Beteiligte
Kaufmännische Krankenkasse – KKH |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. August 1999 und des Sozialgerichts Köln vom 11. Mai 1999 abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beklagte wendet sich gegen ihre Verurteilung durch das Landessozialgericht (LSG), die Klägerin mit einem sog Rollstuhl-Bike (Hand-Bike, handbetriebenes Rollstuhleinhängefahrrad) als Hilfsmittel zu versorgen.
Die Klägerin ist im Jahre 1962 geboren und bei der beklagten Krankenkasse versichert. Sie leidet an einer Querschnittslähmung (mit kompletter Bewegungsunfähigkeit beider Beine, Mastdarm- und Blasenstörung sowie erheblicher Wirbelsäulenverkrümmung). Im Herbst 1996 stellte die Klägerin einen Antrag auf Hilfsmittelversorgung und reichte dazu eine vertragsärztliche Verordnung sowie einen Kostenvoranschlag für ein Rollstuhl-Bike „zum vorhandenen Rollstuhl” ein; dabei handelt es sich um eine Handkurbel mit zwei Griffen, die im vorderen Teil des Rollstuhls in Brusthöhe angebracht wird und mit deren Hilfe der Rollstuhl in der Regel einfacher und schneller bewegt werden kann als mit Greifreifen oder Handhebeln. Zwei von der Beklagten eingeholte Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) führten aus, die Klägerin sei mit einem Rollstuhl und einem behindertengerecht umgerüsteten PKW ausreichend versorgt; das Rollstuhl-Bike biete keinen zusätzlichen Behinderungsausgleich. Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin ab (Bescheid vom 27. Januar 1997 und Widerspruchsbescheid vom 6. Oktober 1997).
Das Sozialgericht hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 11. Mai 1999), das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 31. August 1999). Das LSG hat ausgeführt, das durch das Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung zu befriedigende „lebensnotwendige Grundbedürfnis” sei hier der „hinreichende körperliche Freiraum”, wobei der Maßstab eines Gesunden anzulegen sei. Dieses Grundbedürfnis könne durch das Rollstuhl-Bike erheblich besser befriedigt werden als durch den von der Beklagten – mit Rücksicht auf die Wirbelsäulenschäden – angebotenen Handhebelrollstuhl; in der hügeligen Gegend, in der die Klägerin wohne, würde ihre Kraft weder für einen Handhebel- noch für einen Greifreifen-Rollstuhl ausreichen. Ein behindertengerecht ausgestattetes Auto biete nicht die „audio-visuellen und kommunikativen” Möglichkeiten eines Rollstuhl-Bikes und schaffe unüberwindbare Hindernisse bei den alltäglichen Erledigungen. Allerdings habe die Klägerin wegen der Fahrrad-Funktion des Rollstuhl-Bikes einen Eigenanteil von 700 DM zu tragen.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 33 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Durch einen Greifreifen-Rollstuhl, einen entsprechenden Faltrollstuhl sowie einen behindertengerecht umgerüsteten PKW sei die Klägerin ausreichend versorgt und dem Grundbedürfnis auf körperlichen Freiraum genügend Rechnung getragen. Besonderheiten des Wohnortes seien unmaßgeblich.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. August 1999 sowie des Sozialgerichts Köln vom 11. Mai 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Versorgung mit einem Rollstuhl-Bike.
Der Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einem Rollstuhl-Bike ergibt sich nicht bereits aus der nach den Feststellungen des LSG vorliegenden vertragsärztlichen Verordnung vom 12. September 1996 (vgl Urteil des 8. Senats des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 29. September 1997 – 8 RKn 27/96 – SozR 3-2500 § 33 Nr 25). Dies folgt schon daraus, daß nach § 275 Abs 3 Nr 2 SGB V die Krankenkassen vor Bewilligung eines Hilfsmittels in geeigneten Fällen durch den MDK prüfen lassen können, ob das Hilfsmittel erforderlich ist.
Der Anspruch scheitert nicht schon daran, daß das Rollstuhl-Bike die Funktion eines Fahrrads ausfüllt und Fahrräder zu den allgemeinen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens gehören. Versicherte haben im Rahmen der Krankenbehandlung (vgl § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V) ua Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit es sich nicht um allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handelt (§ 33 Abs 1 Satz 1 SGB V). Das Rollstuhl-Bike ist kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Darunter fallen nur Gegenstände, die allgemein im täglichen Leben verwendet werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 5; SozR 2200 § 182b Nr 6). Geräte, die für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt und hergestellt worden sind und von diesem Personenkreis ausschließlich oder ganz überwiegend benutzt werden, sind nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen. Dies gilt selbst dann, wenn sie millionenfach verbreitet sind (zB Brillen, Hörgeräte). Die Frage, ob ein Mittel als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens einzustufen ist, stellt sich für einen Gegenstand, der von der Konzeption her vorwiegend für Kranke oder Behinderte gedacht ist, erst dann, wenn er in nennenswertem Umfang auch von gesunden Menschen benutzt wird (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 19). Das Rollstuhl-Bike kann bauartbedingt nur in der Kombination mit einem Rollstuhl genutzt werden. Es kommt damit für Gesunde nicht in Betracht (so bereits BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27).
