Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. hauptamtlicher Krankenkassen-Vorstand. Schadensersatz bei Verletzung der Informationspflicht über zutreffende Vermögenssituation. Nichtanwendung des Haftungsregimes nach § 42 SGB 4. Gewährung rechtlichen Gehörs
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Krankenkassen-Vorstand hat den Schaden zu ersetzen, der aus einer Verletzung seiner Pflicht erwächst, seine Krankenkasse zutreffend über ihre Vermögenssituation zu informieren.
2. Hauptamtliche Krankenkassenvorstände unterfallen nicht dem Haftungsregime des § 42 SGB 4.
Orientierungssatz
1. Im Rahmen der Gewährung rechtlichen Gehörs besteht kein allgemeiner Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung über eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl zB BSG vom 17.10.2006 - B 1 KR 104/06 B).
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 2.12.2009 - 1 BvR 2896/09).
Normenkette
BGB § 249 S. 1, § 252 S. 1; SGB 4 § 42; SGG § 62; GG Art. 103 Abs. 1; MRK Art. 6 Abs. 1; BGB § 252 S. 2; SGB 5 § 220 Abs. 2 Fassung: 1992-12-21
Verfahrensgang
Tatbestand
Die klagende Betriebskrankenkasse (BKK) begehrt von der Beklagten Schadensersatz.
Die Beklagte war alleiniger hauptamtlicher Vorstand der BKK Leuna, bis diese BKK sich zum 1.1.1998 zusammen mit fünf anderen BKKn (im Folgenden: weitere Fusionskassen) zur "Novitas Vereinigte BKK" (im Folgenden: "Novitas BKK neu") vereinigte: ua mit der "Novitas Vereinigte BKK" (im Folgenden: "Novitas BKK alt"). Die zunächst klagende "Novitas BKK neu" fusionierte in der Folgezeit anderweitig. Die hierdurch entstandene Rechtsnachfolgerin führte wiederum den Namen "Novitas Vereinigte BKK". Die jetzige Klägerin ist aufgrund einer weiteren Fusion nun deren Rechtsnachfolgerin.
Spätestens zu Jahresbeginn 1997 stellte die Beklagte fest, dass die vorläufige Jahresrechnung der BKK Leuna für das Jahr 1996 ein sehr hohes Defizit auswies. Um eine deshalb drohende Schließung der BKK Leuna zu verhindern, veranlasste die Beklagte ua einen Eingriff in die Datenbank, durch den die Buchungen einer Vielzahl von Rechnungen des Jahres 1996 in das Jahr 1997 verschoben wurden. Die auf dieser Grundlage erstellte Jahresrechnung 1996 wies zum 31.12.1996 ein Passivvermögen der Krankenkasse (KK) von ca 9,7 Mio DM und einen Verlust von ca 2,7 Mio DM aus. Tatsächlich hätten die Passiva bei ordnungsgemäßer Verbuchung um 5,817 Mio DM höher ausfallen müssen. Weil dem Landesverband der BKKn Niedersachsen (im Folgenden: BKK-Landesverband) die vorgenommenen Eingriffe in die Bilanz bei einer Prüfung im April 1997 nicht auffielen, testierte er, die Jahresrechnung der BKK Leuna für 1996 sei korrekt.
