Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an die Begründung einer Ermessensentscheidung über die Ablehnung eines Antrages auf Abfindung einer Verletztenrente.
Stand: 13. Juni 2000
Beteiligte
Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Februar 1999 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob der Kläger die Neubescheidung seines Antrags auf Abfindung seiner Verletztenrente verlangen kann.
Der im Jahre 1962 geborene Kläger mußte seinen erlernten Beruf als Bäcker im März 1992 wegen einer Atemwegserkrankung, welche die Beklagte als Berufskrankheit (BK) nach Nr 4301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) anerkannte, aufgeben. Nach einer am 15. Mai 1996 erfolgreich abgeschlossenen Umschulung zum Industriekaufmann war er zunächst arbeitslos, dann von Februar 1997 bis Februar 1998 im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme mit der Überwachung eines Fahrradstandes betraut und anschließend erneut arbeitslos. Seit dem 17. August 1998 steht der Kläger in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis als Kommissionierer.
Wegen der Folgen der BK bewilligte die Beklagte dem Kläger durch Bescheid vom 24. September 1996 Verletztenrente ab 26. Juni 1996 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH. Im April 1997 beantragte der Kläger die Abfindung dieser Verletztenrente; er beabsichtige, damit Grundeigentum zu erwerben. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 15. Mai 1997 ab. Bei der Abfindung handele es sich um eine Ermessensleistung. Die bisher gezahlte Dauerrente werde nur unter der Voraussetzung gewährt, daß der Kläger keine erneute gefährdende Tätigkeit mehr ausüben werde. Da nicht auszuschließen sei, daß er erneut eine gefährdende Tätigkeit iS der Nr 4301 der Anlage 1 zur BKVO aufnehmen und damit eine wesentliche Änderung der rechtserheblichen Verhältnisse herbeigeführt werde, die zur Rentenentziehung berechtigen würde, könne eine Rentenabfindung nicht bewilligt werden. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 16. September 1997). Der Antrag des Klägers auf Abfindung sei im Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen geprüft worden. Das Vorbringen des Klägers im Widerspruchsverfahren könne nicht die Feststellung widerlegen, daß er jederzeit durch die Wiederaufnahme einer gefährdenden Tätigkeit eine wesentliche Änderung der rechtserheblichen Verhältnisse herbeiführen könne; es fehle am Eintritt eines Dauerzustandes als Voraussetzung für die Abfindung.
Das Sozialgericht (SG) hat die Auffassung der Beklagten im wesentlichen bestätigt und die Klage durch Urteil vom 17. August 1998 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil geändert und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 15. Mai 1997 sowie des Widerspruchsbescheides vom 16. September 1997 verurteilt, den Abfindungsantrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden. Entgegen der Ansicht des SG habe die Beklagte ihr Ermessen bei der Ablehnung des Abfindungsantrags nicht pflichtgemäß ausgeübt. Die Ablehnung sei nicht schon deshalb ermessensfehlerfrei, weil sie sich im Rahmen des Beschlusses der Geschäftsführer der Beklagten vom 25./26. August 1994 halte, denn sowohl Richtlinien als auch interne Verwaltungsanweisungen bänden die Verwaltung nur dann, wenn sie dem gesetzlichen Zweck der Ermächtigung entsprächen. Dem Zweck des hier anzuwendenden § 76 Abs 2 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) – Begünstigung des Versicherten – widerspreche es, Versicherten, die Rente wegen einer BK erhielten, für deren Anerkennung die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit Voraussetzung sei, grundsätzlich – von den im Geschäftsführerbeschluß genannten Ausnahmen abgesehen – keine Abfindung zu gewähren, solange sie noch im Erwerbsleben stünden. Dies lasse sich auch nicht mit den von der Beklagten durchgeführten Erhebungen begründen, nach denen etwa 5 bis 7 % der Versicherten trotz erfolgreicher Umschulung in ihren alten gefährdenden Beruf zurückkehrten. Auch die weiteren von der Beklagten angegebenen Gründe reichten für eine Ablehnung der Gewährung einer Abfindung nicht aus. Der Gesichtspunkt, daß bei BKen, für deren Anerkennung die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit Voraussetzung sei, die Aufnahme einer solchen Tätigkeit zum Wegfall des Rentenanspruchs führe, könne das Interesse des Versicherungsträgers an der Verweigerung der Abfindung nicht schon dann begründen, wenn lediglich nicht ausgeschlossen werden könne, daß der Antragsteller in Zukunft wieder eine gefährdende Tätigkeit aufnehmen werde. Nur wenn im Einzelfall bei vorausschauender Betrachtung zu erwarten sei, daß er erneut eine gefährdende Tätigkeit aufnehmen werde, komme die Ablehnung des Abfindungsantrags in Betracht.
