Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 11.04.1956) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 11. April. 1956 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Der Ehemann der Klägerin, der in Flensburg als Maurer auf einer Baustelle in der Westerallee tätig war, wurde am Sonnabend, dem 16. April 1955, nach 13.00 Uhr in der Friesischen Straße von einem Kraftwagen angefahren, als er sich mit dem Fahrrad auf dem Weg zu seiner Wohnung befand. Er ist noch an demselben Tag an den Folgen dieses Verkehrsunfalls gestorben.
Mit Bescheid vom 13. Juli 1955, der an die Klägerin und an die Allgemeine Ortskrankenkasse Flensburg gerichtet ist, lehnte die Beklagte den Anspruch auf Hinterbliebenenrente ab. Zur Begründung führte sie aus, der Ehemann der Klägerin habe die Arbeitsstätte um 11.35 Uhr verlassen: und sei zu den üblichen Besorgungen in der entgegengesetzten Richtung zum Schlachter Passe und dem Bäcker T. gefahren. Während dieser Unterbrechung sei der Weg unversichert, denn der Abweg sei durch die privaten Einkäufe veranlaßt worden. Der Unfall habe sich: ereignet, bevor der Abweg beendet und der direkte Heimweg wieder erreicht worden sei. Im übrigen sei auch durch die mehr einstündige eigenwirtschaftliche Tätigkeit eine endgültige Lösung vom Betrieb eingetreten.
Auf die Klage der Klägerin hat das Sozialgericht (SG.), Schleswig durch Urteil vom 17. November 1955 die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu gewähren. Zur Begründung hat das SG. ausgeführt; Der kürzeste Weg von der Arbeitsstelle in der Westerallee führe durch die Friedhofstraße, Mühlenstraße, Marienallee und Friesische Straße. Der Unfall habe sich aber auf der Friesischen Straße an einer Stelle ereignet, als der Ehemann der Klägerin sich wieder auf dem direkten Heimweg befunden habe. Die Verbindung zwischen der Friesischen Straße und der Arbeitsstätte, welche die Beklagte als den kürzesten Weg ansehe, komme nicht in Betracht, weil es sich hierbei nicht um öffentliche Wege handele. Durch die Unterbrechung des Heimwegs zum Zwecke der Besorgungen sei keine endgültige Lösung eingetreten.
Die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil hat das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig durch Urteil vom 11. April 1956 zurückgewiesen.
Zur Begründung hat das LSG. ausgeführt: Der Vorderrichter sei zwar irrtümlich davon ausgegangen, daß die Verbindungswege zwischen dem Wittenberger Weg und der Friesischen Strasse und zwischen der Westerallee und dem Wittenberger Weg keine öffentlichen Wege seien. Auch der Zustand beider Wege weise: keine Hindernisse auf, die eine Benutzung für einen Radfahrer beschwerlich machen. Der von der Beklagten als Heimweg: angesehene Weg sei nach den vom Senat getroffenen Feststellungen tatsächlich die kürzeste Verbindung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung. Der Versicherte sei jedoch nicht zur Benutzung einer bestimmten Wegstrecke verpflichtet, wenn er die Möglichkeit habe, neben diesen zwar kürzesten, aber zweifellos schlechterem Wegen einen nur geringfügig weiteren, dafür aber besseren Weg für die Heimfahrt zu benutzen. Die Wahl zwischen zwei möglichen Wegen bleibe dem freien Willen des Versicherten überlassen. Im vorliegenden falle führe der weitere Weg über Friedhofstraße und Marienallee über normal ausgebaute, zum Teil mit einer Schwarzdecke versehene Straßen, wahrend es sieh bei der von der Beklagten als Heimweg bezeichneten Strecke um ausgesprochene Nebenwege handele, die zum Teil durch Schrebergartenanlagen und Felder führten. Die Differenz von 1,4 km zwischen den beiden Strecken werde nach Ansicht, des Senats durch den unterschiedlichen