Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufskrankheit. Anerkennung. Eintritt des Versicherungsfalls: Stichtag
Leitsatz (redaktionell)
Eine chronische obstruktive Bronchitits kann nur dann als Berufskrankheit Nr. 4111 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung – BKV anerkannt und entschädigt werden, wenn der Versicherungsfall nach dem 31.12.1992 eingetreten ist.
Die Stichtagsregelung des § 6 Abs. 1 BKVO aF bzw § 6 Abs. 2 BKVO nF ist mit höherrangigem Recht vereinbar.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 1 Nr. 2, §§ 551, 548; SGB VII §§ 212, 56 Abs. 1 S. 1, § 9 Abs. 1, § 7 Abs. 1; BKVO aF § 6 Abs. 1; BKVO nF § 6 Abs. 2; Anlage zur BKVO Nr. 4111; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 12. Oktober 2005 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Verletztenrente auf Grund einer Berufskrankheit (BK) nach Nr 4111 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO).
Der im Jahre 1934 geborene Kläger war in der Zeit vom 11. Juli 1951 bis 30. Juni 1953 und erneut vom 8. Februar 1954 bis zum 15. Mai 1979 im Bergbau unter Tage tätig.
Im Anschluss an die von Dr. G… am 18. Juni 2003 geäußerte Verdachtsdiagnose auf das Vorliegen einer Berufskrankheit entsprechend der Nr 4111 der Anlage zur BKVO ermittelte die Beklagte durch ihren Technischen Aufsichtsdienst eine Staubbelastung des Klägers von 111 Feinstaubjahren. Dennoch lehnte sie mit Bescheid vom 18. Februar 2004 die Anerkennung der BK Nr 4111 ab, weil der Versicherungsfall auf Grund der beim Kläger bestehenden chronischen Bronchitis und des Emphysems seit dem 15. September 1992 und damit vor dem Stichtag des 31. Dezember 1992 eingetreten sei.
Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, der Eintritt des Versicherungsfalles liege erst nach dem 1. Januar 1993. Im Übrigen halte er die Stichtagsregelung für verfassungswidrig. Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 2004 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte ergänzend aus, bereits während der Kur in Bad Rothenfelde vom 15. September bis 13. Oktober 1992 habe sich eine gemischte Ventilationsstörung und eine deutliche Lungenüberblähung gezeigt und ab Ende Oktober 1992 seien regelmäßig bronchialerweiternde Medikamente verordnet worden.
Das Sozialgericht Dortmund (SG) hat mit Urteil vom 12. Oktober 2005 die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Entschädigung der bei ihm bestehenden chronischen obstruktiven Bronchitis und des Lungenemphysems. Der geltend gemachte Anspruch nach dem hier noch anwendbaren § 551 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit der Nr 4111 der Anlage zur BKVO scheitere daran, dass der Versicherungsfall vor dem 1. Januar 1993 eingetreten sei. Die Kammer stütze sich insoweit ohne Einschränkung auf das von ihr eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. von Z…, der anhand der von ihm ausgewerteten ärztlichen Unterlagen und Lungenfunktionsergebnisse vom Eintritt des Versicherungsfalls bereits am 16. Juli 1988 ausgehe. Schon im Jahre 1988 habe eine mittel- bis schwergradige, teilreversible Atemwegsobstruktion und eine schwergradige Überblähung mit konsekutiver Minderung der Vitalkapazität vorgelegen. Der Sachverständige habe auf Grund der gesamten Lungenfunktionsergebnisse sowohl die Diagnose gestellt als auch die erwerbsmindernde Auswirkung der chronischen obstruktiven Bronchitis und des Lungenemphysems mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH seit dem 16. Juli 1988 bewertet. Die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 2 BKVO sei wirksam und mit der Verfassung vereinbar. Die Stichtagsregelung in § 6 Abs 2 BKVO sei nicht willkürlich. Die Erkenntnisse in der medizinischen Wissenschaft, die letztlich zur Aufnahme der Nr 4111 in die BK-Liste geführt haben, hätten sich erst im Jahre 1994 soweit verdichtet, dass der Ärztliche Beirat beim Bundesministerium für Arbeit den Vorschlag unterbreitet habe, die chronische obstruktive Bronchitis und das Lungenemphysem als neue Berufskrankheiten in die BK-Liste aufzunehmen. Soweit der Verordnungsgeber von diesen Erkenntnissen ausgehend nur eine Rückwirkung von zwei Jahren hinsichtlich der Entschädigungspflicht von Versicherungsfällen vor 1994 vorgesehen habe, sei dies nicht willkürlich, selbst wenn es auf Grund der technischen Verringerungen der Staubbelastungen im Bergbau letztlich dazu führe, dass ein Großteil der staubbedingten Erkrankungsfälle nicht zu entschädigen sei.
Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt der Kläger (sinngemäß) die Verletzung von Verfassungsrecht; die Regelung des § 6 Abs 2 BKVO verletze Art 3 Grundgesetz (GG), weil der in der BKVO genannte Stichtag die überwiegende Zahl der einer entsprechenden Feinstaubbelastung ausgesetzten Bergleute von einer Entschädigung ausschließe. Die Anerkennung der chronischen Emphysembronchitis als Berufskrankheit betreffe im Wesentlichen eine Gefährdung, die bekanntermaßen ausschließlich in der Vergangenheit vorgelegen habe. Die Mehrzahl der davon betroffenen Bergleute sei entweder bereits verstorben oder habe sich die BK Nr 4111 vor dem Stichtag zugezogen, sodass die Aufnahme der Nr 4111 in die BK-Liste im Ergebnis leer laufe. Neue Versicherungsfälle könne es kaum noch geben, da inzwischen die Staubbelastung durch verbesserte Arbeitsschutzmaßnahmen radikal reduziert worden sei. Der Verordnungsgeber sei mit dem Urteil des erkennenden Senats vom 30. September 1999 (BSGE 85, 24 = SozR 3-2200 § 551 Nr 13) für verpflichtet angesehen worden, die weitere Entwicklung zu beobachten und notfalls korrigierend einzugreifen, falls sich die ursprüngliche Tendenz bestätige, dass eine unverhältnismäßig große Gruppe von Versicherten durch die Stichtagsregelung des § 6 Abs 2 BKVO von der Entschädigung ausgeschlossen sei. Zudem sei bei vielen Bergleuten die Anerkennung einer Silikose als Berufskrankheit mit der Begründung abgelehnt worden, es liege keine Silikose, sondern “nur” eine chronische Emphysembronchitis vor. Eine entsprechende Überprüfung der Angemessenheit der Stichtagsregelung durch den Verordnungsgeber sei nicht ersichtlich, weshalb eine sachgerechte Korrektur der Rückwirkungsklausel nicht erfolgt sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 12. Oktober 2005 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 18. Februar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Oktober 2004 zu verurteilen, dem Kläger wegen einer Berufskrankheit nach Nr 4111 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung ab dem 16. Juli 1988 eine Verletztenrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 vH zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und hat Zahlenmaterial zur Entwicklung der BK Nr 4111 seit 1999 vorgelegt. Danach waren bis zum 18. Juli 2005 insgesamt 20.911 Anträge oder Anzeigen wegen chronischer Emphysembronchitis eingegangen; davon hatten (abgesehen vom Zeitpunkt des Versicherungsfalls) insgesamt 8.204 Fälle die Entschädigungsvoraussetzungen erfüllt, und zwar 5.346 Fälle (65 vH) auf Grund eines Versicherungsfalls vor und 2.858 Fälle (35 vH) auf Grund eines Versicherungsfalls nach dem Stichtag. Im Juli 2001 hatte das entsprechende Verhältnis noch 76 zu 24 vH betragen. Die Beklagte schließt aus der statistischen Auswertung, dass nach den im Senatsurteil vom 30. September 1999 aufgestellten Grundsätzen kein Anlass für den Verordnungsgeber bestehe, den Stichtag neu festzulegen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägers ist unbegründet. Das SG hat zutreffend erkannt, dass die angefochtenen Bescheide den Kläger nicht in seinen Rechten verletzen. Er hat keinen Anspruch auf die von ihm begehrte Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit nach Nr 4111 der Anlage zur BKVO.
