Leitsatz (amtlich)

Zur Frage, wann eine Fachschulausbildung iS von AVG § 36 Abs 1 Nr 4 (= RVO § 1259 Abs 1 Nr 4) abgeschlossen ist.

 

Normenkette

AVG § 32a Nr. 1 S. 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1255a Nr. 1 S. 2 Fassung: 1965-06-09; AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1965-06-09; AVG § 32a Anl 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1255a Anl 1 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 18. April 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der Berechnung der dem Kläger zustehenden Rente wegen Berufsunfähigkeit die Ersatz- und Ausfallzeiten in die Leistungsgruppe 2 der Anlage 1 zu § 32 a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) einzustufen sind.

Der am 21. März 1909 geborene Kläger besuchte bis Ostern 1924 ein Gymnasium, das er mit Versetzung in die Obersekunda verließ. Im Anschluß hieran besuchte er die einjährige höhere Handelsschule in K. Nach der Ausgestaltung des Unterrichts handelte es sich dabei um eine Fachschule, für deren erfolgreiches Durchlaufen eine Prüfung vorgeschrieben war. Die mündliche Prüfung legte der Kläger nach einer Zeugenaussage am 20. März 1925 (also einen Tag vor Vollendung des 16. Lebensjahres) ab. Von Mai 1925 an entrichtete der Kläger als kaufmännischer Lehrling Beiträge zur Angestelltenversicherung. Seine Beitragsleistung ist bis April 1927 belegt. Im Oktober 1935 wanderte er aus Verfolgungsgründen in die Niederlande aus, wo er bis heute lebt.

Aufgrund eines gerichtlichen Vergleiches bewilligte die Beklagte dem Kläger vom 1. November 1968 an Rente wegen Berufsunfähigkeit. Bei der Rentenberechnung berücksichtigte sie neben den nachgewiesenen Beitragszeiten Ersatzzeiten des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts (171 Monate) und eine pauschale Ausfallzeit (2 Monate). Die Ersatz- und Ausfallzeiten bewertete sie nach § 32 a Nr. 1 Satz 2 AVG, wobei sie den Tabellenwert der Anlage 1 zu § 32 a AVG zugrunde legte, der für die männlichen Angestellten der Leistungsgruppe 3 vorgesehen ist.

Die hiergegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) ab. Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG auf und verpflichtete die Beklagte, den Kläger antragsgemäß in Leistungsgruppe 2 der Anlage 1 zu § 32 a AVG einzustufen. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Die Ersatz- und Ausfallzeiten des Klägers seien nach Maßgabe des § 32 a Nr. 1 Satz 2 AVG zu bewerten. Er habe weniger als 60 Beitragsmonate aufzuweisen, und sein Monatsdurchschnitt aus diesen Beiträgen sei erheblich niedriger als der ungünstigste Tabellenwert der Anlage 1 zu § 32 a AVG. Für den einzelnen beitragslosen Monat sei der Tabellenwert zugrunde zu legen, der für männliche Angestellte der Leistungsgruppe 2 vorgesehen sei. Es könne dahingestellt bleiben, ob nach dem Wortlaut der Leistungsgruppendefinitionen die Fachschulausbildung im konkreten Einzelfall erst nach Vollendung des 16. Lebensjahres geendet haben müsse oder ob es ausreiche, daß sie regelmäßig erst nach Vollendung des 16. Lebensjahres abgeschlossen sei. Stelle man auf das konkrete Lebensalter des Versicherten am Ende der Ausbildung ab, so sei der Kläger damals bereits 16 Jahre alt gewesen. Die Ausbildung der höheren Handelsschule sei auf ein Jahr angelegt gewesen. Das Schuljahr 1924/25 habe dabei frühestens am 31. März 1925 geendet. Der Kläger habe aber bereits am 21. März 1925 das 16. Lebensjahr vollendet. Dabei sei es nicht maßgebend, daß die mündliche Prüfung des Klägers wie in demjenigen Fall des gehörten Zeugen schon am 20. März 1925 und damit einen Tag vor Vollendung seines 16. Lebensjahres stattgefunden habe. Maßgeblich könne nicht der zufällige mündliche Prüfungstermin sein, sondern lediglich das festliegende und für alle Schüler maßgebende Ende des Schuljahres der Ausbildung. Gehe man demgegenüber davon aus, daß die durchlaufene Fachschulausbildung im Regelfall über die Vollendung des 16. Lebensjahres hinaus andauerte, so sei der Anspruch des Klägers gleichfalls begründet. Aufgrund der schulischen Ausbildung sei es seinerzeit regelmäßig nicht möglich gewesen, vor Vollendung des 16. Lebensjahres die Fachschulausbildung zu beenden (Urteil vom 18. April 1975).

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt Verletzungen der §§ 32 a (Anlage 1), 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG durch das Berufungsgericht.

Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des SG Berlin vom 2. Oktober 1972 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Die Beklagte hat sich aufgrund eines gerichtlichen Vergleiches verpflichtet, dem Kläger Berufsunfähigkeitsrente zu zahlen. Zur Frage, wie dabei die Ersatzzeiten des Klägers zu bewerten sind, hat das LSG festgestellt, daß der Kläger keine 60 Monate mit Beiträgen belegt hat und daß der Wert des sich hieraus ergebenden Monatsdurchschnitts niedriger ist als der ungünstigste Tabellenwert der Anlage 1 zu § 32 a AVG. Zu Recht ist daher das LSG davon ausgegangen, daß der maßgebliche Wert gemäß § 32 a Nr. 1 Satz 2 AVG nach Maßgabe der Anlage 1 zu dieser Vorschrift zu ermitteln ist. Nach der Leistungsgruppe 2 dieser Anlage sind Versicherte mit einer in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG bezeichneten Schul- oder Fachschulausbildung einzustufen.

Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen, weil die Fachschulausbildung mit dem Schuljahrende am 31. März 1925 und damit erst nach Vollendung seines 16. Lebensjahres im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG abgeschlossen war. Der Kläger besuchte bis zu diesem Zeitpunkt eine schulische und damit in der Ausbildungsdauer von vornherein zeitlich festgelegte Einrichtung. Entsprechend den allgemeinbildenden Schulorganisationen war der Kläger daher auch bis zum Schluß des Schuljahres an diese Ausbildungszeit gebunden und konnte die Schule trotz des Durchlaufens einer Prüfung erst einheitlich und zusammen mit allen übrigen Jahrgangsteilnehmern verlassen. Im Hinblick auf diese Ausgestaltung der Ausbildung kann hier - anders als bei der weitgehend von den persönlichen Dispositionen der Studierenden abhängigen Hochschulausbildung - die Ablegung der Prüfung nicht mit dem Abschluß der Ausbildung gleichgesetzt werden. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die an Schuljahrgänge ausgerichtete und für alle Besucher gleichermaßen zeitlich festgelegte Fachschulausbildung erst mit dem Ende des Schuljahres abgeschlossen ist. In Fällen, in denen die Fachschule die Schüler in der Zeit zwischen Prüfung und Ende des Schuljahres noch zu Unterrichts- und anderen Veranstaltungen herangezogen hat, hätte die Auffassung der Beklagten zur Folge, daß keine Ausfallzeit in bezug auf einen Zeitabschnitt vorläge, in dem die Fachschule noch Zeit und Arbeitskraft des Versicherten in Anspruch genommen hat. Dies widerspräche Sinn und Zweck des § 36 Abs. 1 Nr. 4 b AVG. Ließe man demgegenüber in diesem Bereich die Prüfung als maßgeblichen Tag für den Abschluß der Ausbildung gelten, würden überdies trotz einer Ausbildung von gleicher Art und Dauer Zufallsergebnisse geschaffen, weil es den Schulen aus organisatorischen Gründen oft nicht möglich ist, für einen Jahrgang einheitlich an einem einzigen Tag Prüfungen abzuhalten und deswegen diese für die Besucher der gleichen Fachschule teils vor und teils nach Vollendung des 16. Lebensjahres stattfinden. Dieser Umstand würde somit bei den betroffenen Personen, die derartige Ausbildungen gleichzeitig in Jahrgangsgruppen durchlaufen, zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Differenzierung bei der Berücksichtigung einer sozialversicherungsrechtlich relevanten Ausbildungszeit führen.

Die vom erkennenden Senat getroffene Entscheidung widerspricht nicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Abschluß einer Ausbildung (BSGE 20, 35; SozR 59 und 61 zu § 1259 RVO). Im Unterschied zum vorliegenden Fall ging es dort regelmäßig um den Abschluß einer Hochschulausbildung, also einer Ausbildung, die nicht von vornherein durch den Ausbildungsträger für eine Jahrgangsgruppe zeitlich und organisatorisch einheitlich festgelegt und bestimmt wird, sondern bei der die Ablegung der mündlichen Prüfung, zu der sich der Prüfling nach Ermessen meldet, die Ausbildung definitiv beendet. Aus der Eigenart der Hochschulausbildung folgt mithin, daß der Prüfungstag ihr Ende bezeichnet. Im Gegensatz dazu ist die Fachschulausbildung nach Zeitabschnitten von vornherein festgelegt; erst ihr Ablauf schließt in der Regel die Ausbildung ab.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647648

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