Der Anspruch der Klägerin ist aber ausgeschlossen, weil ein Rollstuhl-Bike für Erwachsene kein Hilfsmittel iS des § 33 SGB V ist (vgl bereits Urteil des Senats vom 16. September 1999, B 3 KR 8/98 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 31). Das Gesetz definiert sächliche Mittel nur dann als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn sie „im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen” (§ 33 Abs 1 Satz 1 SGB V). Ein Hilfsmittel ist nach der Rechtsprechung (BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn 3 und 5) bei der zweiten Alternative im vorgenannten Sinne nur dann „erforderlich”, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Dazu gehören zum einen die körperlichen Grundfunktionen (Gehen, Stehen, Treppensteigen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung) und zum anderen die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, der auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfaßt. Maßstab ist stets der gesunde Mensch, zu dessen Grundbedürfnissen der kranke oder behinderte Mensch durch die medizinische Rehabilitation und mit Hilfe des von der Krankenkasse gelieferten Hilfsmittels wieder aufschließen soll (vgl BSGE 66, 245, 246 = SozR 3-2500 § 33 Nr 1; BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn 7, 13 und 16 sowie die Rechtsprechung zur Reichsversicherungsordnung: BSG SozR 2200 § 182b Nrn 29, 34 und 37).
Nach diesen Abgrenzungskriterien ist ein Rollstuhl-Bike für Personen im Erwachsenenalter kein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung. Nur bei Kindern und Jugendlichen kann das Rollstuhl-Bike als „Hilfsmittel” iS des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V eingestuft werden; der Versorgungsanspruch hängt insoweit von den Umständen des Einzelfalls ab (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27). Die Unterscheidung beruht darauf, daß die bisherige Rechtsprechung, an der festzuhalten ist, auch das Grundbedürfnis der Erschließung „eines gewissen körperlichen Freiraums” nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten des Gesunden verstanden hat. So hat der Senat in seiner Entscheidung vom 8. Juni 1994 – 3/1 RK 13/93 – (SozR 3-2500 § 33 Nr 7 ≪Rollstuhlboy≫) zwar die „Bewegungsfreiheit” als Grundbedürfnis bejaht, dabei aber lediglich auf diejenigen Entfernungen abgestellt, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklegt. Soweit überhaupt die Frage eines größeren Radius über das zu Fuß Erreichbare hinaus aufgeworfen worden ist, sind zusätzliche qualitative Momente verlangt worden. In seiner Entscheidung vom 16. April 1998 – B 3 KR 9/97 R – (SozR 3-2500 § 33 Nr 27) zum Rollstuhl-Bike für Jugendliche hat der Senat zwar auch Entfernungen berücksichtigt, die ein Jugendlicher mit dem Fahrrad zurücklegt. Das Hilfsmittel ist aber nicht wegen dieser Erweiterung des Freiraums, sondern nur wegen der dadurch geförderten Einbeziehung des behinderten Klägers in den Kreis der – laufenden und Fahrrad fahrenden – gleichaltrigen Jugendlichen (soziale Integration in der jugendlichen Entwicklungsphase) zugesprochen worden. Ebenso war schon in der Entscheidung vom 2. August 1979 – 11 RK 7/78 – (SozR 2200 § 182b Nr 13 ≪Faltrollstuhl≫) nicht die angesprochene „Fortbewegung auch in Orten außerhalb seines Wohnortes”, sondern die Ermöglichung des Schulbesuchs der maßgebliche Gesichtspunkt gewesen (vgl auch BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 22 zum Anspruch eines Schülers auf Ausstattung mit einem Computer).
Der so umgrenzte Basisausgleich der – im Verlust der Gehfähigkeit bestehenden – Behinderung ist durch die Versorgung der Klägerin mit dem handbetriebenen Rollstuhl in ausreichender Weise erfolgt. Zum Grundbedürfnis gehbehinderter Menschen auf Erschließung bzw Sicherung „eines gewissen körperlichen Freiraums” zählt nicht das Zurücklegen längerer Wegstrecken vergleichbar einem Radfahrer, Jogger oder Wanderer.
