Leitsatz (amtlich)
Die in der Unfallversicherung und Kriegsopferversorgung geltende Kausalitätsnorm (im Sinne des Begriffs der, wesentlichen Teilursache,) gilt auch im Bereich der Rentenversicherung für die Verursachung in den Fällen des RVO § 1263a Abs 1 Nr 1 und 3 Fassung: 1945-03-17.
Leitsatz (redaktionell)
1. Es genügt nicht, daß ein Ereignis oder eine Tatsache irgendwie Ursache war und den Erfolg (Invalidität oder Berufsunfähigkeit) ausgelöst hat, sondern es muß sich um eine wesentlich mitwirkende Ursache handeln.
2. Erleidet eine an Arteriosklerose erkrankte Versicherte anläßlich eines Bombenangriffs einen Schlaganfall, stellt dieser Bombenangriff doch keine wesentliche mitwirkende Teilursache ihrer Invalidität dar.
3. Ist der Versicherungsfall der Invalidität vor dem 1957-01-01 eingetreten, ist nach ArVNG Art 2 § 5 das frühere 1252 Nr 3 Fassung: 1957-02-23 keine Rückwirkung beigelegt worden ist.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 5 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1252 Nr. 3 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 10 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1263a Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1945-03-17, Nr. 3 Fassung: 1945-03-17
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. April 1956 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts in Münster vom 1. Oktober 1954 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die 1895 geborene Klägerin hatte von 1909 bis 1927 - im wesentlichen als Hausgehilfin und Verkäuferin in einen Café - der Invalidenversicherung angehört; später war sie nicht mehr invalidenversichert, da sie alsdann einen selbständigen Landwirt heiratete. Die Klägerin ist seit einem Schlaganfall mit nachfolgender rechtsseitiger Körperlähmung, den sie am 2. März 1943 erlitten hatte, invalide im Sinne des § 1254 der Reichsversicherungsordnung a.F. (RVO). Den Schlaganfall erlitt die Klägerin während eines Bombengroßangriffs, der auf die in der Nähe ihres Wohnorts gelegene, etwa 9 km in der Luftlinie entfernte Stadt Münster in Westfalen geflogen wurde, und den sie, in der Haustür ihres Besitztums stehend, beobachtete.
Nach den für die Klägerin maßgeblichen Vorschriften sind für sie nur 48 auf die Wartezeit anrechenbare Beitragsmonate erfüllt; die Beklagte lehnte daher durch Bescheid vom 2. August 1952 die von der Klägerin erst am 16. April 1951 beantragte Gewährung der Invalidenrente ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt war.
Mit ihrer nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Sozialgericht (SG.) Münster als Klage übergegangenen Berufung machte die Klägerin geltend, die Wartezeit gelte als erfüllt, da sie infolge Feindeinwirkung invalide geworden sei.
Das SG. wies die Klage ab, da es nach den ihm vorliegenden, im wesentlichen in einem Versorgungsstreitverfahren eingeholten Gutachten den Kausalzusammenhang und das Vorliegen einer unmittelbaren "Feindeinwirkung" im Sinne des § 1263 a RVO a.F. verneinte. Die vom SG. hierbei zugrunde gelegten Gutachten des Nervenfacharztes Dr. H... vom 27. Juli 1953 und des Direktors der Psychiatrischen und Nervenklinik oder Universität Münster, Prof. Dr. M... vom 11. August 1954 betrachteten beide den Schlaganfall bei vorhandener ausgesprochener sklerotischer Veranlagung als durch den Bombenangriff ausgelöst und bemaßen den auf diese Auelösung entfallenden Anteil bei einer Gesamterwerbsverminderung von 100 % auf nicht mehr als 20 bis 30 % Die gleiche Auffassung wird später auch durch das weitere, im Versorgungsverfahren eingeholte Gutachten des Nervenfacharztes Dr. H... in T... vom 27. Oktober 1955 vertreten; dieses Gutachten wurde von dem Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen seiner Urteilsfindung neben den beiden vorerwähnten Gutachten zusätzlich zugrunde gelegt.