Einzig denkbare Anspruchsgrundlage für die geltend gemachte Entschädigung wegen des Vorliegens einer BK ist § 581 Abs 1 Nr 2 iVm §§ 548, 551 Abs 1 RVO. Diese Vorschriften sind zwar mit Wirkung vom 1. Januar 1997 durch § 56 Abs 1 Satz 1, § 7 Abs 1, § 9 Abs 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) ersetzt worden, jedoch sind die bisherigen Vorschriften auf vor diesem Zeitpunkt eingetretene Versicherungsfälle weiterhin anzuwenden (Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 SGB VII). Abgesehen davon haben sich die Voraussetzungen für eine Entschädigung einer Krankheit als Berufskrankheit mit der Einführung des SGB VII nicht geändert, sodass das Ergebnis des Rechtsstreits von dieser Frage nicht abhängt.
Voraussetzung für Entschädigungsleistungen wegen des Vorliegens einer Berufskrankheit ist demnach, dass die Erwerbsfähigkeit des Versicherten durch die Berufskrankheit wenigstens um ein Fünftel bzw um wenigstens 20 vH gemindert ist (§ 581 Abs 1 Nr 2 RVO, jetzt: § 56 Abs 1 SGB VII). Nach den vom SG getroffenen und für den Senat bindenden Feststellungen (§ 163 Sozialgerichtsgesetz – SGG) leidet der Kläger an einer chronischen obstruktiven Bronchitis und an einem Lungenemphysem, die er sich wahrscheinlich auf Grund seiner Berufstätigkeit unter Tage zugezogen hat. Die durch diese Erkrankungen bedingte MdE beträgt um 20 vH. Obwohl damit die Voraussetzungen für das Vorliegen einer BK Nr 4111 erfüllt sind, steht § 6 Abs 1 BKVO idF vom 31. Oktober 1997 (jetzt: § 6 Abs 2 BKVO idF vom 5. September 2002 – BGBl I 3541, neue Fassung – nF) dem Entschädigungsanspruch des Klägers entgegen, weil nach dieser Vorschrift die Erkrankung nach Nr 4111 der Anlage zur BKVO nur dann als Berufskrankheit anerkannt und entschädigt werden kann, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten ist.
Der Inhalt dieser Vorschrift ist eindeutig. Insbesondere hat der Senat im Urteil vom 30. September 1999 näher ausgeführt, was unter dem Begriff “Versicherungsfall” zu verstehen ist (BSGE 85, 24, 25 = SozR 3-2200 § 551 Nr 13 S 48 f mwN). Danach meint der Begriff “Versicherungsfall” im Sinne dieser Vorschrift das Vorliegen der Voraussetzungen für den Anspruch des Versicherten auf Anerkennung einer Berufskrankheit iS des § 551 Abs 1 RVO/§ 9 Abs 1 SGB VII. Auch die Revision geht von keinem anderen Begriff des Versicherungsfalls aus.
