Entscheidungsstichwort (Thema)
Minderung der Erwerbsfähigkeit. Bestandskraft. Änderung der Verhältnisse. Unrichtigkeit, ursprüngliche. Abschmelzung. Aussparung. Erhöhung. 10-Jahresfrist. Absenkungssperre. 55 jährige Beschädigte
Leitsatz (amtlich)
- Die bestandskräftig zu hoch festgesetzte MdE wird trotz einer Verschlimmerung der Schädigungsfolgen solange nicht erhöht, wie sie die nunmehr tatsächlich vorliegende MdE übertrifft oder erreicht (Bestätigung von BSGE 60, 287 = SozR 1300 § 48 Nr 29).
- Der besondere Bestandsschutz für über 55 jährige Beschädigte (§ 62 Abs 3 S 1 BVG) steht einer Abschmelzung nach § 48 Abs 3 SGB X nur bei den regelmäßigen Rentenanpassungen (§ 56 BVG) entgegen (Abgrenzung zu SozR 3-3100 § 62 Nr 1).
Normenkette
SGB X § 48 Abs. 3; BVG §§ 56, 62 Abs. 3 S. 1
Verfahrensgang
SG Lübeck (Urteil vom 31.08.1994; Aktenzeichen S 9 V 107/93) |
Tenor
Auf die Revision des beklagten Landes wird das Urteil des Sozialgerichts abgeändert, soweit es den Bescheid vom 23. November 1993 aufgehoben und den Beklagten unter Abänderung weiterer Bescheide verurteilt hat, Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 vH zu gewähren. Insoweit wird die Klage abgewiesen. Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Das beklagte Land hat dem Kläger ein Viertel der außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte verpflichtet ist, die bisher mit 40 vH zu hoch angesetzte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers wegen Verschlimmerung der Schädigungsfolgen auf 50 vH zu erhöhen, obwohl die tatsächliche MdE erst durch die Verschlimmerung 40 vH erreicht hat.
Bei dem 1924 geborenen Kläger hatte der Versorgungsträger mit Bescheid vom 17. März 1960 folgende Schädigungsfolgen anerkannt:
1. Mit Verkürzung von etwa 5 cm verheilter Schußbruch des rechten Oberarmes ohne wesentliche Beeinträchtigung der Funktion. Weichteildefekt und größere, mit dem Knochen verwachsene empfindliche Narbe, Splitternarben im Rücken und im unteren Bereich der Lendenwirbelsäule. Verbildende Veränderungen im rechten Schulter- und Ellenbogengelenk.
2. Stecksplitter in der linken Lunge subpleural.
Die hierdurch hervorgerufene MdE hatte er fehlerhaft mit 40 vH festgesetzt. Sie wäre damals höchstens mit einer MdE um 30 vH zu bewerten gewesen. Den Verschlimmerungsantrag des Klägers vom August 1991 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31. Januar 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 1993 ab. Zwar hätten die sekundärarthrotischen Veränderungen und die Weichteilkontrakturen im Bereich des rechten Schultergelenkes im Vergleich zu den maßgebenden Vorbefunden erheblich zugenommen, so daß an sich eine Erhöhung des MdE-Grades um 10 vH gerechtfertigt wäre. Der Bescheid vom 17. März 1960 sei aber hinsichtlich der MdE-Bewertung fehlerhaft gewesen und könne nach § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) heute nicht mehr berichtigt werden. Nach § 48 Abs 3 SGB X sei die MdE deshalb nur in der jetzt zutreffenden (bereits festgestellten) Höhe (40 vH) zugrunde zu legen.