Im vorliegenden Fall seien Umstände, die diese Erwartung begründen könnten, nicht ersichtlich. Auf den beruflichen Werdegang des Klägers nach Abschluß der Umschulung lasse sich nicht die Erwartung stützen, er werde in seinen Beruf als Bäcker zurückkehren. Da der Kläger nunmehr in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis als Kommissionierer stehe, gelte dies zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung erst recht. Die Abfindungsmöglichkeit sei auch nicht nach § 76 Abs 2 SGB VII ausgeschlossen, da ein Absinken der MdE nicht bereits absehbar sei.
Mit ihrer – vom LSG zugelassenen – Revision macht die Beklagte geltend, sie habe die Gewährung einer Abfindung ermessensfehlerfrei im Rahmen der Ermächtigung abgelehnt. § 76 SGB VII bezwecke entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht in erster Linie eine Begünstigung des Versicherten, sondern auch eine solche des Unfallversicherungsträgers, der so seinen Verwaltungsaufwand reduzieren könne. Alle Gründe, die zu einer Rentenentziehung wegen wesentlicher Änderung berechtigen würden, rechtfertigten die Ablehnung eines Abfindungsantrags, sofern insoweit eine ernsthafte Möglichkeit des Eintritts entsprechender Umstände bestehe. Angesichts der wirtschaftlichen und beruflichen Lage des Klägers, insbesondere seines unsicheren Berufsverlaufs, bestehe die ernsthafte Möglichkeit, daß er in seinen alten Beruf zurückkehre, weil er in seinem neuen Beruf als Industriekaufmann keine dauerhafte Beschäftigung finde. Tatsächlich sei eine große Zahl von Arbeitnehmern auf Kosten ihrer Gesundheit berufstätig, weil sie sonst keine oder nur eine schlechter bezahlte Arbeit fänden. Nach der Erfahrung der Unfallversicherungsträger kehrten bis zu 7 % der Versicherten nach erfolgreicher Umschulung in ihren alten gefährdenden Beruf zurück. Wenn das LSG das Vorliegen konkreter Umstände für die Erwartung fordere, daß der Versicherte erneut eine gefährdende Tätigkeit aufnehmen werde, so überdehne es den Zweck des § 76 SGB VII und schränke den ihr zustehenden Ermessensspielraum unzulässig ein. Da die Abfindung nicht unter der auflösenden Bedingung der Wiederaufnahme der gefährdenden Tätigkeit gewährt werden könne, bleibe bei Drohen einer derartigen Gefahr nur der Weg der Versagung der Abfindung, um den möglichen Verlust des ausgezahlten Abfindungsbetrages zu vermeiden.
