Entscheidungsstichwort (Thema)
Erziehungsgeldanspruch. Studentin. Erwerbstätigkeit weniger als 19 Stunden. hinreichende Erziehung und Betreuung. Ausbildungsprivileg
Leitsatz (amtlich)
Eine neben einem Hochschulstudium ausgeübte Erwerbstätigkeit von bis zu 19 Stunden einschließlich steht dem Bezug von Erziehungsgeld nicht entgegen.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
BErzGG § 1 Abs. 1 Nr. 4 Fassung:1992-01-21, § 2 Abs. 1 Nrn. 1, 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. Oktober 1996 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die 1967 geborene Klägerin beantragte am 15. April 1993 bei dem beklagten Land Er-ziehungsgeld (Erzg) nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) für ihre am 11. Februar 1993 geborene Tochter A …. Dabei teilte sie mit, neben der Erziehung des Kindes benötigte sie für ihr Jurastudium 25-30 Stunden, für eine Tätigkeit als freie Mitarbeiterin in einem Fitneßstudio außerdem weniger als 19 Stunden wöchentlich. Der Beklagte lehnte den Antrag ab, da die vom Gesetz vorgesehene Grenze von 19 Wochenstunden für eine zulässige Erwerbstätigkeit bei Zusammenrechnen der Zeiten für Erwerbstätigkeit und Studium überschritten sei; für die Betreuung des Kindes bleibe daher nicht mehr genügend Zeit (Bescheid vom 22. Juli 1993 und Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 1994).
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin Erzg für die Dauer von 24 Monaten zu gewähren; das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteile vom 11. Januar bzw 11. Oktober 1996). Das LSG hat ausgeführt, das Studium stelle keine Erwerbstätigkeit dar und dürfe auch nicht wie eine solche berücksichtigt werden. Hinsichtlich der Kumulation der Tatbestände „Erwerbstätigkeit” und „Studium” liege auch keine Gesetzeslücke vor: Die – nicht volle – Erwerbstätigkeit zur Finanzierung des Studiums sei in einer Vielzahl von Fällen üblich; das könne der Gesetzgeber nicht übersehen haben.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Beklagte die Verletzung von § 1 Abs 1 Nr 4 iVm § 2 Abs 1 Nrn 1 und 3 BErzGG. Es könne nicht auf den bloßen Wortlaut des Gesetzes ankommen; vielmehr müsse gemäß Sinn und Zweck des BErzGG gefragt werden, ob auch neben einem Studium noch genügend Zeit für die Betreuung des Kindes bleibe.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. Oktober 1996 sowie des Sozialgerichts Kiel vom 11. Januar 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Erzg, weil sie nur einer Erwerbstätigkeit von bis zu 19 Stunden wöchentlich nachgeht; das Studium steht dem Anspruch nicht entgegen.
Nach § 1 Abs 1 BErzGG in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung der Neufassung des BErzGG vom 21. Januar 1992 (BGBl I, 68) hat Anspruch auf Erzg, wer einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BErzGG hat, mit einem Kind, für das ihm die Personensorge zusteht, in einem Haushalt lebt, dieses Kind selbst betreut und erzieht sowie keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt. Nach § 2 Abs 1 BErzGG liegt keine volle Erwerbstätigkeit vor, wenn die wöchentliche Arbeitszeit 19 Stunden nicht übersteigt … oder eine Beschäftigung zur Berufsbildung ausgeübt wird.
Nach den vom Beklagten nicht angegriffenen Feststellungen des LSG wohnt die Klägerin in einem Haushalt mit ihrer Tochter, für die ihr die Personensorge zusteht und die sie neben dem Studium und der Erwerbstätigkeit betreut und erzieht; die Klägerin übt auch keine volle Erwerbstätigkeit aus. Die Erwerbstätigkeit der Klägerin in einem Fitneßstudio beansprucht weniger als 19 Stunden wöchentlich, was gemäß § 2 Abs 1 BErzGG keine volle Erwerbstätigkeit iS der §§ 1, 2 BErzGG darstellt.
Aus dem von der Klägerin außerdem betriebenen Hochschulstudium ergibt sich bei isolierter Betrachtung nichts anderes. Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, stellt ein Hochschulstudium keine Erwerbstätigkeit iS der § 1 Abs 1 und § 2 BErzGG dar. Erwerbstätigkeit iS dieser Vorschriften ist die unselbständige Beschäftigung gegen Entgelt oder die selbständige Tätigkeit zur Erzielung eines wirtschaftlichen Erfolges (ähnlich Zmarzlik/Zipperer/Viethen, Mutterschutzgesetz, Mutterschaftsleistungen, BErzGG, 7. Aufl 1994, § 1 BErzGG RdNr 44 und § 2 BErzGG RdNr 4; Weisberg in Hambüchen, Kindergeld/Erzg, Stand Dezember 1990, § 2 BErzGG, RdNr 8; Wiegand, Kommentar zum BErzGG, Stand September 1996, § 1 RdNr 33 und § 2 RdNrn 5 f; Meisel/Sowka, Mutterschutz und Erziehungsurlaub, 4. Aufl 1995, § 1 BErzGG RdNr 13 und § 2 BErzGG RdNr 5; Hönsch, Erziehungs- und Kindergeldrecht 2. Aufl 1991, RdNr 49; Stevens-Bartol, BErzGG, 2. Aufl 1989, Anm 2). Studenten stehen nicht in einem Beschäftigungsverhältnis (BSG SozR 3-7833 § 2 Nrn 3 und 4). Sie üben auch keine selbständige Tätigkeit zur – unmittelbaren – Erzielung von Einkünften aus. Der Begriff der „Erwerbstätigkeit” kann nicht ausdehnend ausgelegt oder analog so verstanden werden, daß auch ein Hochschulstudium darunterfällt (Zmarzlik/Zipperer/Viethen aaO § 2 BErzGG RdNr 5; Weisberg aaO; Wiegand aaO; Meisel/Sowka aaO; Hönsch aaO RdNr 51). Ein Hochschulstudium allein ist daher, unabhängig vom Umfang der Belastung für die erziehende Person, für den Anspruch auf Erzg in jedem Falle „unschädlich” (so auch BT-Drucks 10/3792, S 15; vgl auch Meisel/Sowka aaO; Zmarzlik/Zipperer/Viethen aaO). Die Auffassung von Stevens-Bartol (aaO), nach dem es gegebenenfalls an der Anspruchsvoraussetzung des Betreuens und Erziehens gemäß § 1 Abs 1 Nr 3 BErzGG fehlen soll, läuft auf eine Tatsachenwürdigung im Einzelfall hinaus; als generelle Aussage widerspräche sie der Wertung des Gesetzgebers und verstieße im Hinblick auf die zur Berufsbildung Beschäftigten (§ 2 Abs 1 Nr 3 BErzGG) auch gegen den Gleichheitsgrundsatz (vgl dazu unten).
Der Fall der Kumulation einer Erwerbstätigkeit im Umfang einer Teilzeitbeschäftigung mit einem Hochschulstudium ist im Gesetz allerdings nicht ausdrücklich geregelt. Dem Beklagten ist einzuräumen, daß das – neben der Erwerbstätigkeit von „unter 19 Stunden” wöchentlich in einem Fitneßstudio – von der Klägerin betriebene Hochschulstudium nach dem vom LSG festgestellten Umfang (aufgrund der eigenen Angaben der Klägerin 25-30 Stunden wöchentlich, während der Examensvorbereitung „gelegentlich auch mehr”) nicht der ursprünglichen Intention des BErzGG entsprach, die „Zuwendung zum Kind” in einem erheblichen Umfang zu erreichen (BT-Drucks 11/4708, S 1; BSG SozR 3-2200 § 1227a Nr 7; BSG SozR 3-7833 § 2 Nr 3). Die Klägerin hat für die Erwerbstätigkeit und das Hochschulstudium zusammen etwa so viel Zeit aufgewendet wie eine „voll” Erwerbstätige im Durchschnitt für ihren Beruf; diese verliert aber bereits bei einem Umfang von mehr als 19 Stunden wöchentlich ihren Anspruch auf Erzg (§ 2 Abs 1 Nr 1 BErzGG).