Das Radfahren gehört zwar in breiten Bevölkerungsschichten zum normalen Lebensstandard; existenznotwendig war und ist der Besitz eines Fahrrads hingegen nicht. Wenn es die Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist, dem durch eine Krankheit oder Behinderung beeinträchtigten Menschen die eigenständige und unabhängige Erfüllung seiner vitalen Lebensbedürfnisse zu ermöglichen, kann ihre Leistungspflicht nicht an den üblichen Besitz eines Fahrrads anknüpfen und dazu führen, es für den Behinderten nutzbar zu machen oder – wie hier – eine dem Radfahren vergleichbare Fortbewegungsmöglichkeit mit dem Rollstuhl zu eröffnen. Die grundlegenden Organfunktionen der Beine, um deren Ausfall es hier allein geht, sind das Gehen und Stehen. Diese Funktionen sind bei Gehbehinderten im Rahmen des technisch Machbaren und wirtschaftlich Vertretbaren, ua durch Hilfsmittel, ganz oder teilweise herzustellen oder zu ersetzen, nicht hingegen die Fähigkeit, mittels der Beine ein schnelleres und bequemeres Fortbewegungsmittel zu betreiben (so bereits Urteil vom 6. August 1998 – B 3 KR 3/97 R – SozR 3-2500 § 33 Nr 29 zur behindertengerechten Umrüstung eines Kfz). Die Möglichkeit, sich als Rollstuhlfahrer mit Hilfe des Rollstuhl-Bikes wie ein Radfahrer zu bewegen und zB Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen, zählt daher nicht zu den Grundbedürfnissen.
Soweit es die Geschwindigkeit, die Streckenlänge und die körperliche Dauerleistung betrifft, kann das Fahren mit dem Rollstuhl-Bike unter Umständen auch ausgedehntes Jogging ersetzen. Dies kann den geltend gemachten Anspruch indes ebenfalls nicht rechtfertigen. Das Jogging ist eine sportliche Betätigung im Freizeitbereich. Freizeitbeschäftigungen – welcher Art auch immer – werden vom Begriff des vitalen Lebensbedürfnisses bzw des allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens nicht erfaßt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn 5 und 27; BSG SozR 2200 § 182b Nrn 12, 30, 34 und 37). Auch die Einordnung des Jogging als Sonderform des „Laufens” führt zu keinem anderen Ergebnis. Das „Laufen” bzw „Rennen” zählt nur bei Kindern und Jugendlichen (so bereits BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27 zum Rollstuhl-Bike für Jugendliche), nicht aber bei Erwachsenen zu den Vitalfunktionen.
Das allgemeine Grundbedürfnis, selbständig zu gehen, kann den Anspruch gleichfalls nicht begründen. Dieses Grundbedürfnis kann nämlich nicht dahin verstanden werden, daß die Krankenkasse einen Behinderten durch die Bereitstellung von Hilfsmitteln in die Lage versetzen muß, Wegstrecken jeder Art und Länge zurückzulegen, die ein Nichtbehinderter bei normalem Gehen zu Fuß bewältigen kann. Auch hier ist zu berücksichtigen, daß die gesetzliche Krankenversicherung bei dem Verlust der Gehfähigkeit nur für einen Basisausgleich zu sorgen hat. Zu den insoweit maßgeblichen vitalen Lebensbedürfnissen im Bereich des Gehens gehört jedoch nur die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang „an die frische Luft zu kommen” oder um die – üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden – Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. In diesem Sinne ist die in früheren Entscheidungen verwandte Formulierung zu verstehen, es sei auf diejenigen Entfernungen abzustellen, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklegt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn 7, 27 und 29). Ein über den vorgenannten Rahmen hinausgehendes Bedürfnis „zu gehen” kann nicht als Grundbedürfnis anerkannt werden. Dies gilt auch dann, wenn im Einzelfall die Stellen der Alltagsgeschäfte nicht im Nahbereich der Wohnung liegen, also dafür längere Strecken zurückzulegen sind, die die Kräfte eines Rollstuhlfahrers möglicherweise übersteigen. Besonderheiten des Wohnortes, zB eine hügelige Gegend, können für die Hilfsmitteleigenschaft nicht maßgeblich sein. Dem Grundbedürfnis auf freie Bewegung in der eigenen Wohnung und in deren Nahbereich hat die Beklagte durch die Versorgung der Klägerin mit dem handbetriebenen Rollstuhl hinreichend Rechnung getragen.
Maßgebend kann auch nicht sein, daß das Rollstuhl-Bike zur Stärkung der noch vorhandenen Muskulatur, des Herz-Kreislauf-Systems und der Lungenfunktion beiträgt. Dieses Ziel läßt sich durch weniger aufwendige Geräte oder durch entsprechende krankengymnastische und sportliche Übungen mit geringerem Kostenaufwand erreichen.
Da nach allem Erwachsene keinen Anspruch auf Versorgung mit einem Rollstuhl-Bike haben, weil das Gerät für diesen Personenkreis nicht als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung einzustufen ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Klägerin darauf verwiesen werden könnte, daß sie über einen behindertengerecht ausgestatteten Pkw verfügt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen