Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse. Arbeitslosengeldanspruch. Minderung der Leistungsfähigkeit. Ende der Nahtlosigkeitsregelung. Feststellung der verminderten Erwerbsfähigkeit durch den Rentenversicherungsträger
Orientierungssatz
1. § 145 Abs 1 S 1 SGB 3 enthält eine sogenannte Nahtlosigkeitsregelung, deren Wirkung darin besteht, ein aus gesundheitlichen Gründen objektiv nicht bestehendes Leistungsvermögen des Arbeitslosen bis zum Eintritt des in der Rentenversicherung versicherten Risikos der Erwerbsminderung zu fingieren.
2. Die Fiktion objektiver Verfügbarkeit und damit auch die Sperrwirkung der Nahtlosigkeitsregelung dauert bis zur Feststellung, dass verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung vorliegt; diese Feststellung ist nach § 145 Abs 1 S 2 SGB 3 vom zuständigen Rentenversicherungsträger zu treffen.
3. Eine Auslegung von § 145 Abs 1 S 1 SGB 3 in dem Sinne, die objektive Verfügbarkeit bis zur tatsächlichen Aufnahme der Rentenzahlung zu fingieren, kommt nicht in Betracht.
Normenkette
SGB 10 § 48 Abs. 1 S. 1; SGB 3 § 145 Abs. 1 Sätze 1-2; SGB 3 § 137 Abs. 1 Nr. 1; SGB 3 § 138 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 5 Nr. 1; SGB 6 § 102 Abs. 2 S. 1; SGB 6 § 101 Abs. 1, 1a
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. Juni 2016 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Im Streit ist die Aufhebung der Bewilligung von Alg wegen der Feststellung einer verminderten Erwerbsfähigkeit durch den Rentenversicherungsträger.
Der Kläger war bis zum 7.3.2011 versicherungspflichtig beschäftigt und bezog im Anschluss daran bis zum 3.9.2012 Krankengeld. Am 4.9.2012 meldete er sich arbeitslos und beantragte Alg unter Hinweis darauf, dass er derzeit zwar arbeitsunfähig sei, sich aber im Rahmen seines Leistungsvermögens der Vermittlung zur Verfügung stelle. Nachdem der ärztliche Dienst eine Leistungsunfähigkeit des Klägers für mehr als 6 Monate festgestellt hatte, bewilligte die Beklagte Alg ab dem 4.9.2012 auf der Grundlage von § 145 Abs 1 SGB III (Bescheid vom 20.9.2012). Der Kläger stellte zudem einen Antrag auf medizinische Rehabilitationsleistungen bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV), den diese in einen Rentenantrag umdeutete. Ausgehend von einem am 4.9.2012 eingetretenen Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung bewilligte die DRV dem Kläger ab dem 1.4.2013 eine bis zum 31.12.2013 befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung (Bescheid vom 21.12.2012). Hierüber informierte sie die Beklagte und teilte weiter mit, dass der Kläger nach ärztlicher Untersuchung nur noch unter 3 Stunden täglich leistungsfähig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei (Schreiben vom 2.1.2013).
Die Beklagte hob daraufhin die Bewilligung von Alg ab dem 13.1.2013 mit der Begründung auf, der Kläger sei nicht verfügbar und die Voraussetzungen des § 145 SGB III lägen nicht mehr vor (Bescheid vom 10.1.2013; Widerspruchsbescheid vom 21.3.2013). Klage und Berufung blieben erfolglos (Urteil des SG vom 10.11.2014; Urteil des LSG vom 9.6.2016). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die über § 145 Abs 1 Satz 1 SGB III fingierte Verfügbarkeit des Klägers sei wegen der Feststellung einer seit dem 4.9.2012 bestehenden vollen Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger entfallen. Die fehlende Verfügbarkeit könne nicht bis zur tatsächlichen Rentenzahlung zum 1.4.2013 fingiert werden. Dem stünden Wortlaut, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck des § 145 Abs 1 SGB III entgegen.
Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision macht der Kläger eine Verletzung von § 145 Abs 1 Satz 1 SGB III geltend. Das Berufungsgericht verkenne, dass eine Regelungslücke im Gesetz, respektive eine Lücke im Gefüge der sozialen Sicherung in atypischen Fällen vorliege und § 145 Abs 1 Satz 1 SGB III in diesem Lichte auszulegen sei. Dies habe auch der Gesetzgeber erkannt und in § 101 SGB VI einen neuen Abs 1 a eingefügt. Zwar erfasse die Neuregelung nur zukünftige Fälle, der Gesetzesbegründung sei aber zu entnehmen, dass der Gesetzgeber von einer seit längerem bestehenden Regelungslücke ausgegangen sei. Diese müsse für die Vergangenheit durch entsprechende Auslegung des § 145 Abs 1 Satz 1 SGB III geschlossen werden.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 9.6.2016 und des SG Koblenz vom 10.11.2014 sowie den Bescheid vom 10.1.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.3.2013 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§§ 124 Abs 2, 153 Abs 1, 165 SGG), ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat zu Recht die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen, denn der angefochtene Aufhebungsbescheid ist rechtmäßig.