Entgegen der Auffassung des Beklagten kann aus § 1 Abs 1 Nr 3 BErzGG nicht allgemein hergeleitet werden, daß der Anspruch auf Erzg außerdem bei Kumulation einer Erwerbstätigkeit von 19 Stunden oder weniger mit einem Hochschulstudium entfällt, weil dann keine ausreichende Zeit für die persönliche Betreuung des Kindes zur Verfügung steht. Dies gilt jedenfalls solange nicht, wie die zeitliche Inanspruchnahme durch Erwerbstätigkeit und Studium nicht deutlich und regelmäßig über 48 Stunden wöchentlich liegt. Wie der Senat schon früher ausgeführt hat, hat der Gesetzgeber den häufig auftretenden Zielkonflikt junger Menschen gesehen, Berufsausbildung und Elternschaft, insbesondere eine solche mit intensiver Zuwendung zum Kind, zu verbinden, und diesen Zielkonflikt im Sinne eines „Ausbildungsprivilegs” gelöst, ua weil der Abschluß der Ausbildung gerade auch im Interesse des Kindes liege (BT-Drucks 11/4708, S 3 und 11/4776, S 2 f; BSG SozR 3-7833 § 2 Nrn 1, 3 und 4) – auch wenn, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, dieses Ergebnis, also der weitgehende Verzicht auf die verhaltenssteuernde Wirkung des Erzg, dem ursprünglichen Gesetzeszweck auf den ersten Blick widerspricht. Daher hat der Gesetzgeber zum einen eine „Beschäftigung zur Berufsbildung” von mehr als 19 Stunden wöchentlich sowie den Bezug verschiedener Lohnersatzleistungen (Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld, Übergangsgeld und Unterhaltsgeld) nach einer Beschäftigung zur Berufsbildung von mehr als 19 Stunden wöchentlich bzw einem entsprechenden Arbeitseinkommen ausdrücklich vom anspruchsausschließenden Tatbestand einer vollen Erwerbsfähigkeit ausgeklammert (§ 2 Abs 1 Nr 3, Abs 2 Nr 2 BErzGG); zum anderen hat er auch die Belastung durch ein Hochschulstudium von mehr als 19 Stunden wöchentlich – die ihm als der Regelfall bekannt gewesen sein muß – ebenfalls nicht zum Anlaß einer anspruchsausschließenden Regelung genommen, sondern ein Studium ausdrücklich und ohne jegliche Einschränkung als „unschädlich” bezeichnet (vgl oben).
Auch die Konstellation, daß neben einem normalen Hochschulstudium noch eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, dürfte vom Gesetzgeber kaum übersehen worden sein; er hat nämlich in anderem Zusammenhang Rechtsfolgen daran geknüpft: So hat er in § 6 Abs 1 Nr 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) die Versicherungsfreiheit solcher Personen bestimmt, die während der Dauer ihres Studiums als ordentliche Studierende einer Hochschule gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind; für Arbeitslose, die gleichzeitig Studenten einer Hochschule sind, hat er hinsichtlich ihrer Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt ausdrücklich eine Vermutung festgelegt, daß nur versicherungsfreie Beschäftigungen, also solche von einem Umfang von unter 15 Stunden wöchentlich, neben dem Studium ausgeübt werden können (§ 120 Abs 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch ≪SGB III≫). Wenn der Gesetzgeber keine Regelung zum Ausschluß des Anspruchs auf Erzg bei einem Studium und einer daneben ausgeübten Erwerbstätigkeit von 19 Stunden und weniger getroffen hat, muß nicht auf ein Versehen, sondern eher darauf geschlossen werden, daß das Ausbildungsprivileg auch diesen Fall umfassen sollte. Wenn das Privileg der „zur Berufsbildung” Beschäftigten aus Gründen der Gleichbehandlung mit Studenten und Schülern eingefügt worden ist (BSG SozR 3-7833 § 2 Nrn 1, 3, 4), spricht das ebenfalls dagegen, eine Gesamtbelastung von mehr als 19 Stunden durch eine Erwerbstätigkeit und ein Studium bereits als anspruchsausschließend zu betrachten, weil dies auch bei einer vollen Beschäftigung zur Berufsbildung nicht der Fall ist, die bis zu 48 Stunden wöchentlich betragen kann (§ 3 Arbeitszeitgesetz). Bis zu einer ebensolchen zeitlichen Inanspruchnahme durch Erwerbstätigkeit und Studium zusammengenommen ist zu vermuten, daß eine hinreichende Erziehung des Kindes noch möglich ist.
Wenn die Klägerin durch das Studium in der Examensphase nach ihren eigenen Angaben „gelegentlich auch mehr” (als 25-30 Stunden wöchentlich) belastet gewesen ist – so die auch insoweit vom Beklagten nicht angegriffenen Feststellungen des LSG – steht auch dies dem Anspruch auf Erzg nicht entgegen. Die Klägerin konnte trotz der häuslichen Examensvorbereitung ihr Kind noch hinreichend betreuen und erziehen. Der Fall gibt keine Veranlassung, darauf einzugehen, ob und wo eine Mindestgrenze für eine ausreichende Erziehungstätigkeit anzusetzen wäre, weil der Klägerin immer noch etwa so viel Zeit wie bei einer vollen Beschäftigung zur Berufsbildung für die Erziehung ihres Kindes zur Verfügung gestanden hat. Soweit die Klägerin während der Prüfungszeit gelegentlich auch mehr als 48 Stunden wöchentlich nicht für die Erziehungsaufgaben zur Verfügung gestanden haben sollte, kann dies wegen der nur kurzzeitigen Dauer – ohne daß dazu noch genauere Feststellungen getroffen werden müßten – außer Betracht bleiben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1175343 |
FamRZ 1998, 1578 |
SozR 3-7833 § 2, Nr.6 |
SozSi 2000, 70 |