Dass der Versicherungsfall in diesem Sinne vor dem 1. Januar 1993 eingetreten ist, ergibt sich mit hinreichender Sicherheit aus den mit Hilfe von Sachverständigengutachten getroffenen Feststellungen des SG. Selbst angesichts der Schwierigkeiten, denen die nachträgliche Ermittlung eines weit zurück liegenden Entstehungszeitpunkts insbesondere der chronischen obstruktiven Bronchitis ausgesetzt ist, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die von der Beklagten und vom SG eingeschalteten Gutachter die für eine derartige Feststellung generell geltenden medizinischen Standards (vgl LSG NRW vom 12. Oktober 2000 – L 2 KN 1/00 U – mwN) missachtet hätten. Insbesondere beruht die Annahme einer schon vor dem Stichtag belegten Obstruktion und Chronifizierung auf entsprechenden Lungenfunktionsprüfungen und auf zeitnah erhobenen Befunden (zu den Kriterien vgl Merkblatt zur BK 4111, BArbBl 12/1997 S 35; Konsenspapier zur Begutachtung der BK 4111, ASU 1999, 79). Auf dieser Grundlage durfte das SG die Überzeugung gewinnen, dass der Gesundheitszustand des Klägers durch die Erkrankung jedenfalls schon seit 1992, wenn nicht bereits seit 1988 erheblich beeinträchtigt ist. Im Übrigen sind letztlich gegen die tatsächlichen Feststellungen zum Eintritt des Versicherungsfalls keine Einwendungen der Beteiligten im Verfahren vor dem SG erhoben worden. Der Kläger geht in seiner Revisionsbegründung und auch mit seinem Revisionsantrag selbst davon aus, dass der Versicherungsfall bereits im Jahre 1988 eingetreten ist.
Die Stichtagsregelung des § 6 Abs 1 BKVO in der ab 1. Dezember 1997 geltenden Fassung (aF), die inhaltsgleich jetzt in § 6 Abs 2 BKVO nF enthalten ist, steht einem Anspruch aus § 551 Abs 2 RVO entgegen, wie der Senat in seinem Urteil vom 30. September 1999 (BSGE 85, 24, 31 f = SozR 3-2200 § 551 Nr 13 S 55 f) dargelegt hat. Die diesbezüglichen Ausführungen des Senats in diesem Urteil sind nicht dadurch obsolet geworden, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seinem Beschluss vom 23. Juni 2005 (1 BvR 235/00 – SozR 4-1100 Art 3 Nr 32) das zitierte Urteil des erkennenden Senats aufgehoben hat. Mit dem Beschluss des BVerfG wurde die Stichtagsregelung des § 6 Abs 1 BKVO aF nicht in Frage gestellt. Das BVerfG hat lediglich entschieden, dass eine Krankheit unabhängig von einer bereits konkret geplanten Stichtagsregelung auch dann nach § 551 Abs 2 RVO bzw § 9 Abs 2 SGB VII wie eine Berufskrankheit anzuerkennen ist, wenn schon vor In-Kraft-Treten der in Aussicht genommenen Beschränkung auf Versicherungsfälle nach einem bestimmten Stichtag ein entscheidungsreifer Antrag des Versicherten beim Unfallversicherungsträger vorliegt. Der Versicherungsträger ist in diesen Fällen nicht berechtigt, die Entscheidung zu Lasten des Versicherten hinauszuzögern. Diese Rechtsprechung ist vorliegend nicht heranzuziehen, weil der Kläger den Antrag auf Anerkennung und Entschädigung seiner Berufskrankheit erst nach dem Inkrafttreten der geänderten BKVO gestellt hat. Damit ist das Verwaltungsverfahren erst nach der Aufnahme der Nr 4111 in die BK-Liste eingeleitet worden; der Fall einer verzögerten Verwaltungsentscheidung zu Lasten des Klägers liegt nicht vor.