Streitgegenstand ist neben den Entscheidungen der Vorinstanzen der Bescheid der Beklagten vom 10.1.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.3.2013, durch den diese die Aufhebung der Bewilligung von Alg ab dem 13.1.2013 verfügt hat, und den der Kläger zutreffend mit einer Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) angreift.
Rechtgrundlage für die Aufhebungsentscheidung, die ausgehend vom Erlass des Bescheides allein Wirkung für die Zukunft entfaltet, ist § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, um den es sich bei der Bewilligung von Alg handelt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die der Bewilligung von Alg an den Kläger ab dem 4.9.2012 zugrunde gelegen haben, ist hier eingetreten. Die Feststellung der verminderten Leistungsfähigkeit durch den Rentenversicherungsträger im Dezember 2012 hat zu einer wesentlichen Änderung der rechtlichen Verhältnisse geführt, weil dadurch die Voraussetzungen für den Anspruch des tatsächlich leistungsgeminderten Klägers auf Alg entfallen sind.
Die Gewährung von Alg für die Zeit ab 4.9.2012 beruhte auf § 145 Abs 1 Satz 1 SGB III. Danach hat Anspruch auf Alg auch eine Person, die allein deshalb nicht arbeitslos ist, weil sie wegen einer mehr als sechsmonatigen Minderung ihrer Leistungsfähigkeit versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigungen nicht unter den Bedingungen ausüben kann, die auf dem für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarkt ohne Berücksichtigung der Minderung der Leistungsfähigkeit üblich sind, wenn eine verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung nicht festgestellt worden ist.
§ 145 Abs 1 Satz 1 SGB III enthält - wie das LSG zutreffend ausgeführt hat - eine sogenannte Nahtlosigkeitsregelung, deren Wirkung darin besteht, ein aus gesundheitlichen Gründen objektiv nicht bestehendes Leistungsvermögen des Arbeitslosen bis zum Eintritt des in der Rentenversicherung versicherten Risikos der Erwerbsminderung zu fingieren. Diese Fiktion hindert die Arbeitsverwaltung daran, einen Anspruch auf Alg mit der Begründung zu verneinen, der Arbeitslose sei wegen einer Leistungsminderung auf weniger als 15 Stunden wöchentlich über eine Dauer von mehr als sechs Monaten nach Maßgabe von § 138 Abs 5 Nr 1 SGB III objektiv nicht verfügbar und deshalb nicht arbeitslos iS von §§ 137 Abs 1 Nr 1, 138 Abs 1 Nr 3 SGB III. Die Fiktion objektiver Verfügbarkeit und damit auch die Sperrwirkung der Nahtlosigkeitsregelung dauert bis zur Feststellung, dass verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 43 Abs 1 bis 3 SGB VI) vorliegt; diese Feststellung ist nach § 145 Abs 1 Satz 2 SGB III vom zuständigen Rentenversicherungsträger zu treffen. Mit der Feststellung des Rentenversicherungsträgers entfällt der Anwendungsbereich der Nahtlosigkeitsregelung (so bereits BSG vom 14.12.1995 - 11 RAr 19/95 - RdNr 13 ff; BSG vom 9.9.1999 - B 11 AL 13/99 R - BSGE 84, 262 = SozR 3-4100 § 105a Nr 7, juris RdNr 15 zu § 105a AFG; vgl auch Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 145 RdNr 35, 63, Stand Juli 2013; Aubel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 1. Aufl 2014, § 145 RdNr 11; Mutschler in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 5. Aufl 2017, SGB III, § 145 RdNr 8, 12).
Vorliegend hat der Rentenversicherungsträger im Dezember 2012 verminderte Erwerbsfähigkeit des Klägers (Leistungsfähigkeit unter 3 Stunden täglich) festgestellt. Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) bestanden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Leistungsfähigkeit des Klägers abweichend hiervon zu beurteilen sei, dieser also dennoch objektiv dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestanden haben könnte. Die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Alg waren damit zum Zeitpunkt der Aufhebung der Bewilligung (13.1.2013) wegen fehlender Arbeitslosigkeit (§ 138 SGB III) entfallen.
Der Senat verkennt nicht, dass das Zusammenspiel des Leistungsrechts der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung hier zu einer systembedingten Lücke im Leistungsbezug geführt hat, weil die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die nur auf Zeit zu gewähren ist (§ 102 Abs 2 Satz 1 SGB VI), nach § 101 Abs 1 SGB VI nicht vor Beginn des siebten Monats nach Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit einsetzte, hier also erst zum 1.4.2013 (vgl dazu auch BSG vom 23.2.2017 - B 11 AL 3/16 R - vorgesehen für BSGE und SozR 4-4300 § 26 Nr 8, RdNr 27; Bieback, SozSich 2014, 374; Winkler, info also 2014, 273). Eine Auslegung von § 145 Abs 1 Satz 1 SGB III in dem Sinne, die Fiktion der objektiven Verfügbarkeit bis zur tatsächlichen Aufnahme der Rentenzahlung zu fingieren, kommt entgegen der Auffassung der Revision gleichwohl nicht in Betracht. Schon nach dem Wortlaut der Vorschrift ist die Fiktion allein an die Feststellung der verminderten Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung geknüpft und nicht an einen sich unmittelbar anschließenden Rentenbezug. Demgemäß endet sie auch mit der entsprechenden Feststellung durch den Rentenversicherungsträger und nicht (erst) mit dem Einsetzen der Rentenzahlung. Würde man § 145 Abs 1 Satz 1 SGB III erweiternd auslegen, bliebe zudem unklar, wie in Fällen zu verfahren ist, in denen es trotz festgestellter verminderter Erwerbsfähigkeit zu keiner Rentenzahlung kommt, etwa weil andere rentenrechtliche Voraussetzungen nicht vorliegen.
In der Entstehungsgeschichte des § 145 Abs 1 Satz 1 SGB III findet die Rechtsansicht des Klägers ebenfalls keine Stütze. § 145 Abs 1 Satz 1 SGB III in der zum 1.4.2012 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 (BGBl I 2854) entspricht der vom 1.1.1998 bis zum 31.3.2012 geltenden Regelung des § 125 SGB III (in der im Wesentlichen unverändert gebliebenen Fassung des Gesetzes zur Reform der Arbeitsförderung vom 24.3.1997 - BGBl I 594) sowie der zum 1.1.1981 in Kraft getretenen Vorläuferregelung in § 105a Abs 1 AFG (in der Fassung des Gesetzes vom 18.8.1980 - BGBl I 1469), die wiederum die bis dahin geltenden Regelungen in § 103 Abs 1 und Abs 2 AFG (in der Fassung des Gesetzes vom 25.6.1969 - BGBl I 582) übernommen hat. Ein für das Verständnis der Vorschrift bedeutsamer Bezug zu den Regelungen zum Rentenbeginn bei Erwerbsminderungsrenten, die (erst) seit dem 1.1.2001 nach § 102 Abs 2 Satz 1 SGB VI zwingend als Zeitrente zu gewähren sind (vgl dazu BSG vom 29.3.2006 - B 13 RJ 31/05 R - BSGE 96, 147 = SozR 4-2600 § 102 Nr 2, RdNr 17 ff), findet sich in den Gesetzgebungsmaterialien nicht.
Zudem rechtfertigen auch Sinn und Zweck des § 145 Abs 1 SGB III keine andere Sichtweise. Mit der Vorgängerregelung des § 105a AFG wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass die Arbeitsverwaltung bis zur Feststellung der Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit durch den Rentenversicherungsträger keine für den Arbeitslosen nachteilige Entscheidung über seine Leistungsfähigkeit treffen konnte. Für das Motiv, eine Sicherungslücke in der Sozialversicherung durch weitergehende arbeitsförderungsrechtliche Leistungen schließen zu wollen, finden sich in den Gesetzesmaterialien zu § 105a AFG indes keine Hinweise (vgl BSG vom 14.12.1995 - 11 RAr 19/95 - juris RdNr 15; BSG vom 29.4.1998 - B 7 AL 18/97 R - SozR 3-4100 § 105a Nr 5, juris RdNr 20; BSG vom 9.9.1999 - B 11 AL 13/99 R - BSGE 84, 262 = SozR 3-4100 § 105a Nr 7, juris RdNr 16). Die nachfolgenden Regelungen in § 125 Abs 1 SGB III aF sowie § 145 Abs 1 SGB III nehmen jeweils auf § 105a AFG Bezug (vgl BT-Drucks 13/4941, S 177 zu § 125; BT-Drucks 17/6277, S 104 zu § 145).
Inzwischen hat der Gesetzgeber mit der Einfügung von § 101 Abs 1 a SGB VI (vgl zu Verortung der Problematik im Recht der Rentenversicherung bereits BSG vom 14.12.1995 - 11 RAr 19/95 - RdNr 19) zum 14.12.2016 durch das Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben (Flexirentengesetz) vom 8.12.2016 (BGBl I 2838) sichergestellt, dass in Fällen der vorliegenden Art die Erwerbsminderungsrente unmittelbar nach dem Ende des Alg-Bezugs einsetzen kann und eine Leistungslücke vermieden wird. § 145 SGB III und das dieser Vorschrift zugrunde liegende arbeitsförderungsrechtliche Konzept ist indes trotz des vom Gesetzgeber angenommen Korrekturbedarfs im Regelungssystem (vgl BT-Drucks 18/9787, S 44) unverändert geblieben. Dies belegt zusätzlich, dass - entgegen der Ansicht des Klägers - nicht von einer planwidrigen Lückenhaftigkeit des § 145 SGB III auszugehen war und ist (so zu § 105a AFG bereits BSG vom 14.12.1995 - 11 RAr 19/95 - RdNr 15 ff).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
NZA 2018, 770 |
NZS 2018, 198 |
SGb 2018, 560 |
GV/RP 2018, 690 |
FuBW 2018, 613 |
FuHe 2018, 635 |
FuNds 2018, 540 |
KomVerw/MV 2018, 437 |
KomVerw/S 2018, 438 |
KomVerw/T 2018, 435 |
info-also 2018, 139 |
info-also 2018, 284 |
info-also 2018, 73 |