Die Beklagte wies anlässlich der Verhandlungen über die zum 1.1.1998 mit den anderen BKKn geplante Fusion, in deren Rahmen die Beklagte dem Vorstand "Novitas BKK alt" die Jahresrechnung der BKK Leuna 1996 aushändigte, auf die vorgenommenen Änderungen nicht hin. Die aus der Fusion hervorgegangene "Novitas BKK neu" übernahm die Beklagte als Mitarbeiterin in der Funktion einer "Regionalleiterin Ost" (Anstellungsvertrag vom 18.1.1998). Da der vorläufige Rechnungsabschluss der BKK Leuna für das Jahr 1997 eine starke Ausgabensteigerung gegenüber dem Vorjahr auswies, fand am 30.3.1998 ein Gespräch zwischen der Beklagten, dem stellvertretenden Vorstand sowie dem Bereichsleiter Finanzen/allgemeine Verwaltung der "Novitas BKK neu" statt. Nach dem von den Beteiligten unterschriebenen Protokoll dieses Gespräches hatte eine gemeinsame Prüfung ergeben, dass im Jahr 1997 gebuchte Verpflichtungen in Höhe von 5,817 Mio DM als Verpflichtungen des Jahres 1996 hätten gebucht werden müssen; die vorgenommene Bilanzierung habe das Rechnungsergebnis 1996 um diesen Betrag zu Lasten des Rechnungsergebnisses 1997 entlastet. Die Beklagte erklärte zu Protokoll, dass ihr Vorgehen dem Zweck gedient habe, einer sonst drohenden Schließung der BKK Leuna vorzubeugen. Ein ausgewiesenes Defizit für 1996 in der Größenordnung von zusätzlich rund 5,8 Mio DM würde den BKK-Landesverband Ost veranlasst haben, die Schließung der BKK Leuna beim Bundesversicherungsamt (BVA) zu beantragen. Der Vorstand selbst - also die Beklagte - habe die Absicht gehabt, diese Verschiebung in der zeitlichen Rechnungsabgrenzung in den Jahren 1997 bis 1999 sukzessiv zurückzunehmen.
Daraufhin kündigte die "Novitas BKK neu" das Anstellungsverhältnis der Beklagten fristlos aus wichtigem Grund. Die Beklagte blieb mit ihrem Kündigungsschutzprozess ohne Erfolg (letztinstanzlich: Bundesarbeitsgericht ≪BAG≫, Urteil vom 5.4.2001 - 2 AZR 159/00 - NJW 2002, 162) . Eine darüber hinaus erfolgte Sonderprüfung des BVA ergab, dass die BKK Leuna in den Haushaltsjahren 1996 und 1997 in großem Umfang zeitliche Rechnungsabgrenzungen unterlassen hatte. Hierzu seien auf Anweisung der Beklagten Anfang 1997 Eingriffe in das EDV-System erfolgt, mit denen die automatische (rechtlich gebotene) zeitliche Rechnungsabgrenzung von 1996 zu 1997 außer Kraft gesetzt worden sei. Das BVA setzte den Beitragssatz der "Novitas BKK neu", der 1997 im Rahmen der Fusionsverhandlungen mit 13,2 % angesetzt worden war, im Wege der Ersatzvornahme für den Rechtskreis Ost zum 1.4.1999 auf 13,9 % fest. Zum 1.1.2000 erfolgte eine weitere Beitragssatzerhöhung auf 14,2 %.
Die "Novitas BKK neu" hat bei dem Arbeitsgericht Naumburg (ArbG) von der Beklagten Zahlung von 500.000 DM (= 255.645,94 Euro) "Schadensersatz wegen Manipulation des Haushalts 1996" als Teilbetrag einer Gesamtforderung von 15.603.586,35 DM nebst Zinsen geltend gemacht (am 23.6.1998 zugestellter Mahnbescheid). In dem sich aufgrund des Widerspruchs der Beklagten anschließenden Klageverfahren hat sich das ArbG für sachlich zuständig erklärt. Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt den Rechtsstreit an das Sozialgericht (SG) verwiesen (Beschluss vom 10.3.1999). Das SG hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt, der Klägerin "265.645,94 Euro" (richtig und gemeint: 255.645,94 Euro) nebst 4 % Zinsen ab 23.6.1998 zu zahlen, weil die Voraussetzungen des § 826 BGB erfüllt seien. Die Beklagte habe die Klägerin vorsätzlich sittenwidrig geschädigt, indem sie die Fehlerhaftigkeit des Jahresabschlusses 1996 verschwiegen habe (Urteil vom 10.11.2003). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das SG-Urteil aufgehoben, soweit es eine Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von mehr als 51.129,19 Euro ausgesprochen hat: Lediglich in dieser Höhe bestehe ein Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte wegen der Verletzung einer Aufklärungspflicht, die aus der Anbahnung des am 18.1.1998 zwischen der Klägerin und der Beklagten geschlossen Arbeitsvertrages resultiere. Die Klägerin müsse sich allerdings vier Fünftel Mitverschulden anrechnen lassen (Urteil vom 28.11.2007).