Das LSG. verurteilte die Beklagte unter Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils zur Zahlung der Invalidenrente in gesetzlicher Höhe vom 1. Mai 1951 ab. Es begründete seine Entscheidung im wesentlichen mit folgenden Erwägungen:
Unstreitig sei die Klägerin seit dem Schlaganfall am 2. März 1943 invalide.
Es bleibe deshalb einzig zu prüfen, ob die Klägerin den zur Invalidität führenden Schlaganfall "infolge Feindeinwirkung" erlitten habe.
Es könne dahingestellt bleiben, ob im Sinne des § 1263a RVO a.F. das Vorliegen einer "mittelbaren" Feindeinwirkung ausreiche, denn die Unmittelbarkeit der Einwirkung sei jedenfalls schon dann gegeben, wenn eine Person durch die feindliche Kampfhandlung, auch ohne äußerlich (etwa durch Geschosse, Sprengstücke usw.) verletzt zu sein, unter dem starken Eindruck erlebter feindlicher Waffenwirkung psychisch beeinträchtigt wird.
Das LSG. fährt alsdann wörtlich fort:
"Durch die bei der Klägerin eingetretene seelische Erregung ist der Schlaganfall herbeigeführt worden. Daß kein akutes Schreckerlebnis nachweisbar ist, ist nicht von Bedeutung. Die ärztlichen Gutachten stimmen jedenfalls darin überein, daß durch den Zustand seelischer Anspannung in der Bombennacht bei der Klägerin bei bereits vorhandener Arteriosklerose der Schlaganfall ausgelöst worden ist. Daß das Leiden anlagebedingt war und demnach durch den seelischen Spannungszustand (die Feindeinwirkung) nicht erst zur Entstehung gebracht, sondern nur verschlimmert wurde, schließt den ursächlichen Zusammenhang nicht aus. § 1263 a RVO schränkt den Ursachenzusammenhang, wie das Wort "infolge" besagt, nicht auf bestimmte Bedingungen ein. Eine Unterscheidung etwa zwischen Haupt- und Nebenursachen gibt es nicht. Es genügt vielmehr jede Tatsache, die den Erfolg herbeigeführt hat. Die Aufgeregtheit der Klägerin, ihre "schreckliche Angst" vor den angreifenden feindlichen Fliegern ist eine solche den Ursachenzusammenhang begründende Tatsache. Auch für den Fall der Feindeinwirkung muß daher - ebenso wie bei den Folgen eines Arbeitsunfalls - der in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannte Satz gelten, daß die Vorschrift des § 1263 a RVO auch dann anzuwenden ist, wenn die Feindeinwirkung "nur der letzte Tropfen war, der das Faß früher als erwartet zum Überlaufen brachte" (vgl. Bayer. LSG. v. 21.6.1954, Sozialrechtl . Entscheidungssammlung Nr. 10 zu § 1263 a; Koch-Hartmann, Komm. z. AVG, Anm. zu § 31 S. 294)."
Das LSG. hat die Revision gegen sein Urteil ausdrücklich zugelassen.
Die Beklagte hat unter Stellung eines Antrags am 16. Juli 1956 Revision gegen das Urteil eingelegt und diese Revision am 8. August 1956 begründet. Unter Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte des § 1263 a Nr. 3 RVO, der für Zivilisten ursprünglich nur gelautet habe: "infolge Luftangriffen", und erst später auf "infolge Feindeinwirkung" ausgeweitet sei, vertritt die Beklagte den Standpunkt, daß trotz Fehlens einer ausdrücklichen Bestimmung unmittelbare Feindeinwirkung gefordert werden müsse.
Die Beklagte hat beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt demgegenüber
die kostenpflichtige Zurückweisung der Revision.
Sie beruft sich dafür auf die von ihr als zutreffend angesehene Begründung des angefochtenen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt. Sie ist vom LSG. zugelassen und daher statthaft. Der Revision war auch sachlich der Erfolg nicht zu versagen.
Da die Klägerin unstreitig die für sie an sich in Betracht kommende Wartezeit von 60 Beitragsmonaten nach den auf den vorliegenden Versicherungsfall (Februar 1943) anzuwendenden Bestimmungen nicht erfüllt hat, ist sie zum Rentenbezug nur dann berechtigt, wenn entsprechend der Annahme des LSG. wegen der Besonderheiten des Falles die Wartezeit als erfüllt gilt; hierbei war zunächst zu prüfen, ob auf den vorliegenden Fall die frühere Vorschrift des § 1263 a Nr. 3 RVO a.F. oder die neue Vorschrift des § 1252 Nr. 3 RVO n.F. (sonstige Vorschriften kommen bei dem Sachverhalt nicht in Frage) anzuwenden ist.
Da der Versicherungsfall der Invalidität vor dem 1. Januar 1957 eingetreten ist und in Art. 2 § 10 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) der Nr. 3 des § 1252 keine Rückwirkung beigelegt wird, ist nach Art. 2 § 5 ArVNG das frühere Recht anzuwenden. Der demnach maßgebende § 1263 a in Nr. 3 bestimmte, daß die Wartezeit als erfüllt gilt, wenn der Versicherte infolge Feindeinwirkung invalide geworden ist.
Das Gesetz fordert somit den ursächlichen Zusammenhang zwischen Feindeinwirkung und Invalidität.
Dem LSG. ist zuzugeben, daß die Feindeinwirkung auch eine bloß psychische sein kein. Dies hat grundsätzlich auch der 10. Senat des Bundessozialgerichts (BSG.) in seinem Urteil vom 15. November 1955 für die nach § 5 Abs. 1a des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) als unmittelbare Kriegseinwirkung geltenden Kampfhandlungen bei Bombenangriffen angenommen. Der Begriff der unmittelbaren Kriegseinwirkung im Versorgungsrecht deckt sich aber nicht mit demjenigen der Feindeinwirkung nach § 1263a RVO, wie auch der 1. Senat in seinem Urteil vom 17. Juli 1957 (SozR. RVO § 1263 a a.F. Bl. Aa 1 Nr. 1) ausgesprochen hat, in dem unter Feindeinwirkung ein Ereignis verstanden wird, das vom Gegner selbst mit seinen Mitteln hervorgerufen wird, die er im Rahmen seines Kriegsplans einsetzt und lenkt. Ob im vorliegenden Falle überhaupt von einer Feindeinwirkung im Sinne des Gesetzes gesprochen werden kann, mag zweifelhaft sein. Die Klägerin befand sich nach ihrer eigenen Angabe immerhin 9 km weit von der Stadt Münster, dem Angriffsziel, entfernt. Sie war objektiv nicht durch den Angriff gefährdet und fühlte sich auch nicht gefährdet, da sie den Luftangriff im Freien mit ihrer Familie vor ihrem Hause stehend erlebte. Der Senat brauchte indessen nicht näher auf die Frage einzugehen, welche Bedeutung die Erstreckung des örtlichen Angriffsbereichs und die objektive Gefährdung für den Begriff der Feindeinwirkung haben, da die Revision sich aus einem anderen Grunde ohnehin als begründet erweist.
Es fehlt im vorliegenden Falle an dem vom Gesetz geforderten und vom LSG. auch angenommenen, aber nach Ansicht des erkennen den Senats nicht ausreichenden ursächlichen Zusammenhang zwischen Feindeinwirkung und Invalidität. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG. reichen aus, um dem BSG. eine eigene Entscheidung zu ermöglichen. Das LSG. hat die von den Beteiligten nicht angegriffene Feststellung getroffen, daß der Bombenangriff nur die auslösende Ursache für den Schlaganfall und damit für die Invalidität der bereits vorher an erheblicher Arteriosklerose leidenden Klägerin gewesen ist. Wenn das LSG. auf Grund dieser auch für das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen die Wartezeit als erfüllt geltend ansieht, weil auch die bloß auslösende Ursache nach § 1263a Abs. 1 Nr. 3 RVO a.F. ausreiche, um einen rechtlich bedeutsamen Kausalzusammenhang zwischen Feindeinwirkung und Invalidität zu begründen, so befindet es sich zwar in Übereinstimmung mit der Entscheidung des Bayerischen LSG. vom 1. Juni 1954 (Amtsbl. des Bayer. Arb. u. Soz.Min. 1954 S. 204 B) und dem Kommentar zum Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) von Koch-Hartmann (S. 394). Der erkennende Senat vermag sich dieser Ansicht jedoch nicht anzuschließen. Dem System der Invalidenversicherung - wie auch dem der neuen Arbeiterrentenversicherung - ist an sich der Gedanke fremd, daß die Ursachen für den Eintritt der Invalidität oder Berufsunfähigkeit eine rechtliche Bedeutung für den Rentenanspruch haben, wenn man von den besonderen Tatbeständen der §§ 1261 und 1313 RVO a.F. absieht. Auch in den Fällen des § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 und 3 RVO a.F. ist dies nicht anders, insoweit es sich darum handelt, ob der Versicherungsfall der Invalidität eingetreten ist. In diesen Vorschriften wird der Nachweis bestimmter Ursachen für den Eintritt der Invalidität lediglich als Voraussetzung für die vom Gesetz vorgesehene ausnahmsweise Fiktion der Erfüllung der Wartezeit trotz unzureichender Beitragszahlung verlangt. Wegen des Ausnahmecharakters dieser das Versicherungsprinzip durchbrechenden Vorschriften Können sie nicht extensiv und vor allem nicht weiter ausgelegt werden, als es der ständigen Rechtsprechung auf den Rechtsgebieten entspricht, bei denen die Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Unfall oder Feindeinwirkung entschädigt wird, d.h. der Unfallversicherung und der Versorgung nach dem BVG. Der Umstand, daß hier nur der jeweilig verursachte Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit durch eine entsprechende Teilrente entschädigt wird, während die Invalidenrente eine unteilbare Leistung ist, die nur ganz oder gar nicht gewährt werden kann, steht dem nicht entgegen. Auch die Invalidenrente wird für eine - wenn auch nur für eine ganz bestimmte - Minderung der Erwerbsfähigkeit gewährte. Die in der Unfallversicherung und in der Kriegsopferversorgung (KOV) geltende Kausalitätsnorm im Sinne des Begriffs der "wesentlichen Teilursache" muß nach Ansicht des erkennenden Senats auch für die Verursachung in den Fällen des § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 und 3 gelten. Es genügt nicht, daß ein Ereignis oder eine Tatsache irgendwie Ursache war und den Erfolg ausgelöst hat, sondern es muß sich um eine wesentlich mitwirkende Ursache handeln. Auf Grund der Feststellungen des LSG. muß davon ausgegangen werden, daß der Bombenangriff zwar die zum Schlaganfall führende auslösende Ursache, jedoch keine wesentlich mitwirkende Teilursache war, die vielmehr in dem körperlichen Zustand der Klägerin lag. Die Klägerin ist daher nicht infolge Feindeinwirkung invalide geworden, so daß ihr die Vergünstigung des § 1263 a für die Erfüllung der Wartezeit nicht zugute kommt.
Das Urteil des LSG. mußte daher aufgehoben werden, da der Klägerin wegen Nichterfüllung der Wartezeit keine Invalidenrente zusteht. Die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des SG. war zurückzuweisen. Kosten waren nach § 193 SGG nicht zu erstatten.
Fundstellen