Beteiligte
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. November 1998 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft noch die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 12. August bis 21. September 1992 sowie die hieraus resultierende Erstattung von Alg in Höhe von 1.564,50 DM.
Der Kläger stand seit dem 10. März 1992 im Bezug von Alg. Er nahm am 10. August 1992 eine Beschäftigung auf, die 40 Stunden wöchentlich betragen sollte. In der Folgezeit scheiterte eine Fortführung des Arbeitsverhältnisses über den 11. August 1992 hinaus daran, daß Arbeitgeber und Kläger sich nicht über die Höhe des Arbeitsentgelts einigen konnten. Die Beklagte erfuhr von dem Arbeitgeber, daß der Kläger am 10. und 11. August 1992 insgesamt 18,5 Stunden als Elektriker gearbeitet und ein Bruttoarbeitsentgelt von 333,00 DM verdient hatte. Die Beklagte hob die Bewilligung von Alg für den Zeitraum von der Arbeitsaufnahme (10. August 1992) bis zur nächsten persönlichen Arbeitslosmeldung (22. September 1992) auf und forderte die Erstattung von erbrachten Leistungen in Höhe von 1.653,90 DM (Bescheid vom 22. September 1993; Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1993).
Der Kläger hat im Klageverfahren vorgetragen, er habe nur zwei Tage probehalber gearbeitet. Die vom Arbeitsamt für maßgeblich angesehene Grenze von 18 Arbeitsstunden sei nur geringfügig um eine halbe Stunde überschritten worden. Das Sozialgericht (SG) hat den angefochtenen Bescheid für die Zeit vom 12. August bis 21. September 1992 mit der Begründung aufgehoben, der Kläger habe nicht grob fahrlässig gehandelt, als er am 12. August 1992 keine erneute Arbeitslosmeldung vorgenommen habe. Im übrigen hat das SG die Klage abgewiesen, da die Beklagte insoweit ihre Aufhebungsentscheidung auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) habe stützen können (Urteil vom 1. April 1998).
Auf die von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Voraussetzungen für die Gewährung von Alg seien ab 10. August 1992 wegen der Aufnahme einer mehr als kurzzeitigen Beschäftigung iS des § 102 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) entfallen. Der Kläger habe in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden, welches in der Woche mehr als 18 Stunden gedauert habe, nämlich 18,5 Stunden. Mit dem Beginn des Beschäftigungsverhältnisses habe auch die Arbeitslosmeldung ihre Wirksamkeit verloren. Ein erneuter Leistungsfall habe erst bei erneuter persönlicher Arbeitslosmeldung eintreten können. Für die Entscheidung komme es nicht darauf an, ob der Kläger am 12. August 1992 grob fahrlässig gehandelt habe, als er sich nicht erneut arbeitslos gemeldet habe. Maßgeblich sei allein der Tag der Arbeitsaufnahme am 10. August 1992. Die Frage, ob der Kläger seine Mitteilungspflicht vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt habe, habe das SG bereits rechtskräftig zu Ungunsten des Klägers entschieden (Urteil vom 17. November 1998).