Die nun klagende BKK rügt als Rechtsnachfolgerin der "Novitas BKK neu" mit ihrer Revision die Verletzung der §§ 249, 251, 254, 288, 291 BGB. Das LSG habe nicht berücksichtigt, dass die Fusionskassen eine Vereinigung mit der BKK Leuna gar nicht beschlossen hätten, wenn die Beklagte sie über die Manipulationen der Jahresrechnung 1996 ordnungsgemäß aufgeklärt hätte. Der geltend gemachte Schadensersatzanspruch erstrecke sich auch auf den übergegangenen Anspruch der BKK Leuna wegen Bilanzfälschung. Die Klägerseite treffe kein Mitverschulden an der Schadensentstehung. Schließlich habe das LSG den Zinsanspruch nicht berücksichtigt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 28. November 2007 zu ändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 10. November 2003 insgesamt zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 28. November 2007 abzuändern, das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 10. November 2003 insgesamt aufzuheben, die Klage abzuweisen sowie die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung von Art 103 GG, §§ 103, 128 SGG sowie von §§ 242 aF (entsprechend § 311, § 241 nF), 249, 251, 254, 276, 280, 611 BGB. Das LSG habe mit einer Überraschungsentscheidung ihr rechtliches Gehör verletzt. Es habe gegen den Amtsermittlungsgrundsatz verstoßen, weil aufgrund der von ihm ermittelten Umstände die Feststellung eines Schadens nicht möglich sei. Sie (die Beklagte) habe nicht schuldhaft gehandelt, da sie insbesondere aufgrund des Testates des BKK-Landesverbandes von der Ordnungsmäßigkeit der Jahresrechnung 1996 ausgegangen sei. Zumindest seien die Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs zu berücksichtigen. Die Klägerin treffe hierbei ein 100%iges Mitverschulden. Die "Novitas BKK alt" sei entgegen der Ansicht der Klägerin unabhängig von der finanziellen Lage der BKK Leuna fest entschlossen gewesen, sich mit dieser zu vereinigen. Die Klägerin könne nicht verlangen, so gestellt zu werden, als sei sie - ohne Fusion mit der BKK Leuna - eine ganz andere juristische Person. Die Beklagte berufe sich gegenüber Schadensersatzansprüchen aus dem Rechtsverhältnis zur BKK Leuna auf die Einrede der Verjährung.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet, diejenige der Beklagten unbegründet.
Das Urteil des LSG ist zu ändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG insgesamt zurückzuweisen. Das SG hat zu Recht die Beklagte zur Zahlung von 255.645,94 Euro nebst 4 % Zinsen ab dem 23.6.1998 an die Klägerin verurteilt. Der Senat kann aufgrund der vom LSG festgestellten, nicht mit durchgreifenden Revisionsrügen angegriffenen Tatsachen in der Sache abschließend entscheiden.
Der geltend gemachte Schadensersatz betrifft entgegen der Ansicht des LSG nicht allein einen Schaden, den die Beklagte bei der "BKK Novitas neu" hervorrief, indem sie nach ihrer Übernahme in das Anstellungsverhältnis als Regionalleiterin die von ihr geschuldete Aufklärung unterließ. Die Klägerin begehrt vielmehr auch Ersatz eines Schadens, der bereits der BKK Leuna durch die Manipulation ihrer Bilanz für das Jahr 1996 entstand (dazu 1.). Entgegen der Ansicht der Beklagten ist dem LSG kein Verfahrensfehler unterlaufen, der den erkennenden Senat zur Zurückverweisung der Sache an das LSG zwingt (dazu 2.). Die Klägerin hat Anspruch auf den geltend gemachten Schadensersatz in vollem Umfang. Die BKK Leuna konnte Schadensersatz aus positiver Vertragsverletzung des Anstellungsvertrags verlangen (dazu 3.). Dieser Schadensersatzanspruch ist mit den folgenden Fusionen letztlich auf die Klägerin übergegangen. Sie ist nämlich Rechtsnachfolgerin der BKK Leuna (dazu 4.). Die Einwendungen der Beklagten greifen nicht durch (dazu 5.).