Die Stichtagsregelung des § 6 Abs 1 BKVO aF bzw § 6 Abs 2 BKVO nF ist auch mit höherrangigem Recht vereinbar. Dies hat der Senat ebenfalls im Grundsatz bereits mit dem Urteil vom 30. September 1999 entschieden, sodass wegen der Einzelheiten hierauf Bezug genommen werden kann (BSGE 85, 24, 26 = SozR 3-2200 § 551 Nr 13 S 49 f). Auch in diesem Zusammenhang steht der Beschluss des BVerfG vom 23. Juni 2005 (1 BvR 235/00 – SozR 4-1100 Art 3 Nr 32) den damaligen Darlegungen des Senats zur Verfassungsmäßigkeit der Stichtagsregelung nicht entgegen, weil die Entscheidung des Senats nicht wegen einer verfassungswidrigen Anwendung der Rückwirkungsklausel, sondern wegen der gegen höherrangiges Recht verstoßenden Auslegung des § 551 Abs 2 RVO/§ 9 Abs 2 SGB VII aufgehoben worden ist. Das BVerfG hat in seinem Beschluss ausdrücklich offen gelassen, ob die Stichtagsregelung des § 6 Abs 2 BKVO nF verfassungsrechtlich zu beanstanden sei, ist jedoch insoweit den Ausführungen des Bundessozialgerichts (BSG) auch nicht entgegengetreten. Die vom erkennenden Senat in seinem Urteil vom 30. September 1999 (aaO) geäußerten Bedenken gegen die Stichtagsregelung betrafen auch nicht deren generelle Zulässigkeit, sondern lediglich deren eventuelle Auswirkungen allein im Hinblick auf die mit der geänderten BKVO neu eingeführte BK Nr 4111. Hinsichtlich der generellen Zulässigkeit dieser Stichtagsregelung hat der Senat nach erneuter Prüfung weiterhin keine Zweifel daran, dass diese mit der Verfassung, insbesondere mit Art 3 GG, vereinbar ist. Die Verfassungsmäßigkeit der Stichtagsregelung ist auch vom 2. Senat des BSG in seinem Urteil vom 24. Februar 2000 – B 2 U 43/98 R (SozR 3-2200 § 551 Nr 14) – für die ebenfalls neu eingeführte BK Nr 1317 – bejaht worden (vgl auch die Ausführungen zur Wirksamkeitsvoraussetzung einer Rückwirkungsklausel in BSG SozR 4-2400 § 89 Nr 1). Schließlich hat das BVerfG mit Beschluss vom 9. Oktober 2000 (1 BvR 791/95 – SozR 3-2200 § 551 Nr 15) die Verfassungsmäßigkeit der mit der hier in Rede stehenden vergleichbaren Stichtagsregelung des Art 2 Abs 2 der BKVO idF vom 18. Dezember 1992 festgestellt und hierzu insbesondere ausgeführt, dass der Verordnungsgeber den Stichtag für die Bestimmung der Entschädigungsfähigkeit so genannter Altfälle auch an dem Zeitpunkt ausrichten kann, zu dem nach seiner Einschätzung die entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgelegen und die Umsetzungsreife iS von § 551 Abs 1 Satz 2 RVO aufgewiesen haben. Der Gesetz- bzw Verordnungsgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehalten, Verbesserungen bei den Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung auf der Grundlage neuer medizinischer Erkenntnisse auf alle Personen zu erstrecken, deren Krankheit vor dem Zeitpunkt dieser Erkenntnisse aufgetreten ist. Dem Verordnungsgeber steht auch ein fachlicher und sozialpolitischer Spielraum in Bezug auf die Frage zu, ob die Voraussetzungen des § 551 Abs 1 Satz 2 RVO gegeben sind, denn es ist primär Sache des Verordnungsgebers zu entscheiden, ab welchem Zeitpunkt wissenschaftliche Erkenntnisse die Umsetzungsreife aufweisen. Die Entscheidung des Verordnungsgebers kann lediglich darauf überprüft werden, ob dieser den ihm eingeräumten Spielraum vertretbar ausgefüllt hat (BVerfG vom 9. Oktober 2000 – aaO; bestätigt mit Beschluss vom 24. Oktober 2000 – 1 BvR 1319/95 – Juris).
Für die hier in Rede stehende Änderung der BKVO mit der Einführung der neuen BK Nr 4111 war der Gesichtspunkt entscheidend, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Ursachen dieser Berufskrankheit erst im Jahre 1994 eine Qualität erreicht hatten, welche die Aufnahme in die BK-Liste rechtfertigten. Die Wahl des Zeitpunkts der Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats (4. April 1995) kann nicht beanstandet werden. Ein verzögerliches Handeln kann dem Verordnungsgeber nicht vorgeworfen werden, wie der Senat in seinem Urteil vom 30. September 1999 (aaO) bereits ausführlich unter Schilderung und Würdigung der Entstehungsgeschichte dieser Berufskrankheit und deren Aufnahme in die BK-Liste dargelegt hat. Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.
