Entscheidungsstichwort (Thema)
Behinderte - Bummelzeiten - keine Beiträge nach Mindestentgelten
Leitsatz (redaktionell)
Für kranken- und rentenversicherte Behinderte (SVBehindertenG idF bis 31.12.1988) waren für unbezahlte Fehlzeiten keine Beiträge nach Mindestentgelten zu entrichten.
Normenkette
SVBehindertenG Art. 1 § 3 Abs. 1 Fassung 1975-05-07; RVO § 311 S. 1 Nr. 1 Fassung 1974-08-07; SVBehindertenG Art. 1 § 4 Fassung 1975-05-07, § 1 Abs. 1 Fassung 1975-05-07, § 8 Fassung 1983-12-22
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob nach dem Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter in geschützten Einrichtungen (SVBG) bei der Berechnung von Pflichtbeiträgen zur Kranken- und zur Rentenversicherung Mindestentgelte auch für solche Tage zugrunde zu legen sind, für die die Behinderten kein Arbeitsentgelt erhalten haben (unbezahlte Fehltage).
Der Behinderte P. (P.) war im Jahr 1982 in einer von der Klägerin betriebenen Werkstatt für Behinderte beschäftigt und nach dem SVBG in der Kranken- und in der Arbeiterrentenversicherung versichert. Sein Arbeitsentgelt blieb hinter den im SVBG festgesetzten Mindestentgelten zurück. Nach Feststellung des Landessozialgerichts (LSG) erhielt er während der Fehltage vom 9. bis 13. August 1982 kein Arbeitsentgelt. Die Klägerin führte deswegen für den entsprechenden Lohnabrechnungszeitraum (August 1982) nur für 26 Tage Beiträge zur Krankenversicherung und zur Arbeiterrentenversicherung an die beklagte Krankenkasse ab. Mit Bescheid vom 7. Oktober 1982 verlangte die Beklagte auch für die Fehltage Beiträge nach den Mindestentgelten; da für diese Tage die Versicherung fortbestanden habe, seien sie auch beitragspflichtig. Der Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.
Das Sozialgericht (SG) hat P., die Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz und die Bundesanstalt für Arbeit zum Rechtsstreit beigeladen; es hat die Klage abgewiesen. Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen: Zwar schließe der Wortlaut des SVBG eine Bemessung der Beiträge nur nach den tatsächlich entlohnten Tagen nicht aus. Dies würde aber dem Gesetzeszweck, Behinderte sozialversicherungsrechtlich möglichst weitgehend anderen Arbeitnehmern anzugleichen und sie gesellschaftlich so umfassend wie möglich zu integrieren, "nicht in der optimalen Weise gerecht". Das Sozialversicherungsverhältnis Behinderter werde durch einzelne Bummel- oder unbezahlte Urlaubstage nicht unterbrochen. Anknüpfungspunkt für die Beiträge sei aber grundsätzlich jeder Tag der Versicherung. Klammere man trotzdem die Fehltage aus, so komme dies eher einer Unterbrechung der Versicherung gleich als einer Kürzung der Beiträge aufgrund geringeren Arbeitsverdienstes, wie sie bei unbezahlten Fehltagen von Nichtbehinderten stattfinde. Mehr noch als diese rechtssystematischen Überlegungen verbiete der Schutzzweck des SVBG, Mindestentgelte nur bei einer durchgehenden tatsächlichen Beschäftigung der Behinderten zugrunde zu legen; bei ihnen reiche die Erbringung von Leistungen in gewisser Regelmäßigkeit aus, wie sich aus § 2 Abs 2 SVBG ergebe. Auch seien die behinderungsbedingten von den sonstigen Fehlzeiten praktisch kaum zu trennen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung der §§ 4 und 8 SVBG. Weder der Gesetzeswortlaut noch die Gesetzesmotive rechtfertigten eine Berechnung von Beiträgen nach den §§ 4 und 8 SVBG auch für sog Bummelzeiten oder unbezahlte Urlaubstage. Zwar gelte § 311 Satz 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO), wonach die Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger während unbezahlter Fehlzeiten erhalten bleibe, auch für Behinderte. Dies schließe aber die Kürzung von Beiträgen für Fehlzeiten ebensowenig aus wie bei nichtbehinderten Versicherten. Der Schutzzweck des SVBG beschränke sich auf den Ausgleich behinderungsbedingter Minderverdienste. Es bestehe keine Veranlassung, Behinderte bei Unterbrechungstatbeständen besser zu behandeln als nichtbehinderte Arbeitnehmer. Die Abgrenzung zwischen behinderungs- und nichtbehinderungsbedingten Fehlzeiten mache, zumal bei körperlich Behinderten und bei unbezahltem Urlaub, keine Schwierigkeiten.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom
19. März 1987 und das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 26. August 1985
sowie den Bescheid der Beklagten vom 7. Oktober 1982 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 7. September 1983 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend. Nach dem Schutzzweck des SVBG müßten sich insbesondere die zur gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichtenden Beiträge und die daraus abzuleitenden Rentenansprüche der Behinderten nach dem in § 8 SVBG festgelegten Mindestentgelt richten. Die Beitragsfreiheit von Fehlzeiten wegen Arbeitsunterbrechung sei im übrigen für die Krankenversicherung in § 383 RVO abschließend geregelt.