1. Streitgegenstand ist die Zahlung von 255.645,94 Euro "Schadensersatz wegen Manipulation des Haushalts 1996" als erstrangiger Teilbetrag einer Gesamtforderung, die sich zusammensetzt zunächst aus einer "Verschiebung von Aufwandspositionen des Haushaltsjahres 1996 in die Folgejahre gemäß Protokollnotiz vom 31.3.1998" von 5,817 Mio DM nebst weiteren, im Einzelnen genannten Positionen. Dieses Begehren ist hinreichend bestimmt. Denn die Klägerin hat einen Anspruch als Hauptanspruch und die übrigen Ansprüche in einer bestimmten, festgelegten Reihenfolge als Hilfsansprüche geltend gemacht (vgl zu Teilklagen zB Bundesgerichtshof ≪BGH≫, Urteil vom 3.12.1953 - III ZR 66/52 - BGHZ 11, 192 ff; BGH, Urteil vom 8.12.1989 - V ZR 174/88 - NJW 1990, 2068 f; Becker-Eberhard, in: MüKo ZPO, 3. Aufl 2008, § 253 RdNr 105; Assmann, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 3. Aufl, Stand: 1.9.2008, § 253 RdNr 55; Kreft, DRiZ 1954, 186, 187). Es bedarf keiner näheren Auseinandersetzung mit den weiteren Schadenspositionen. Die Klage ist bereits wegen des geltend gemachten erstrangigen Teilanspruchs in vollem Umfang begründet.
Entgegen der Ansicht des LSG beschränkt die Klägerin bei verständiger Würdigung ihres Vorbringens ihr Klageziel nicht nur auf den Ersatz des Schadens, den die Beklagte bei der "BKK Novitas neu" verursachte, indem sie nach ihrer Übernahme in das Anstellungsverhältnis als Regionalleiterin die von ihr geschuldete Aufklärung unterließ. Vielmehr geht es ihr auch um einen Schaden, der durch die Manipulation der Bilanz der BKK Leuna für 1996 bei dieser BKK selbst entstand. Der Senat muss daher - wie es im Ansatz schon das SG getan hat - auch diesen Sachverhalt zur Grundlage seiner Entscheidung im Revisionsverfahren heranziehen.
2. Das LSG hat keine Überraschungsentscheidung getroffen, welche die Beklagte in ihrem Recht auf rechtliches Gehör verletzt. Das rechtliche Gehör (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 GG; Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention) soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine gerichtliche Entscheidung überrascht werden, die auf Auffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten. In diesem Rahmen besteht jedoch kein allgemeiner Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl zB Bundessozialgericht ≪BSG≫, Beschluss vom 17.10.2006 - B 1 KR 104/06 B - RdNr 9 mwN; BSG, Beschluss vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B - mwN; BSG, Beschluss vom 5.8.2004 - B 13 RJ 206/03 B -; BSG, Beschluss vom 21.11.2000 - B 2 U 288/00 B -; E. Hauck in: Zeihe, Das SGG und seine Anwendung, Stand 1.11.2008, § 105 RdNr 9a mwN) .
3. Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aus einer positiven Vertragsverletzung des Anstellungsvertrags der Beklagten mit ihrer ursprünglichen Arbeitgeberin, der BKK Leuna. Die Beklagte verletzte seit Beginn ihrer eigenmächtigen Eingriffe in die BKK-Bilanzen im Jahre 1997, die sich als Fälschungshandlungen darstellen, vorsätzlich und fortgesetzt ihre Pflicht gegenüber ihrer Arbeitgeberin, diese - insbesondere ihr Selbstverwaltungsorgan Verwaltungsrat - über die Passiva infolge der Bilanzmanipulationen aufzuklären. Der BKK Leuna entstand dadurch ein Schaden; denn die BKK konnte den entstehenden Fehlbetrag nicht pflichtgemäß in dem dafür gesetzlich vorgesehenen Verfahren durch Erhöhungen ihres Beitragssatzes ausgleichen, da sie hiervon nichts wusste. Die Möglichkeit der BKK Leuna zur gebotenen Beitragssatzerhöhung erlosch mit der Fusion am 1.1.1998.
a) Der Anspruch aus positiver Vertragsverletzung wird hier nicht von spezielleren sozialrechtlichen Regelungen verdrängt.