Bei ihrer Ermessensausübung habe sie dieses schutzwürdige eigene Interesse und auch das Interesse der Allgemeinheit berücksichtigen müssen. Die Unternehmer als alleinige Beitragszahler müßten vor Überzahlungen geschützt werden; dies entspreche auch der politischen und wirtschaftlichen Intention, die Lohnnebenkosten möglichst gering zu halten. Die mit der Neuregelung der Abfindung im SGB VII beabsichtigte Erleichterung für die Gewährung einer Abfindung sei im vorliegenden Fall nicht relevant. Schließlich werde die Versagung der Abfindung auch vom dem gesetzlichen Zweck der Ermächtigung des § 76 SGB VII entsprechenden Geschäftsführerbeschluß vom 25./26. August 1994 getragen. Da sie die Zahlung einer Abfindung in gleichliegenden Fällen ebenfalls abgelehnt habe, habe sie sich insoweit an eine entsprechende Entscheidung gebunden gesehen und damit dem Gebot der Beachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes entsprochen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 16. Februar 1999 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Gelsenkirchen vom 17. August 1998 zurückzuweisen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte zur Neubescheidung des Antrags des Klägers auf Abfindung seiner Verletztenrente verurteilt.
Der Anspruch des Klägers richtet sich nach den Vorschriften des SGB VII. Gemäß § 214 Abs 3 SGB VII gelten die Vorschriften über Renten, Beihilfen, Abfindungen und Mehrleistungen auch für vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetretene Versicherungsfälle, wenn diese Leistungen nach dem Inkrafttreten des SGB VII erstmals festzusetzen sind. Festzusetzen sind Leistungen, wenn ihre Voraussetzungen erfüllt sind (Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung, SGB VII, 12. Aufl, § 214 RdNr 7). Da ein Antrag – unabhängig davon, ob er hier materiell-rechtlichen oder nur verfahrensrechtlichen Charakter hat – Voraussetzung für die Bewilligung der Abfindung durch den Unfallversicherungsträger ist (vgl Brackmann/Burchardt, aaO, § 76 RdNr 9; Kater/Leube, SGB VII, § 76 RdNr 6) und der Kläger nach den bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG die Abfindung im April 1997, also nach dem Inkrafttreten des SGB VII am 1. Januar 1997, beantragt hat, lagen frühestens zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für die Bewilligung dieser Leistung vor, war diese mithin erstmals festzusetzen.
Nach § 76 Abs 1 Satz 1 SGB VII können Versicherte, die Anspruch auf eine Rente wegen einer MdE von weniger als 40 vH haben, auf ihren Antrag mit einem dem Kapitalwert der Rente entsprechenden Betrag abgefunden werden. Eine Abfindung darf nur bewilligt werden, wenn nicht zu erwarten ist, daß die MdE wesentlich sinkt (Abs 2 aaO).
Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Abfindung sind erfüllt. Nach den für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG liegen bei dem Kläger die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH vor. Der Kläger hat auch einen entsprechenden Leistungsantrag gestellt. Für einen Ausschluß der Leistung gemäß § 76 Abs 2 SGB VII sind nach den bindenden Feststellungen des LSG keine Anhaltspunkte ersichtlich.
Aus dem in § 76 Abs 1 Satz 1 SGB VII enthaltenen Wort „können” geht hervor, daß der Unfallversicherungsträger über Anträge auf Bewilligung einer Abfindung nach Ermessen zu entscheiden hat; es handelt sich nicht um ein bloßes „Kompetenz-Kann” (vgl Brackmann/Burchardt, aaO, § 76 RdNr 10; Mrozynski, SGB I, 2. Aufl 1995, § 39 RdNr 4). Das bedeutet, daß die Beklagte ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten hat (§ 39 Abs 1 Satz 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB I≫; § 54 Abs 2 Satz 2 SGG).
Umgekehrt hat der Kläger einen Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB I), nicht aber einen Rechtsanspruch auf Gewährung der Abfindung, sofern nicht eine „Ermessensreduzierung auf Null” hinsichtlich der Bewilligung der begehrten Leistung eingetreten ist. Da der Kläger nicht behauptet, daß hier ein solcher Ausnahmesachverhalt vorliegt, sondern nur geltend macht, daß die Beklagte über den streitigen Anspruch eine (neue) Ermessensentscheidung treffen und dabei die Rechtsauffassung des Gerichts beachten soll, ist sein Begehren in Form der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (Bescheidungsklage) zulässig.
Die streitigen Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinem Recht auf fehlerfreien Ermessensgebrauch. