Entscheidungsstichwort (Thema)
Neurose. Berufsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit
Orientierungssatz
1. Eine Rentengewährung kommt nicht in Betracht, wenn bei Rentenablehnung zu erwarten ist, daß die neurotischen Erscheinungen verschwinden (ständige Rechtsprechung des BSG - so BSG vom 21.10.1969 - 11 RA 219/66 = SozR Nr 76 zu § 1246 RVO).
2. Zur Frage, inwieweit seelische Erkrankungen zu Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit führen können.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2, § 1247 Abs. 2
Verfahrensgang
SG Berlin (Entscheidung vom 02.06.1987; Aktenzeichen S 22 J 35/87) |
LSG Berlin (Entscheidung vom 07.12.1988; Aktenzeichen L 6 L 57/87) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit.
Die 1936 geborene Klägerin war von 1953 bis 1954 in einer Lehre als Großhandelskaufmann, die sie abbrach. Von 1954 bis 1957 arbeitete sie als Bürohilfe. Danach war sie bis 1964 Hausfrau und von 1964 bis 1966 Postverteilerin. Von 1976 bis 1978 war sie als Haushälterin und von 1978 bis 1980 als Reinigungskraft rentenversicherungspflichtig beschäftigt.
Ein Rentenantrag von 1981 blieb ohne Erfolg. Im Februar 1986 stellte die Klägerin erneut einen Rentenantrag. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 12. August 1986; Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 1986).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 2. Juni 1987). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG und die Bescheide der Beklagten geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit vom 24. Dezember 1986 bis 6. Dezember 1991 zu gewähren. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Dr. K. habe in seinem nervenärztlichen Fachgutachten vom 24. März 1988 ausgeführt, daß bei der Klägerin eine depressive Entwicklung bei einer depressiv-neurotischen Persönlichkeit vorliege. Die Klägerin könne durch ärztliche Behandlung teilweise aus der Fehlhaltung gelöst werden, und zwar durch eine ambulante nervenärztliche Behandlung mit kombinierter medikamentöser und psycho-therapeutischer Intervention. Eine Besserung durch eine solche Behandlung sei innerhalb von wenigen Wochen zu erzielen. Die Vorenthaltung der Rente sei von wesentlicher Bedeutung für den Erfolg einer solchen Behandlung. Die Klägerin könne noch täglich regelmäßig, aber nur für sechs Stunden, mittelschwere Arbeiten mit den bezeichneten Leistungseinschränkungen (im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen) verrichten. Weder daß der Behandlungserfolg von der Nichtgewährung der Rente abhänge noch daß eine Besserung des Zustandes der Klägerin innerhalb von wenigen Wochen bei entsprechender Behandlung zu erwarten sei, stehe der Gewährung der Rente entgegen. Es bedürfe auch keiner einjährigen Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes, da bereits jetzt feststehe, daß der Teilzeitarbeitsmarkt für die Klägerin verschlossen sei. Der Versicherungsfall sei nach dem Tode der Mutter der Klägerin am 24. Juni 1986 eingetreten. Rente wegen Erwerbsunfähigkeit sei vom Beginn der 27. Woche an zu gewähren (Urteil vom 7. Dezember 1988).
Die Beklagte hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt Verletzungen der §§ 1246 Abs 2, 1247 Abs 2 und 1276 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) durch das Berufungsgericht.
Sie beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. Juni 1987 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Ob die Klägerin erwerbsunfähig (§ 1247 Abs 2 RVO) oder berufsunfähig iS des § 1246 Abs 2 RVO ist, läßt sich erst nach Ermittlung weiterer Tatsachen feststellen.
Nach § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO ist erwerbsunfähig derjenige Versicherte oder diejenige Versicherte, die infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche der körperlichen und geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann.
Ausgangspunkt für die Beurteilung eines gemäß § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbaren und damit die Berufsunfähigkeit ausschließenden Verweisungsberufes ist der bisherige Beruf des Versicherten oder der Versicherten, wobei nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ein abgestuftes Berufsgruppenschema zugrunde zu legen ist (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 140, 143, 151 mwN). Dieses Mehrstufenschema gliedert die Arbeiterberufe nach verschiedenen "Leitberufen", nämlich dem des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hochqualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters, des "angelernten" und schließlich des ungelernten Arbeiters. Grundsätzlich darf der Versicherte im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf auf die nächstniedrigere Gruppe verwiesen werden. Erst wenn der Versicherte in diesem Sinne nicht auf eine zumutbare andere Tätigkeit verwiesen werden kann, sei es, daß es eine solche Tätigkeit nicht gibt, sei es, daß er aus gesundheitlichen Gründen oder wegen fehlender Kenntnisse und Fähigkeiten eine solche Tätigkeit nicht zu verrichten vermag, ist er berufsunfähig (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 143 mwN).
Beruht die Erwerbsunfähigkeit oder die Berufsunfähigkeit nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand des Versicherten, ist nach § 1276 Abs 1 Satz 2 RVO Rente auf Zeit zu leisten, es sei denn, daß der Versicherte oder die Versicherte innerhalb von zwei Jahren nach dem Rentenbeginn das 60. Lebensjahr vollendet.
Die Klägerin ist als bisher ungelernte Arbeiterin auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Bei Zugrundelegung der vom LSG bisher festgestellten Tatsachen ist sie noch nicht erwerbs- oder berufsunfähig.
Das LSG hat aufgrund der ärztlichen Beurteilung des Sachverständigen Dr. K. einerseits festgestellt, die Kontaktfähigkeit der Klägerin sei schlecht und müsse deshalb von der Klägerin unter Anspannung des Willens stets erneut aufgebracht werden. Das lasse eine starke Ermüdung erwarten. Das Restleistungsvermögen reiche deshalb nur noch für einen Arbeitseinsatz von sechs Stunden täglich aus. Unter diesen Umständen sei die Klägerin angesichts des Leistungsdruckes auf Teilzeitarbeitsplätzen im gewerblichen Bereich, die allein für die Klägerin in Betracht kämen, Anforderungen ausgesetzt, denen sie nicht mehr gewachsen sei. Vermittlungsbemühungen seien, wie jetzt schon erkennbar, aussichtslos. Es sei deshalb nicht erforderlich, erfolglose Vermittlungsbemühungen während eines Jahres abzuwarten. Das LSG geht andererseits, auch insoweit dem ärztlichen Gutachten folgend, davon aus, daß bei entsprechender Behandlung der Leidenszustand der Klägerin sich innerhalb von drei bis vier Wochen bessern lasse. Die Vorenthaltung der Rente sei von ausschlaggebender Bedeutung für den Erfolg einer Behandlungsmaßnahme. Da diese Feststellungen mit der Revisionsrüge nicht angegriffen sind, sind sie für das Revisionsgericht bindend (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Das BSG hat sich mit der Frage, inwieweit seelische Erkrankungen zu Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit führen können, mehrfach beschäftigt (BSG SozR Nrn 38, 39, 76 zu § 1246 RVO). Seelisch bedingte Störungen sind danach wie eine körperliche Krankheit anzusehen, wenn sie durch Willensentschlüsse des Betroffenen nicht oder nicht mehr zu beheben sind (BSG SozR Nr 39 zu § 1246 Aa 28). Zu prüfen ist, ob der Versicherte die seelischen Hemmungen entweder aus eigener Kraft oder unter ärztlicher Mithilfe überwinden kann. Wenn das möglich ist, muß der Versicherte alle verfügbaren "Mittel seines Willens" einsetzen (BSG SozR Nr 76 zu § 1246 Aa 69). Kann im Einzelfall die Prognose zuverlässig gestellt werden, daß die Ablehnung der Rente bei dem betroffenen Versicherten die neurotischen Erscheinungen ohne weiteres verschwinden läßt, dann muß die Rente versagt werden, weil es mit dem Sinn und Zweck der Rentengewährung bei Berufsunfähigkeit unvereinbar ist, daß gerade die Rentengewährung den Zustand aufrechterhält, dessen nachteilige Folgen sie ausgleichen soll (BSG SozR Nr 39 zu § 1246 Aa 29). Die Vorschriften über die Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit (§§ 1236 ff RVO) zeigen den gegebenen Weg, um der Neurose in der Praxis zu begegnen. Diese Leistungen haben Vorrang vor der Rentengewährung. Der Rentenversicherungsträger soll dem Einzelnen nur in dem Maße und in der Weise helfend zur Seite stehen, als dieser der Hilfe bedarf, um die Fähigkeit verantwortlicher Selbstbestimmung zurückzugewinnen (BSG SozR Nr 38 zu § 1246 RVO Aa 27 Rücks).
An diesen Grundsätzen ist festzuhalten.
Dem steht die Entscheidung des Senats vom 19. Juni 1976 - 5 RJ 122/77 - (SozR 2200 § 1277 Nr 2 = SozR 2200 § 1247 Nr 25), auf die das LSG seine abweichende Rechtsauffassung stützt, nicht entgegen. Dies schon deswegen, weil in jenem Urteil ausdrücklich die Besonderheiten, die für die Beurteilung seelischer Störungen als Krankheit gelten, nicht in Frage gestellt werden und es im dortigen Fall nicht - wie hier - darum ging, ob einem Versicherten eine Rente auch dann zu gewähren ist, wenn feststeht, daß gerade die Rentengewährung eine Heilung der seelischen Erkrankung verhindern würde. Dies ist im Einklang mit der aufgezeigten bisherigen Rechtsprechung des BSG zu verneinen.
Das LSG hat indessen die Rentengewährung - von seinem Standpunkt zu Recht - allein auf die Depressivität der Klägerin gestützt, obwohl bei der Klägerin möglicherweise auch andere Störungen im Sinne der §§ 1246 Abs 2, 1247 Abs 2 RVO vorhanden sind, die darauf zu prüfen sind, ob sie ihrerseits zur Rentengewährung führen und den Arbeitsmarkt für die Klägerin als verschlossen erscheinen lassen. Da es insoweit an Feststellungen des LSG fehlt, ist der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen