erfordernis, daß mit einer Dauer des Krankheitszustandes auf nicht absehbare Zeit zu rechnen ist, keine zu großen Anforderungen gestellt werden. Den gesetzlichen Bestimmungen über die Gewährung der Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus wegen Gebrechlichkeit liegt der Gedanke zugrunde, daß an Kinder über dieses Lebensalter hinaus Versicherungsleistungen gewährt werden sollen, wenn sie in diesem Zeitpunkt, in dem in der Regel der Eintritt in das Erwerbsieben erfolgt, infolge ihrer körperlichen oder geistigen Beschaffenheit gehindert sind, zu arbeiten und ihren eigenen Unterhalt zu verdienen.
Hiermit wäre es nicht zu vereinbaren, solche Vergünstigungen ausschließlich bei unheilbaren Leiden zu gewähren. Vielmehr sind nach Sinn und Zweck des Gesetzes ernstliche Krankheitszustände nicht nur dann als Gebrechen anzusehen, wenn sie für unheilbar gehalten werden, sondern auch dann, wenn ihre Heilung in einer nicht bestimmbaren Zeit oder erst nach Ablauf einer so langen Zeit zu erwarten ist, daß von einer Absehbarkeit i. S. der Rechtsprechung des RVA nicht gesprochen werden kann. Nach den maßgebenden tatsächlichen Feststellungen des SG bestand die Lungen-Tbc der Klägerin seit 1953 und besserte sich erst im Frühjahr 1959; vom Juli 1953 bis März 1959 bestand nach Ansicht des Sachverständigen, Medizinalrat Dr. Langner, dem das SG gefolgt ist, sogar völlige Erwerbsunfähigkeit. Zu dem maßgebenden Zeitpunkt – Vollendung des 18. Lebensjahres im November 1956 – ist hiernach der Zustand nicht besser gewesen als zur Zeit der ärztlichen Untersuchung im September 1957. Die hierbei festgestellte Heilbarkeit des Leidens schließt, die Annahme eines Gebrechens nicht aus, da die Krankheit von ihrer erstmaligen Feststellung an gerechnet fast sechs Jahre gedauert hat und im Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres bereits drei Jahre und vier Monate bestanden und anschließend noch rund 2 1/2 Jahre zu ihrer Heilung gebraucht hat. Wenn auch 1956 zu erwarten war, daß sie einmal geheilt werden würde, so war allenfalls eine nach Jahren zählende Schätzung möglich, wann die Heilung eintreten würde. Diese der Natur der Krankheit entsprechende lange Heilungszeit ist in ihrer Bemessung zu unbestimmt, um die Annahme eines Gebrechens auszuschließen.
Es ist somit nicht zu beanstanden, wenn das SG bei der Klägerin im November 1956 den Zustand eines Gebrechens angenommen hat, der bis zum 31. März 1959 die Rentengewährung rechtfertigt, weil die Klägerin in dieser Zeit außerstande war, sich selbst zu unterhalten (§ 1267 RVO i.V.m. Art. 2 §§ 20, 41 ArVNG).
Mit der durch die Klagerücknahme für die Zeit vor 1957 gebotenen Maßnahme war daher die Revision zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Unterschriften
Dr. Brockhoff, Dr. Dapprich, Dr. Schubert
Fundstellen
Haufe-Index 674140 |
BSGE, 83 |
NJW 1961, 987 |