Die Rückwirkungsvorschrift des § 6 Abs 2 BKVO zur BK Nr 4111 beinhaltet keine Sondervorschrift für diese Berufskrankheit; sie regelt die Rückwirkung nach gleichen Maßstäben wie diejenige anderer neu eingeführter Berufskrankheiten. Die Konzeption und Ausgestaltung der Rückwirkungsregelung entspricht zudem den seit 1988 bei der Aufnahme neuer Erkrankungen getroffenen Regelungen und nimmt Bezug auf die letzte vorhergehende Änderung der BKVO, die am 1. Januar 1993 in Kraft getreten ist. Zu diesem Zeitpunkt lagen – wie oben erwähnt – noch keine gesicherten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Verursachung der chronischen Bronchitis und des Lungenemphysems durch Steinkohlenstaub vor. Indem der Verordnungsgeber den Stichtag auf das Inkrafttreten der vorhergehenden Ergänzung der BK-Liste gelegt hat, trägt dieses Vorgehen zur Rechtssicherheit sowie zur Gleichbehandlung aller Versicherten, die an den neu eingeführten Berufskrankheiten leiden, bei (BSGE 85, 24 = SozR 3-2200 § 551 Nr 13 S 52). Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass der Verordnungsgeber mit dem gewählten Stichtag eine ausgewogene und sachgerechte Lösung gefunden hat, die die Interessen der Versicherten, der Unternehmer und der Unfallversicherungsträger berücksichtigt. Damit sind auch die Anforderungen des BVerfG an eine willkürfreie und sachgerechte Regelung bei der Einführung dieser neuen Berufskrankheit und der hierzu ergangenen Rückwirkungsregelung auf den Stichtag 31. Dezember 1992 erfüllt.
Allerdings hat der Senat darauf hingewiesen, dass sich speziell für die vorliegende Berufskrankheit die Stichtagsregelung dann als problematisch herausstellen könnte, wenn ihretwegen nur einem unverhältnismäßig kleinen Kreis von denjenigen Versicherten, die wegen übermäßiger Feinstaubbelastung im Steinkohlenbergbau einen Lungenschaden erlitten haben, eine Entschädigung zuteil würde (BSGE 85, 24, 28 ff = SozR 3-2200 § 551 Nr 13 S 52 ff). Diese Möglichkeit war nicht von vornherein auszuschließen, weil sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Ursachen dieser Berufskrankheit erst zu einem Zeitpunkt verdichtet hatten, als die betrieblichen Ursachen, d.h. die hohen Feinstaubbelastungen unter Tage, durch technische Vorrichtungen weitgehend ausgeschaltet waren. Die gesetzliche Unfallversicherung ist nicht auf den Schutz vor berufsbedingten Gefahren beschränkt, die in ihrem vollen Ausmaß wissenschaftlich erforscht sind, wie § 551 Abs 2 RVO (§ 9 Abs 2 SGB VII) zeigt. Der Ausschluss des Anspruchs aus § 551 Abs 2 RVO durch die mit der Aufnahme einer neuen Berufskrankheit zwangsläufig verbundene Stichtagsregelung ist nur mit Blick auf eine durch Erkenntnisfortschritt bedingte Zäsur akzeptabel. Dabei sind Härten im Einzelfall unvermeidlich. Betrifft eine neue Berufskrankheit jedoch ausschließlich in der Vergangenheit zu realisierende Schädigungstatbestände, kann sich eine Beschränkung des Rückwirkungszeitraums als völliger Entzug der durch § 551 Abs 2 RVO begründeten Aussichten darstellen, der mit dem darin enthaltenen Rechtsgedanken nur schwer in Einklang zu bringen wäre.