Der Kläger hat die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X, der §§ 101 Abs 1 Satz 1, 102, 105, 115 AFG, des § 60 Abs 1 Satz 1 Nr 2 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) und des Art 103 Abs 1 Grundgesetz. Das LSG habe nicht geprüft, wie der ehemalige Arbeitgeber zu der Angabe 18,5 Arbeitsstunden gelangt sei. Insbesondere habe es nicht geprüft, ob hier eine Aufrundung erfolgt sei oder ob der Arbeitgeber das Gespräch über den Abschluß eines Arbeitsvertrages als Arbeitszeit berücksichtigt habe. Selbst wenn er, der Kläger, 18,5 Stunden gearbeitet hätte, hätte es sich lediglich um eine gelegentliche Abweichung von geringer Dauer gehandelt. Er selbst sei von einer Gesamtarbeitszeit von weniger als 18 Stunden ausgegangen, zumal der Arbeitgeber ihm keine Abrechnung erteilt habe, aus der sich die Überschreitung der 18-Stunden-Grenze nachvollziehbar ergeben habe. Nicht nachvollziehbar sei die Auffassung des LSG, das SG habe zu seinen Ungunsten rechtskräftig entschieden, er habe seine Mitteilungspflicht verletzt. Die ihm unterstellte Feststellung habe das SG gerade nicht getroffen, sondern ihm zugebilligt, er habe nach dem mißglückten Arbeitsversuch vom Fortwirken der Arbeitslosmeldung ausgehen können. Ungünstige Feststellungen des SG seien entgegen der Auffassung des LSG nicht in Rechtskraft erwachsen. Unberücksichtigt gelassen habe das LSG, daß nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X die Arbeitsverwaltung in atypischen Fällen nach ihrem Ermessen ausnahmsweise von der Aufhebung der Alg-Bewilligung absehen könne.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 17. November 1998 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Oldenburg vom 1. April 1998 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, das LSG habe die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Allerdings sei unverständlich, daß sich das LSG hinsichtlich der Umstände, die den Tatbestand des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X erfüllten, an den rechtskräftig gewordenen Teil des Urteils des SG gebunden gefühlt habe. Entgegen der Ansicht des Klägers komme es auf die Rechtsfrage, unter welchen Voraussetzungen gelegentliche Abweichungen von geringer Dauer iS von § 102 Abs 1 Satz 2 AFG vorlägen, nicht an. Die genannte Rechtsfrage sei nicht entscheidungserheblich, weil es bei der Kurzzeitigkeit einer Beschäftigung auf eine vorausschauende Betrachtung (Prognose) ankomme. Die Beschäftigung sei entgegen der ursprünglichen Planung am 11. August 1992 nach einer Gesamtdauer von 18,5 Stunden beendet worden. Diese Wochenstundenzahl sei uneingeschränkt bei der Prüfung der Arbeitslosigkeit zugrunde zu legen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
II
Die Revision des Klägers ist iS der Aufhebung und Zurückverweisung begründet. Die Entscheidung des LSG verletzt §§ 77, 141 SGG. Für eine abschließende Entscheidung des Senats reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht aus.
Rechtsgrundlage für die noch streitige Aufhebung der Leistungsbewilligung vom 12. August bis 21. September 1992 ist § 48 SGB X. Die Vorschrift ermächtigt die Verwaltung zur Aufhebung von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlaß des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Soll die Aufhebung bereits mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse erfolgen, so müssen zusätzlich die Voraussetzungen des Satzes 2 des § 48 Abs 1 SGB X vorliegen.
1. Im Ergebnis zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 SGB X eingetreten ist. Wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 SGB X ist eine für die Anspruchsvoraussetzungen der bewilligten Leistungen rechtserhebliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse (BSGE 59, 111, 112 = SozR 1300 § 48 Nr 19; BSGE 77, 175, 178 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung richtet sich damit nach dem für das Alg maßgebenden materiellen Recht.
Anspruch auf Alg hat nach § 100 Abs 1 AFG, wer arbeitslos ist, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, die Anwartschaft erfüllt, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und Alg beantragt hat. Diese Voraussetzungen sind mit der Aufnahme der Beschäftigung des Klägers am 10. August 1992 entfallen, denn er war ab diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht mehr arbeitslos (§ 101 AFG). Darüber hinaus hat seine Arbeitslosmeldung (§ 105 AFG) mit der Beschäftigungsaufnahme ihre Wirksamkeit verloren (BSGE 44, 164, 173 = SozR 4100 § 134 Nr 3; BSGE 77, 175, 179 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2; BSGE 79, 66, 68 = SozR 3-4100 § 105 Nr 4).
Hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzung Arbeitslosigkeit bedarf es im Hinblick auf die Ausführungen des LSG und das Vorbringen der Beteiligten in der Revisionsinstanz der Klarstellung, daß es nicht darauf ankommt, ob der Kläger tatsächlich weniger als 18 Stunden beschäftigt gewesen ist. Nach § 101 Abs 1 Satz 1 AFG ist ein Arbeitnehmer arbeitslos, der vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht oder nur eine kurzzeitige Beschäftigung ausübt. Kurzzeitig iS des § 101 Abs 1 AFG ist eine Beschäftigung, die auf weniger als 18 Stunden wöchentlich der Natur der Sache nach beschränkt zu sein pflegt oder im voraus durch einen Arbeitsvertrag beschränkt ist (§ 102 Abs 1 Satz 1 AFG idF, die die Vorschrift durch das Achte Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes vom 14. Dezember 1987, BGBl I 2602, gefunden hat). Die Prüfung, ob Kurzzeitigkeit der Beschäftigung anzunehmen ist oder nicht, ist bei Beginn oder einer Änderung der Beschäftigung vorzunehmen. Maßgebend ist hierbei allein die voraussichtliche Entwicklung des Beschäftigungsverhältnisses. Die Merkmale und Umstände, wie sie bei Beginn der Beschäftigung vorgelegen haben, bleiben auch dann maßgebend, wenn die Beurteilung erst nach Beendigung der Beschäftigung erfolgt (BSG SozR 4100 § 102 Nr 3; BSG Urteil vom 17. März 1981 - 7 RAr 19/80 – DBlR 2676a zu § 104 AFG). Entscheidend ist damit die voraussichtliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt seiner Begründung.
Dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG kann entnommen werden, daß der Kläger und sein Arbeitgeber davon ausgegangen waren, daß ein Dauerarbeitsverhältnis mit Vollzeitbeschäftigung ausgeübt werden sollte. Mit der Aufnahme dieser Tätigkeit am 10. August 1992 war der Kläger nicht mehr arbeitslos, weil er eine mehr als kurzzeitige Beschäftigung ausübte. Daß sich die voraussichtliche Gestaltung hinsichtlich der Dauer der Beschäftigung nicht verwirklichte, bleibt wegen der Maßgeblichkeit der vorausschauenden Beurteilung unerheblich (vgl BSG Urteil vom 17. März 1981 - 7 RAr 19/80 – aaO). Ein anderes Ergebnis ließe sich auch nicht – wie der 7. Senat des BSG bereits ausführlich dargelegt hat (BSGE 79, 66, 69 = SozR 3-4100 § 105 Nr 4) – aus dem inzwischen aufgegebenen Rechtsinstitut des mißglückten Arbeitsversuchs (BSGE 81, 231 = SozR 3-2500 § 5 Nr 37; BSG SozR 3-2500 § 5 Nr 40) herleiten, dessen Voraussetzungen hier im übrigen auch gar nicht vorgelegen hätten.
2. Da in den tatsächlichen Verhältnissen, die im Zeitpunkt der Alg-Bewilligung vorlagen, am 10. August 1992 eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist, die bis zur erneuten Arbeitslosmeldung am 22. August 1992 fortwirkte, ist für die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung der Beklagten noch entscheidungserheblich, ob am 10. August 1992 die in § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X genannten Voraussetzungen erfüllt waren. Nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, wenn der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Der Empfänger von Sozialleistungen hat aufgrund seiner Mitteilungspflicht nach § 60 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB I ua Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind, unverzüglich mitzuteilen, hier also die Arbeitsaufnahme. Ob der Kläger dieser Mitteilungspflicht schuldhaft nicht nachgekommen ist, läßt sich anhand der hierzu vorliegenden Feststellungen des LSG nicht beurteilen. Denn das LSG hat auf eine eigene Beurteilung verzichtet, weil es davon ausgegangen ist, daß das SG diese Frage bereits rechtskräftig zu Ungunsten des Klägers entschieden habe.
Soweit sich das LSG einer eigenen Prüfung der Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X enthoben sah, hat es allerdings den Umfang der Rechtskraft von Urteilen (§ 141 SGG) bzw der Bestandskraft von Verwaltungsakten (§ 77 SGG) verkannt. Bindungswirkung erlangt bei Urteilen lediglich die Urteilsformel, nicht jedoch die die Urteilsformel tragenden Gründe. Die Rechtskraft des Urteils erfaßt mit anderen Worten den sich aus den festgestellten Tatsachen und den angewandten Rechtsnormen ergebenden Subsumtionsschluß als Ganzes, nicht jedoch die einzelnen Glieder dieses Schlusses (BSGE 39, 14, 18; BGHZ 94, 29, 32 f; Gottwald in MünchKomm zur ZPO, 1992, § 322 RdNr 78 f jeweils mwN). Keine andere Beurteilung ergibt sich daraus, daß mit der teilweisen Rechtskraft des sozialgerichtlichen Urteils auch der streitbefangene Bescheid insoweit bindend wurde. Denn auch die Bindungswirkung dieses Bescheides erstreckt sich nur auf seinen Verfügungssatz, nicht jedoch auf die ihn tragenden Gründe (BSGE 79, 66, 70 = SozR 3-4100 § 105 Nr 4).
Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG bei seiner abschließenden Entscheidung zu befinden haben.
Fundstellen