Während der Anhängigkeit der gegen diese Bescheide erhobenen Klage stellte der Beklagte mit Bescheid vom 23. November 1993 nochmals fest, daß die MdE des Klägers 1960 mit 40 vH unrichtig bewertet worden sei, und erklärte sich mit Vergleichsangebot vom 7. Januar 1994 bereit, bei gleichbleibender MdE weitere Schädigungsfolgen (“Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk und umformende Veränderungen im rechten Schulter- und Ellenbogengelenk”) anzuerkennen. Nach Ablehnung dieses Angebots durch den Kläger hörte das Sozialgericht (SG) zwei verschiedene medizinische Sachverständige und verurteilte den Beklagten mit Wirkung vom August 1991 zur Neuformulierung der alten und zur Anerkennung neuer Schädigungsfolgen entsprechend dem Vergleichsangebot, darüber hinaus aber auch zur Zugrundelegung einer MdE um 50 vH. Zur Begründung hat es sinngemäß ausgeführt: Zwar betrage die MdE trotz des Hinzutritts neuer Schädigungsfolgen erst jetzt 40 vH und sei die schon 1960 erfolgte Anerkennung dieses MdE-Grades fehlerhaft gewesen. Dennoch könnten die Versorgungsansprüche des Klägers nicht auf der Höhe “eingefroren” werden, wie sie der jetzt bestehenden tatsächlichen MdE (40 vH) entspreche, weil die Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X hier durch § 62 Abs 3 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) ausgeschlossen sei. Unter den Voraussetzungen dieser Bestimmung sei auch die zu Unrecht anerkannte MdE entsprechend zu erhöhen, wenn sich die Gesundheitsverhältnisse des Beschädigten – wie hier – seit der Anerkennung verschlimmert hätten. Der Beklagte hat die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Er macht im wesentlichen geltend, § 62 Abs 3 Satz 1 BVG schließe die Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X nur insoweit aus, als die bisher anerkannte MdE nicht herabgesetzt werden dürfe. Für eine etwaige Erhöhung komme es auf die nach der Änderung der Verhältnisse wirklich erreichte MdE an.
Er beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 31. August 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des SG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist im wesentlichen begründet. Dem Kläger steht Versorgung nach einer höheren MdE als 40 vH nicht zu. Der Beklagte war berechtigt, die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 17. März 1960 festzustellen und die Zugunsten des Klägers eingetretene Änderung der Verhältnisse gemäß § 48 Abs 3 SGB X im Ergebnis unberücksichtigt zu lassen.
Nach § 48 Abs 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung rückwirkend aufzuheben (und ein neuer Bescheid zu erteilen), wenn eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist, die für den Erlaß des Verwaltungsakts (Grundlagenbescheid) maßgeblich waren (“wesentliche Änderung”). Eine solche Änderung liegt bei der Feststellung eines Anspruchs auf Versorgungsrente regelmäßig in der Verschlimmerung der anerkannten oder im Hinzutritt neuer Schädigungsfolgen iS des § 1 BVG, weil es dabei gewöhnlich zu einer Erhöhung der MdE (§ 30 Absätze 1 und 2 BVG) und damit zu einer Erhöhung der Grundrente (§ 31 Abs 1 BVG) kommt. Eine entsprechende Neufeststellung des Rentenanspruchs hat nach § 60 Abs 2 Satz 1 und Abs 2 BVG mit Wirkung vom Antragsmonat zu erfolgen (vgl § 37 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil ≪SGB 1≫). Ein Fall des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X liegt hier vor, weil die Folgen der vom Kläger erlittenen Schädigung sich durch Hinzutritt weiterer Befunde verschlechtert und zu einer höheren MdE geführt haben, als sie zur Zeit der Erteilung des Grundlagenbescheides vom 17. März 1960 vorlag.