Zustand der Wege ausgeglichen. Da der Verstorbene für den Heimweg sowohl die kürzere als auch die weitere Wegstrecke habe benutzen können, liege die Unfallstelle im Bereich des nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherten Weges von der Arbeitsstätte. Der Zusammenhang des Weges mit der versicherten Tätigkeit sei auch nicht durch die eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten des Verstorbenen endgültig gelöst worden. Für die Dauer des Umwegs zum Zwecke des Einkaufs habe zwar kein Versicherungsschutz bestanden. Dieser habe aber an dem Punkt wieder eingesetzt, an dem der Versicherte seinen eigentlichen Heimweg erreicht habe. Das sei in der Einmündung der Marienallee in die Friesische Straße gewesen. Die Unterbrechung habe eine Zeitspanne von 1 1/2 Stunden in Anspruch genommen, wobei davon ausgegangen werden könne, daß der Verstorbene die Arbeitsstelle um 11.35 Uhr verlassen habe. Diese Zeitspanne sei nicht übermäßig lang, wenn berücksichtigt werde, daß der Verstorbene, um zu dem Fleischer Fasse der Burgstraße zu gelangen, einen erheblichen Anfahrtweg durch die verkehrsreichsten Straßen von Flensburg zurücklegen mußte, und auch der Rückweg zur Friesischen Strasse durch die Hauptstraße von Flensburg führt. Auch sei es Sonnabend gewesen, also ein Tag, an dem die Geschäfte sehr stark in Anspruch genommen seien, so daß sich bestimmte Wartezeiten ergeben. Auch an sich sei ein Zeitraum von 1 1/2 Stunden nicht übermäßig lang. Entscheidend sei, daß der Verstorbene seine Einkäufe nur gelegentlich der Rückkehr von seiner Arbeitsstelle erledigt habe. Er habe auch sicherlich nicht die Absicht gehabt, durch den Umweg den Heimweg auf zugeben. Ziel des gesamten Weges sei die Wohnung geblieben.
Die Revision ist vom LSG. zugelassen worden.
Gegen dieses Urteil, das der Beklagten am 15. September; 1956 zugestellt worden ist, hat die Beklagte mit einem am 6. Oktober 1956 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und sie zugleich auch begründet.
Sie beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG. Schleswig die Klage abzuweisen, hilfsweise beantragt sie, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an die Vorinstanzen zurückzuverweisen.
Die Revision bringt folgende Verfahrensrügen vor: Die Beklagte habe niemals die Benutzung einer bestimmten Wegstrecke vorschreiben wollen. Mit ihrem Vorbringen habe sie lediglich dartun wollen, daß der Verunglückte seinen ständigen Heimweg noch nicht wieder erreicht habe. Das habe das LSG. verkannt. Es sei auch nicht richtig, daß es sich bei dem von LSG. als den normal angesehenen Weg um nur einen geringfügig weiteren Weg handele, denn bei der Differenz von 492 km zu 298 km handele es sich um eine Verlängerung um genau die Hälfte. Insoweit liege ein Verstoß gegen die Logik vor. Das LSG. habe auch den unterschiedlichen Zustand der Wege nicht derart berücksichtigen dürfen, nachdem es selbst festgestellt habe, daß der Zustand der beiden kürzeren Wege keine Hindernisse aufweise, die ihre Benutzung für einen Radfahrer beschwerlich mach. Das LSG. habe auch den Akteninhalt nicht genügend gewürdigt, sonst hätte es darauf kommen müssen, daß nur die für den kürzeren Weg zu errechnende Stundengeschwindigkeit von 11,2 km der üblichen Geschwindigkeit eines Radfahrers im Alter von 58 Jahren entspreche, während die Geschwindigkeit von 16,8 km für einen 58-jährigen Mann geradezu unwahrscheinlich sei. Das LSG. hätte auch berücksichtigen müssen, daß ein Radfahrer in der Regel denselben Hin- und Rückweg zu benutzen pflegt. Dann wäre es zu dem Ergebnis gekommen, daß der Verunglückte durch die Benutzung der längeren Wegstrecke etwas unübliches getan hätte.