Der in Betracht kommende § 42 SGB IV, der für die Haftung auf die Regelungen über Amtspflichtverletzungen verweist, findet nach seinem Wortlaut nur auf "Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane" Anwendung. Nach § 31 Abs 3a Satz 1 SGB IV handelt es sich bei dem "hauptamtlichen" Vorstand einer KK, wie es die Beklagte bei der BKK Leuna war, nicht um ein solches Selbstverwaltungsorgan, welches Haftungsprivilegierungen in Anspruch nehmen kann (vgl Steinbach in: K. Hauck/Haines, SGB IV, Stand Oktober 2008, K § 42 RdNr 4; Seegmüller in: jurisPK-SGB IV, Stand: 9.6.2006, § 42 RdNr 27; ders, NZS 1996, 408, 409; Schneider-Danwitz in: jurisPK-SGB IV, Stand: 9.5.2007, § 35a RdNr 69; Schüller, NZS 2006, 192, 195).
An die Stelle des Anspruchs aus positiver Vertragsverletzung tritt vorliegend auch nicht die seit 1.1.2002 geltende Kodifizierung gemäß §§ 280 ff BGB in der seit 1.1.2002 gültigen Fassung (nF). § 280 BGB nF ist nach der Übergangsregelung des Art 229 § 5 Satz 1 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche (EGBGB) hier noch nicht anwendbar.
b) Der Anspruch aus positiver Vertragsverletzung setzt voraus, dass die schuldhafte Verletzung einer vertraglichen Pflicht zu einem ersatzfähigen Schaden geführt hat. Denn die richterrechtlich entwickelten Voraussetzungen der positiven Vertragsverletzung entsprechen jenen des § 280 Abs 1 BGB nF (vgl zu den Voraussetzungen zB BAG, Urteil vom 24.8.2006 - 8 AZR 414/05 - AP Nr 3 zu § 276 BGB Vertragsverletzung = NJW 2007, 172; Heinrichs in Palandt, BGB, 68. Aufl 2009, § 280 RdNr 1, 5). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Die Beklagte verletzte durch die Bilanzmanipulationen eine Pflicht ihres Anstellungsvertrages (dazu c). Sie handelte dabei vorsätzlich (dazu d). Sie täuschte die BKK Leuna absichtlich über die BKK-Vermögenssituation. Dadurch verursachte sie bei der BKK Leuna einen Schaden, da die BKK den entstehenden Fehlbetrag nicht pflichtgemäß durch Erhöhungen ihres Beitragssatzes ausgleichen konnte (dazu e).
c) Zu den Pflichten des Anstellungsvertrages des Vorstands einer KK gehört es insbesondere, dafür Sorge zu tragen, dass sich die KK gesetzeskonform finanziert. So regelt § 220 Abs 2 SGB V (in der hier anzuwendenden, ab 1.1.1997 geltenden Fassung, geändert durch Art 1 Nr 152 Buchst a des Gesetzes vom 26.3.2007 BGBl I 378 mit Wirkung vom 1.1.2009) : "Ergibt sich während des Haushaltsjahres, dass die Betriebsmittel der Krankenkasse einschließlich der Zuführung aus der Rücklage und der Inanspruchnahme eines Darlehens aus der Gesamtrücklage zur Deckung der Ausgaben nicht ausreichen, sind die Beiträge zu erhöhen. Muss eine Krankenkasse, um ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten oder herzustellen, dringend ihre Einnahmen vermehren, hat der Vorstand zu beschließen, dass die Beiträge bis zur satzungsmäßigen Neuregelung erhöht werden; der Beschluss bedarf der Genehmigung der Aufsichtsbehörde. Kommt kein Beschluss zustande, ordnet die Aufsichtsbehörde die notwendige Erhöhung der Beiträge an."
Grundlage dieser Pflichten ist eine peinlich genaue Buchführung, die eine ausreichende Informationsgrundlage für alle zum Handeln verpflichteten KK-Organe und für die KK-Aufsicht über die verfügbaren Mittel und die laufenden Ausgaben schafft. Andernfalls kann die KK ihren gesetzlichen Verpflichtungen nicht genügen. Bei Erfüllung seiner Pflichten darf der Vorstand weder seinen Arbeitgeber noch Dritte schädigen (vgl Seegmüller, Der hauptamtliche Vorstand der gesetzlichen Krankenkassen, 1996, S 154; ders, NZS 1996, 408, 410). Das gilt gerade auch im Hinblick auf die Bilanzierung als Grundlage des Haushaltsplans und der Entscheidungen über die Finanzierung der KK. Diese Pflicht verletzte die Beklagte. Sie täuschte die BKK Leuna mit den Bilanzmanipulationen über die BKK-Vermögensverhältnisse im Jahr 1996.
Der so umschriebenen Aufklärungspflicht hatte die Beklagte als Vorstand der BKK Leuna aufgrund ihres Anstellungsvertrags gegenüber der BKK zu genügen. Denn der Vorstand einer BKK vertritt diese auch insoweit mangels abweichender Rechtsbestimmung außergerichtlich (vgl § 35a Abs 1 Satz 1 SGB IV). Er ist erforderlichenfalls für Beitragserhöhungen verantwortlich. Eine besondere Aufklärungspflicht traf die Beklagte zudem, weil sie als alleiniger, hauptamtlicher Vorstand der BKK Leuna die Manipulationen an der Jahresrechnung 1996 selbst veranlasst hatte.
d) Die Beklagte hat ihre gegenüber der BKK Leuna bestehende Aufklärungspflicht vorsätzlich im Sinne des § 276 Abs 1 BGB verletzt. Vorsatz erfordert das Wissen und Wollen des rechtswidrigen Erfolges (vgl BGH NJW 1965, 962 f mwN; Heinrichs, aaO, § 276 BGB RdNr 10). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Das folgt aus den Feststellungen des LSG durch Bezugnahme auf den Inhalt der Gerichtsakten.
Danach hatte die Beklagte sicheres Wissen über die Manipulationen der Bilanz für 1996, da sie die gesetzwidrigen Rechnungsverbuchungen - erst für das Folgejahr - unter Zugriff auf das EDV-System selbst veranlasst hatte. Ebenso war ihr bewusst, dass die durch die Manipulation verdeckten finanziellen Defizite für die BKK Leuna von elementarer Bedeutung waren. Sie selbst sah die finanzielle Lage der BKK Leuna als so dramatisch an, dass sie sich zu rechtlich unzulässigen Eingriffen in das Rechnungswesen der BKK Leuna gezwungen sah.
Auf der Grundlage dieses Wissens war es zweifellos die Absicht der Beklagten, die BKK Leuna über die vorgenommenen Manipulationen und damit über ihre tatsächliche finanzielle Situation im Unklaren zu lassen. Nach ihren eigenen, im Gesprächsprotokoll vom 30.3.1998 festgehaltenen Angaben nahm sie die Manipulationen mit dem Ziel vor, die Schließung der BKK Leuna abzuwenden, die ansonsten aufgrund der extrem schlechten finanziellen Situation gedroht hätte. Um dieses Ziel zu erreichen, war es unabdingbar, die BKK Leuna selbst nicht über die Manipulationen aufzuklären. Gerade darauf kam es der Beklagten an. Sie wollte die Verschleierung der Passiva erst sukzessive bis 1999 zurücknehmen. Zugleich war ihr klar, dass die BKK Leuna mit der Fusion erlöschen würde, ohne zuvor entstandene Einnahmeausfälle künftig ausgleichen zu können.
e) Der BKK Leuna ist kausal durch diese vorsätzliche Pflichtverletzung der Beklagten ein Schaden in Höhe von 5,817 Mio DM entstanden. Denn die BKK Leuna konnte den entstehenden Fehlbetrag nicht pflichtgemäß durch Erhöhungen ihres Beitragssatzes ausgleichen. Die BKK Leuna wäre bei Kenntnis ihrer tatsächlichen finanziellen Situation schon im Jahr 1997 zu einer Beitragssatzerhöhung verpflichtet gewesen, die zu einer Rückführung des bestehenden Finanzierungsdefizits geführt hätte. Das folgt aus der bereits oben dargestellten Regelung des § 220 Abs 2 SGB V. Die Beklagte verhinderte die erforderlichen Beitragssatzerhöhungen, indem sie die Täuschung über die tatsächliche finanzielle Situation der BKK Leuna aufrechterhielt.
Diese kausal aufgrund des schädigenden Verhaltens der Beklagten unterbliebene Beitragssatzerhöhung führte im Rechtssinne zu einem Schaden der BKK Leuna aus entgangenem Gewinn. Nach § 252 Satz 1 BGB erfasst der zu ersetzende Schaden auch den entgangenen Gewinn. Als entgangen gilt der Gewinn, welcher nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insbesondere nach den getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte (§ 252 Satz 2 BGB). Entgangener Gewinn in diesem Sinne ist ein mittelbarer Schaden, der vom Schädiger gemäß § 249 Satz 1, § 252 Satz 1 BGB zu ersetzen ist. Er umfasst alle Vermögensvorteile, die dem Geschädigten im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses zwar noch nicht zustanden, ohne dieses Ereignis aber angefallen wären (vgl BGH NJW-RR 1989, 980, 981 mwN; Heinrichs, aaO, § 252 RdNr 1) . Ohne Belang ist, dass es sich bei einer KK nicht um ein auf Gewinnerzielung ausgerichtetes Unternehmen handelt (vgl entsprechend BGH NJW-RR 1989, 980, 981 mwN) . Es genügt, dass die Beitragseinnahmen der KK aufgrund des schädigenden Verhaltens der Beklagten ausblieben. Die Beitragseinnahmen wären bei gewöhnlichem Lauf der Dinge mit Wahrscheinlichkeit der BKK Leuna zugeflossen. Das ergibt sich aus der in § 220 Abs 2 SGB V vorgeschriebenen Notwendigkeit derartiger Beitragssatzerhöhungen (vgl dazu BSG, Urteil vom 3.3.2009 - B 1 A 1/08 R - unter II. 2 c) bb der Gründe, zur Veröffentlichung in SozR und BSGE vorgesehen) .
Die BKK Leuna konnte aufgrund der andauernden Täuschung und der Fusion am 1.1.1998 diesen Schaden durch entgangene Beitragseinnahmen auch nicht in der Folgezeit beseitigen. Vielmehr war hierzu erst die durch Fusion entstandene "BKK Novitas neu" nach Beendigung der Täuschung und Aufklärung des Schadensumfangs im Wege der Sonderprüfung durch die Versicherungsaufsicht nach § 88 SGB IV in der Lage. Die von der "BKK Novitas neu" vorgenommene Beitragssatzerhöhung zum Ausgleich des von der BKK Leuna übernommenen Defizits zum 1.4.1999 auf 13,9 % und zum 1.1.2000 auf 14,2 % kann die Beklagte schon im Ansatz nicht entlasten. Es handelt sich dabei nämlich nicht um eine bloße Nachholung einer unterlassenen Beitragssatzerhöhung der BKK Leuna. Vielmehr geht es im Rechtssinne um eine Leistung eines Dritten, die der Schädigerin nicht zu Gute kommen darf. Die Beitragssatzerhöhung erfolgte nämlich zu Lasten eines ganz anderen Kreises von Versicherten: Nicht die Mitglieder der BKK Leuna, sondern diejenigen der "BKK Novitas neu" mussten letztlich den Schaden ausgleichen.
4. Der Schadenersatzanspruch der BKK Leuna gegen die Beklagte ist nach § 144 Abs 4 Satz 2, § 150 Abs 2 Satz 1 SGB V auf die Klägerin übergegangen. Denn die Klägerin ist nach dieser Regelung durch die Vereinigung zum 1.1.1998 und die folgenden beiden Fusionen in die Rechte der bisher bestehenden KKn eingetreten, insbesondere in die Rechte der BKK Leuna und der "Novitas BKK neu". Die Klägerin ist in diesem Sinne Rechtsnachfolgerin der BKK Leuna.
5. Die Einwendungen der Beklagten greifen nicht durch. Sie kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, aufgrund des Testates des BKK-Landesverbandes von der Ordnungsmäßigkeit der Jahresrechnung 1996 ausgegangen zu sein. Denn die Beklagte wusste, dass ihre Manipulationen bei Prüfung der Jahresrechnung 1996 nicht aufgefallen waren (vgl bereits BAG NJW 2002, 162) . Eine den Anspruch mindernde Berücksichtigung eines angeblichen Mitverschuldens der Organe der "Novitas BKK alt" nach § 254 Abs 1, Abs 2 Satz 2 iVm § 278 BGB scheidet für einen Schadensersatzanspruch der BKK Leuna aus. Der Schaden in Form entgangener Beitragseinnahmen der BKK Leuna bestand bereits vor der Fusion am 31.12.1997. Hierfür trugen die BKK Leuna und die "Novitas BKK alt" keine Mitverantwortung. Der Anspruch der Klägerin ist auch nicht verjährt. Die Verjährung des Schadensersatzanspruchs der Klägerin wegen der Vertragsverletzung der Beklagten im Jahre 1997 konnte nicht vor Ablauf von drei Jahren eintreten (vgl zB BGH DB 2008, 1561) . Die Verjährung wurde im Sinne des vor dem 1.1.2002 geltenden Rechts (= aF) aufgrund der Einreichung des Mahnbescheids am 15.6.1998 und seiner Zustellung am 23.6.1998 bis zum Ablauf des 31.12.2001 unterbrochen (vgl §§ 209 Abs 2 Nr 1; 213 Satz 1; 212a Satz 1; 211 Abs 1 BGB aF; Art 229 § 6 Abs 2 EGBGB; § 693 Abs 2 ZPO). Sie ist nach dem seit 1.1.2002 geltenden Recht (= nF) gehemmt (§§ 204 Abs 1 Nr 3; 209 BGB nF; Art 229 § 6 Abs 2 EGBGB) .
6. Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 291 BGB, § 696 Abs 3 ZPO iVm § 288 Abs 1 Satz 1 BGB in der bis zum 30.4.2000 gültigen Fassung (vgl Art 229 § 1 Abs 1 Satz 3 EGBGB).
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in der bis zum Inkrafttreten des 6. SGG-Änderungsgesetzes (6. SGGÄndG vom 17.8.2001, BGBl I 2144) am 2.1.2002 geltenden Fassung (aF). Dies ergibt sich aus dem Zweck und der Entstehungsgeschichte der Übergangsregelung des Art 17 Abs 1 Satz 2 des 6. SGGÄndG (vgl BSG, Urteil vom 28.7.2008 - B 1 KR 5/08 R -, SozR 4-2500 § 109 Nr 6 RdNr 56, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen) . Zwar kam nach § 193 Abs 4 Satz 2 SGG aF in den in § 116 Abs 2 Satz 1 Nr 1 und 4 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (aF) genannten Verfahren eine Erstattungsfähigkeit von Aufwendungen von Körperschaften des öffentlichen Rechts bei deren Beteiligung als Kläger in Betracht, soweit es sich um Streitigkeiten in Angelegenheiten nach dem SGB V handelte. Jedoch ist vorliegend keine solche Streitigkeit in Angelegenheiten nach dem SGB V gegeben. Dies ergibt sich schon daraus, dass der hier streitige Anspruch auf Schadensersatz aus dem privatrechtlichen Anstellungsverhältnis eines hauptamtlichen Vorstandes einer KK an sich in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit fällt (vgl BGHZ 94, 18, 22; Ulmer in: Hennig, SGG, Stand Februar 2009, § 51 RdNr 51; von Einem, NJW 1987, 112, 117) ; lediglich kraft der erfolgten bindenden Verweisung an die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hat sich hier eine abweichende Zuständigkeit ergeben.
Fundstellen