Hinsichtlich der MdE und der Rentenhöhe führt diese Änderung der Verhältnisse hier aber ausnahmsweise nicht zur Aufhebung und Ersetzung des alten Leistungsbescheides. Das ergibt sich aus § 48 Abs 3 SGB X. Wenn der alte Leistungsbescheid rechtswidrig ist, aber nicht nach § 45 SGB X zurückgenommen werden kann, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich ohne Berücksichtigung der Bestandskraft des alten Bescheides ergibt. Die Bestimmung schränkt die Bestandsschutzregelungen des § 39 Abs 2 iVm § 45 SGB X in der Weise ein, daß der Bezieher einer Dauerleistung insoweit, wie deren fehlerhafte Feststellung nicht mehr zurückgenommen werden kann, zwar Anspruch auf die Leistung in der festgestellten Höhe behält, für zukünftige Erhöhungen aber von einem Leistungsumfang auszugehen ist, wie er sich bei fehlerfreier Erstfeststellung ergeben hätte. Denn das mit dem unrichtigen Grundlagenbescheid verbriefte Unrecht soll nicht zur Einräumung neuer unrechtmäßiger Rechtsvorteile führen.
Die Voraussetzungen des § 48 Abs 3 SGB X liegen vor. Das SG hat festgestellt, daß der Bescheid des Beklagten vom 17. März 1960 insoweit rechtswidrig war, als darin eine MdE um 40 statt um maximal 30 vH anerkannt worden ist. Der Bescheid konnte zu dem Zeitpunkt, als der Beklagte über den Verschlimmerungsantrag des Klägers zu entscheiden hatte, nach § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X nicht mehr zurückgenommen werden, weil seit seiner Bekanntgabe mehr als zwei Jahre verstrichen waren. Auch die übrigen Voraussetzungen für die Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X liegen vor. Der Beklagte hat insbesondere die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 17. März 1960 rechtzeitig festgestellt (vgl BSGE 63, 266). Diese Feststellung hat er im Widerspruchsbescheid vom 4. Februar 1993 getroffen, was ausreicht (vgl Steinwedel, Kasseler Komm, RdZiff 67 zu § 48 und BSG SozR 1300 § 48 Nrn 49 und 54). Mit dem Bescheid vom 23. November 1993 hat er diese Feststellung nur wiederholt.
Die Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X ist nicht – wie das SG gemeint hat – wegen der in § 62 Abs 3 Satz 1 BVG enthaltenen Regelung ausgeschlossen, auch nicht, soweit der Beklagte dabei die Unrichtigkeit der 1960 anerkannten MdE festgestellt hat. Nach § 62 Abs 3 Satz 1 BVG ist bei Versorgungsberechtigten, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, die MdE wegen Besserung des Gesundheitszustandes nicht niedriger festzusetzen, wenn sie in den letzten 10 Jahren seit ihrer Feststellung unverändert geblieben ist. Diese Voraussetzung erfüllt der Kläger schon seit 1970. In seiner Entscheidung vom 29. August 1990 (BSG SozR 3-3100 § 62 Nr 1) hat der Senat § 62 Abs 3 Satz 1 BVG auch in denjenigen Fällen angewandt, in denen über 55-jährige Beschädigte Leistungen von Anfang an zu Unrecht erhalten hatten, etwa weil ein Versorgungsleiden zu Unrecht als solches anerkannt worden war. In derselben Entscheidung hat der Senat darüber hinaus § 62 Abs 3 Satz 1 BVG erweiternd dahin ausgelegt, daß unter den Voraussetzungen dieser Bestimmung die Leistungen auch nicht nach § 48 Abs 3 SGB X von Erhöhungen ausgespart werden dürfen.
Dieses Verbot der Aussparung nach § 48 Abs 3 SGB X gilt hier nicht. Zu Unrecht hat das SG angenommen, die erweiternde Auslegung des § 62 Abs 3 Satz 1 BVG erstrecke sich auch auf diejenigen Fälle, in denen eine Änderung der Verhältnisse durch Erhöhung der MdE eingetreten ist. Die seinerzeitige Entscheidung (SozR 3-3100 § 62 Nr 1) betraf lediglich die regelmäßigen Anpassungen der Versorgungsrenten an die wirtschaftliche Entwicklung (vgl § 56 BVG, seit 1. Januar 1992 idF des Art 39 des Rentenreformgesetzes 1992). Für diese Fälle ist am Ausschluß der Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X durch § 62 Abs 3 Satz 1 BVG festzuhalten. Die letztgenannte Bestimmung soll ältere Leistungsempfänger davor schützen, daß die Versorgungsrente, die sie über einen längeren Zeitraum im wesentlichen unverändert bezogen haben, in Zukunft geschmälert werden kann. Zugleich soll sie die Behelligung älterer Versorgungsempfänger durch medizinische Ermittlungen über den seinerzeitigen und den derzeitigen Gesundheitszustand möglichst vermeiden und der Vereinfachung der Verwaltungsarbeit dienen. Diese Gesichtspunkte sprechen dagegen, die alljährlichen Erhöhungen der Versorgungsrenten zum Anlaß für medizinische Ermittlungen zu nehmen. Deshalb ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 62 Abs 3 Satz 1 BVG dann ausnahmsweise von der Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X abzusehen, wenn die Änderung der Verhältnisse darin besteht, daß die Versorgungsleistungen alljährlich nach § 56 BVG angepaßt werden. Die für diesen Fall angestellten Überlegungen gelten aber insbesondere dann nicht, wenn – wie hier – aufgrund eines Verschlimmerungsantrags ohnehin zu prüfen ist, ob sich die MdE wegen Leidensverschlimmerung oder des Hinzutritts neuerer Schädigungsfolgen verändert hat. Auf diese Fälle ist die erweiternde Auslegung des § 62 Abs 3 Satz 1 BVG nicht auszudehnen. Denn unter diesen Umständen fallen Untersuchungen des Beschädigten und ein erhöhter Verwaltungsaufwand ohnehin an, da ein Vergleich des ursprünglichen Ausmaßes der Schädigungsfolgen mit dem heutigen anzustellen ist. Hier hat es bei dem Grundsatz des § 48 Abs 3 SGB X zu verbleiben, wonach die neu festgestellte Rente höchstens den Betrag erreichen kann, der – ohne Berücksichtigung des Grundlagenbescheides den heutigen Verhältnissen entspricht (vgl dazu bereits BSG Urteil vom 26. November 1975 – 10 RV 151/75 = BVBl 1976, S 100; BSGE 40, 120 = SozR 3100 § 30 Nr 8 und BSGE 60, 287, 291 = SozR 1300 § 48 Nr 29). Daß sich das vom Senat in der Entscheidung SozR 3-3100 § 62 Nr 1 aufgestellte Aussparungsverbot nur auf die betragsmäßigen Anpassungen bezieht, hat der Senat bereits in mehreren Entscheidungen ausgesprochen (vgl Beschlüsse vom 9. Februar 1993 – 9/9a BV 161/92 – und vom 18. Oktober 1995 – 9 BV 94/95 sowie in seinem Urteil vom 8. März 1995 – 9 RV 7/93).
Hinsichtlich der anzuerkennenden Schädigungsfolgen ist das Urteil des SG zu bestätigen. § 48 Abs 3 SGB X stand der Aufhebung des Bescheides vom 17. März 1960 und seiner Ersetzung durch einen für den Kläger günstigeren Neufeststellungsbescheid nicht im Wege. Die Anerkennung der inzwischen hinzugetretenen Schädigungsfolgen (“Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk und Ellenbogengelenk”) hat der Beklagte bisher grundlos verweigert. Er hat sie lediglich zur Grundlage seines Vergleichsangebotes vom 7. Januar 1993 gemacht. Daher hat das SG den Beklagten insoweit zu Recht zur Anerkennung verurteilt und ist die Revision in diesem Umfang zurückzuweisen.
Da das Rechtsmittel des Beklagten mithin zwar überwiegend, aber keinen vollen Erfolg hat, ist dem Beklagten gemäß § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Viertel der Verfahrenskosten des Klägers aufzuerlegen. Die Ablehnung seines Angebotes hätte ihn nicht gehindert, während des Verfahrens einen entsprechenden Feststellungsbescheid zu erlassen (vgl § 96 SGG).
Fundstellen
Haufe-Index 946350 |
Breith. 1996, 492 |