Materiell-rechtlich habe das LSG. den Wegebegriff verkannt. Dabei handele es sich nicht um eine räumliche Strecke, sondern um eine Bewegungsform, nämlich das Sichfortbewegen. Angesichts des Umstands, daß auch nach den Feststellungen des LSG. der gewöhnliche Heimweg von 15 Minuten auf 90 Minuten verlängert worden sei, könne man nicht sagen, daß der Zeitraum der Unterbrechung nicht übermäßig lang sei. Es sei eine endgültige Lösung eingetreten.
In formeller Hinsicht sei zu berücksichtigen, daß der angefochtene Bescheid vom 13. Juli 1955 sich an die Klägerin nicht allein in ihrer Eigenschaft als Witwe richte, sondern zugleich auch als Mutter der minderjährigen Tochter Traute Mathilde Norgall (geb. 20.9.1938). Es werde deshalb angeregt, daß der Senat das Rubrum insoweit berichtige.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden und durch Zulassung statthaft. Sie ist also zulässig; jedoch ist sie nicht begründet.
Die Rüge der Revision, das LSG. habe übersehen, daß sich, wenn man von den Angaben der Klägerin ausgehe, ihr Ehemann habe für den: Weg zu der Wohnung und zu der Arbeitsstätte 15 Minuten benötigt, für die Zurücklegung des weiteren Weges durch die Marienallee eine beim Alter des Verunglückten viel zu hohe Fahrgeschwindigkeit von 16,8 Stundenkilometer ergebe, ist unschlüssig. Das LSG. hat nicht festgestellt, daß der Ehemann der Klägerin regelmäßig, d. h. also auch am Morgen des Unfalltages den weiteren Weg benutzt habe, so daß schon aus diesem Grunde die Berechnungen über die Fahrgeschwindigkeit keine Grundlage haben. Im übrigen würde aber auch eine Fahrgeschwindigkeit von 16,8 Stundenkilometern beim Zurücklegen einer Fahrstrecke von nur 4,2 km für einen 58-jährigen Radfahrer, der sich in einem normalen Gesundheitszustand befindet, keineswegs zu hoch sein. Die Beklagte hat: selbst nicht vorgebracht, daß der Ehemann der Klägerin, der noch auf dem Bau als Maurer tätig gewesen ist, in seiner körperlichen Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt gewesen sei. Im übrigen hat das LSG. die Berechnungen der Beklagten hinsichtlich der Fahrgeschwindigkeit im Tatbestand des Urteils ausdrücklich wiedergegeben und aus diesen Berechnungen auch in die Entscheidungsgründe des Urteils den Unterschied zwischen den beiden Wegen in Höhe von 1,4 km übernommen. Es besteht deshalb kein Anhalt, daß das LSG. diese Umstände bei seiner Urteilsfindung nicht berücksichtigt hätte, Nach den Feststellungen des LSG. wies der kürzere Weg zwar keine Hindernisse auf, die seine Benutzung für einen Radfahrer beschwerlich gemacht hätten, das LSG. hat jedoch festgestellt, daß es sich bei dem weiteren Weg um die bessere Wegstrecke handele. Das LSG. hat auch weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens verstoßen, indem es zu der Ansicht gelangt ist, daß der Unterschied von 1,4 km für einen Radfahrer durch den nach seinen Feststellungen besseren Zustand der weiteren Strecke ausgeglichen werde.
Der Versicherungsschutz für einen Weg von der Arbeitstätte im Sinne des § 543 RVO ist nicht auf die kürzeste Verbindung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung beschränkt. Vielmehr ist der Versicherte, wie auch die Beklagte selbst nicht in Abrede stellt, nicht nur in der Wahl der Verkehrsmittel, sondern auch in der Wahl des Weges grundsätzlich frei. Die Wahl eines weiteren Weges stellt den Versicherungsschutz nur dann in Frage wenn für diese Wahl andere Gründe maß gebend waren als die Absicht, die Wohnung zu erreichen, und die dadurch bedingte Verlängerung der Wegstrecke unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände als erheblich anzusehen ist (vgl. hierzu BSG. 4 S. 219 [222]). Das hat das LSG. jedoch ohne Rechtsirrtum für die durch die Benutzung des besseren Weges veranlasste Verlängerung von 1,4 km für den mit dem Fahrrad zurückgelegten Heimweg verneint.
Die Revision verkennt auch, daß es nicht darauf ankommt, ob der Verunglückte auch am Unfalltage ohne die Besorgungen über die Friedhofstraße und die Mühlenstraße und dann entweder durch die Marienallee oder Mathildenstraße nach Hause gefahren wäre. Entscheidend ist vielmehr, daß er diesen weiteren Weg für den Heimweg wählen konnte, ohne daß dadurch der Versicherungsschutz in Frage gestellt worden wäre. Das LSG. ist infolgedessen ohne Rechtsirrtum davon ausgegangen, daß der Ehemann der Klägerin sich im Zeitpunkt des Unfalls auf einer Wegstrecke befand, die er für den unter Versicherungsschutz stehenden Heimweg von der Arbeitsstätte zur Wohnung benutzen konnte.
Im Zeitpunkt des Unfalls befand sich der Ehemann der Klägerin nach den Feststellungen des LSG., die insoweit von der Revision nicht angegriffen sind, auch wieder unmittelbar nach seiner Wohnung unterwegs. Allerdings stand dieser: Heimweg zur Wohnung nicht nur mit der vorangegangenen versicherten Arbeitstätigkeit in ursächlicher Beziehung, er ist vielmehr auch deshalb notwendig geworden, weil der Kläger nicht unerhebliche Zeit Einkäufe für seine Familie, d. h. den unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnende Tätigkeiten vorgenommen hatte. Das Fortbestehen des Versicherungsschutzes auf den restlichen Heimweg hängt also davon ab, ob die ursächliche Beziehung zu der versicherten; Arbeitstätigkeit durch die inzwischen ausgeübten unversicherten Tätigkeiten so unwesentlich geworden war, daß Sie rechtlich nicht mehr beachtlich ist. Das hat das LSG. jedoch unter den vorliegenden Umständen trotz der für die Einkäufe benötigten Zeit ohne Rechtsirrtum verneinte.
Das LSG. hat deshalb die Berufung der Beklagten mit Recht zurückgewiesen, so daß die Revision als unbegründet zurückzuweisen war.
Die von der Beklagten angeregte „Berichtigung” der Parteibezeichnung ist nicht möglich. Der Bescheid der Beklagten vom 13. Juli 1955 ist ausschließlich an die Klägerin selbst gerichtet, und auch sein Wortlaut läßt nicht erkennen, daß durch ihn zugleich auch über den Hinterbliebenenrentenanspruch der damals noch minderjährigen Tochter der Klägerin entschieden werden sollte. Auch die Klage gegen diesen Bescheid ist ohne einen Hinweis darauf erhoben worden, daß die Klägerin zugleich auch die Ansprüche ihrer Tochter geltend machen wolle. Die Klägerin hat vielmehr in der Klageschrift vom 15. August 1955 ausdrücklich nur beantragt, die Beklagte dazu zu verurteilen, daß sie an die Klägerin eine Witwenrente zahlt. Infolgedessen ist auch nur der Anspruch der Klägerin Gegenstand des Verfahrens geworden. In der Revisionsinstanz kann hieran nichts mehr geändert werden (vgl. § 168 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht auf Grund von § 193 SGG.
Unterschriften
Brackmann, Bundesrichter Hunger ist infolge Urlaubs verhindert, das Urteil zu unterschreiben. Brackmann, Demiani
Fundstellen