Die Beigeladenen haben keine Sachanträge gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Entgegen der Ansicht des LSG waren für den Beigeladenen P. während der fraglichen Zeit (9. bis 13. August 1982) keine Beiträge zur Kranken- und zur Rentenversicherung nach Mindestentgelten (§§ 4 und 8 SVBG) zu entrichten.
Nach § 3 Abs 1 SVBG - in der Fassung, die bis zum Inkrafttreten des Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) am 1. Januar 1989 galt und hier noch anzuwenden ist - fanden auf die Versicherung nach dem SVBG die Vorschriften für die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung Anwendung, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmte. Dabei standen die nach den §§ 1 und 2 SVBG Versicherten den auf Grund einer entgeltlichen Beschäftigung Versicherten gleich.
Für die auf Grund einer entgeltlichen Beschäftigung versicherten nichtbehinderten Arbeitnehmer galt in der Krankenversicherung bis Ende 1988 § 311 Satz 1 Nr 1 RVO. Danach blieb die Kassenmitgliedschaft erhalten, solange das Arbeitsverhältnis ohne Entgeltzahlung fortbestand, längstens jedoch für drei Wochen (ähnlich jetzt § 192 Abs 1 Nr 1 SGB V). Hiernach blieben auch Arbeitnehmer, die unbezahlten Urlaub nahmen oder die ohne Urlaub fehlten, solange ihnen nicht gekündigt war, bis zu drei Wochen weiter Kassenmitglieder; sie behielten deshalb auch bei Versicherungsfällen, die erst während dieser drei Wochen eintraten, für sich und ihre mitversicherten Familienangehörigen die Leistungsansprüche der Krankenversicherung. Da sie jedoch kein Arbeitsentgelt erhielten, aus dem die auf sie entfallenden Beitragsanteile zur Krankenversicherung hätten entnommen werden können - eine vom Entgeltbezug unabhängige Beitragspflicht bestand weder für sie noch für ihre Arbeitgeber (anders zB § 381 Abs 5 RVO für Schwangere, deren Mitgliedschaft nach § 311 Satz 2 RVO erhalten blieb) -, waren sie - jedenfalls im Ergebnis - während einer nach § 311 Satz 1 Nr 1 RVO fortbestehenden Kassenmitgliedschaft beitragsfrei (KassKomm-Peters § 192 SGB V RdNr 22 mwN auch zum früheren Recht). Dies galt, auch ohne daß es, wie in § 311 Satz 1 Nr 2 iVm § 383 RVO, ausdrücklich im Gesetz geregelt war.
Für die nach dem SVBG versicherten behinderten Beschäftigten bestimmte das SVBG insoweit "nichts Abweichendes" (§ 3 Abs 1 Satz 1 SVBG), insbesondere nicht in § 4. Nach dieser Vorschrift, die vom GRG gestrichen und durch eine inhaltlich entsprechende Regelung ersetzt worden ist (§ 235 Abs 3 SGB V), war bei Behinderten, die, wie der Beigeladene P., nach § 1 SVBG krankenversichert waren, der Berechnung der Beiträge als Arbeitsentgelt mindestens ein Betrag in Höhe von 20 vH des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller Versicherten der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten ohne Lehrlinge und Anlernlinge im vorvergangenen Kalenderjahr zugrunde zu legen; das Mindestentgelt betrug für den Kalendermonat ein Zwölftel und für den Kalendertag ein Dreihundertsechzigstel dieses Betrages. Im Jahre 1982 belief es sich auf jährlich 5.897 DM, monatlich auf 491,42 DM und kalendertäglich auf 16,38 DM. Daß diese Mindestentgelte auch für unbezahlte Fehlzeiten zugrunde zu legen und dann davon Beiträge zu entrichten waren, bestimmte das SVBG nicht. Deshalb waren für solche Zeiten auch bei behinderten Versicherten nach der Gleichstellungsvorschrift in § 3 Abs 1 SVBG weder Mindestentgelte zugrunde zu legen noch Beiträge zu entrichten.