Hieraus hat der Senat eine Beobachtungspflicht des Verordnungsgebers dahingehend abgeleitet, dass nach einer angemessenen Zeit zur Sammlung von Erfahrungen zu überprüfen ist, ob die geltende Stichtagsregelung bestehen bleiben kann oder ob der Verordnungsgeber nach seinem pflichtgemäßen Ermessen einen anderen Rückwirkungszeitraum festzulegen hat. Es schien durchaus möglich, dass die in den Verfahren zur Entschädigung dieser Berufskrankheit gewonnenen Erkenntnisse dazu führten, dass auf Grund der Rückwirkungsregel nur ein unverhältnismäßig kleiner Kreis von Versicherten eine Entschädigung erhält, sodass von einer sachgerechten Entscheidung bei der Festlegung des Rückwirkungszeitraums trotz der oben angeführten sachlichen Gesichtspunkte nicht mehr gesprochen werden könnte. Allerdings hat der Senat auch betont, dass eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung des Verordnungsgebers erst dann zulässig ist, wenn dieser es unterlässt, trotz ausreichenden Erfahrungsmaterials eine sachgerechte, in seinem Ermessen liegende Korrektur vorzunehmen.
Dieser Aufforderung zur Überprüfung der Auswirkungen der Stichtagsregelung für die BK Nr 4111 ist der Verordnungsgeber in der Folgezeit nachgekommen. Die von ihm dokumentierte Anerkennungspraxis seit dem Senatsurteil vom 30. September 1999 zeigt jedoch, dass die damals geäußerten rechtlichen Bedenken gegen die Rückwirkungsvorschrift letztlich nicht durchgreifen bzw als ausgeräumt angesehen werden müssen. Entgegen der seinerzeit geäußerten Besorgnis hat der Anteil der stichtagsbedingten Ablehnungen bei Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen ständig abgenommen, sodass die Entscheidung des Verordnungsgebers, die Rückwirkung auf Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1992 zu beschränken, weiterhin als willkürfrei und sachgerecht zu beurteilen ist und dementsprechend keiner Korrektur bedarf.
Zum Zeitpunkt der damaligen Entscheidung wurde von 3.943 Fällen ausgegangen, bei denen an sich ohne Berücksichtigung des Zeitpunkts des Versicherungsfalls die Entschädigungsvoraussetzungen der BK Nr 4111 vorlagen; davon hatte in 3.235 (= 82 vH) Fällen die Erkrankung vor dem 1. Januar 1993 und nur in 708 (= 18 vH) Fällen nach dem 31. Dezember 1992 begonnen. Bei der Überprüfungsentscheidung des Verordnungsgebers zum 31. Juli 2001 war in insgesamt 2.869 Fällen die BK Nr 4111 anerkannt worden. Insgesamt standen 2.869 Anerkennungen 3.966 Ablehnungen wegen des Stichtags der Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 1 BKVO aF bzw § 6 Abs 2 BKVO nF gegenüber. Bezogen auf den Stand vom 18. Juli 2005 haben nach den von der Beklagten vorgelegten Zahlen insgesamt 8.204 Versicherte die Entschädigungsvoraussetzungen, abgesehen vom Zeitpunkt des Versicherungsfalls, erfüllt. Davon waren 5.346 (= ca 65 vH) bereits vor dem 1. Januar 1993 und 2.858 (= ca 35 vH) erst nach dem 31. Dezember 1992 erkrankt. Damit ist der Anteil der stichtagsbedingten Ablehnungen im Beobachtungszeitraum von rund 82 vH auf etwa 65 vH gesunken. Auf Grund dieser Abnahme des Anteils der stichtagsbedingten Ablehnungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die BK Nr 4111 ausschließlich oder jedenfalls nahezu ausschließlich Tatbestände betrifft, die bereits im Zeitpunkt des Stichtags abgeschlossen in der Vergangenheit gelegen haben.
Eine Verpflichtung des Verordnungsgebers, einen anderen – den Kläger unter Umständen begünstigenden – Rückwirkungszeitraum speziell für die BK Nr 4111 einzuführen, kann daher auch in Fortführung der bisherigen Senatsrechtsprechung nicht konstatiert werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
NZS 2007, 135 |
SGb 2007, 157 |