Die Gründe, die das LSG für seine abweichende Auffassung angeführt hat, überzeugen den Senat nicht. Nicht klar ist zunächst, warum rechtssystematische Überlegungen es erfordert haben sollen, bei behinderten Beschäftigten anders als bei nichtbehinderten auch unbezahlte Fehlzeiten bei der Beitragsberechnung zu berücksichtigen. Wenn nach früherem Recht bei nichtbehinderten Versicherten eine unbezahlte Fehlzeit zu einer Minderung des auf den einzelnen Kalendertag entfallenden Arbeitsentgelts und damit zu einer entsprechenden Minderung des für die Beitragsberechnung maßgebenden Grundlohnes führte (§ 180 Abs 1 Satz 2 iVm § 385 Abs 1 Satz 1 RVO), ist nicht ersichtlich, warum das gleiche nicht auch bei behinderten Versicherten galt.
Auch der Zweck des § 4 SVBG, soweit er für den Senat erkennbar ist, spricht nicht für die Auffassung des LSG. Dieser beschränkte sich darauf, die von den Behinderten während der Beschäftigung erzielten und wegen ihrer Behinderung in der Regel sehr geringen Verdienste soweit anzuheben, daß die davon berechneten Beiträge eine für die Versichertengemeinschaft und die von ihr zu gewährenden Leistungen ausreichende Höhe erreichten und, soweit die Leistungen von der Höhe der Beiträge abhingen, auch für die Behinderten selbst ein angemessenes Leistungsniveau garantierten. § 4 SVBG bezweckte mithin lediglich einen gewissen Ausgleich für behinderungsbedingte Minderverdienste. Nicht sollte er dagegen von der Behinderung unabhängige, insbesondere durch unbezahlte Fehlzeiten entstandene Entgelt- und Beitragslücken schließen, also eine ununterbrochene Beschäftigung fingieren.
Nicht folgen kann der Senat schließlich dem LSG darin, daß es praktisch kaum durchführbar sei, zwischen behinderungsbedingten Fehlzeiten und echten "Bummelzeiten" zu unterscheiden. Keine Schwierigkeiten bereitet die Unterscheidung zunächst dann, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, um einen unbezahlten Urlaub handelt, den der Behinderte aus nichtbehinderungsbedingten Gründen erhalten hat. Aber auch dann, wenn er ohne Urlaub der Arbeit ferngeblieben ist, werden sich die Gründe dafür meist klären lassen. Sollte dies ausnahmsweise nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich sein, könnte es sich je nach den Umständen des Falles rechtfertigen, zugunsten des Behinderten einen behinderungsbedingten Grund für sein Fehlen zu unterstellen.
Was hiernach bis Ende 1988 für die Berechnung der Krankenversicherungsbeiträge der nach § 1 SVBG versicherten Behinderten galt, soweit in den Berechnungszeitraum unbezahlte Fehlzeiten fielen, galt auch für die Rentenversicherungsbeiträge. Auch insoweit waren deshalb für die Fehlzeiten Mindestentgelte nach § 8 SVBG nicht anzusetzen. Daß die Beitragsverluste, die sich daraus für die Betroffenen ergaben, zu entsprechenden Leistungsminderungen bei Eintritt eines Versicherungsfalles führen konnten, war systemgerecht und entgegen der Ansicht des LSG auch nicht unbillig.
Auf die Revision der Klägerin hat der Senat somit alle Vorentscheidungen aufgehoben und über die Kosten nach § 193 Sozialgerichtsgesetz entschieden.
Fundstellen
Haufe-Index 60317 |
BSGE 67, 43-46 (LT1) |
BSGE, 43 |
RegNr, 19434 (BSG-Intern) |
BR/Meuer SVBG § 4, 10-05-90, 12 RK 38/87 (LT1) |
USK, 9028 (LT1) |
VdKMitt 1990, Nr 10, 28-29 (T) |
Die Beiträge 1991, 34-37 (LT1) |
RsDE Nr 18, 65-68 (1992) (LT1) |
SozR 3-5085 § 4, Nr 1 (LT1) |
br 1992, 18-19 (LT1) |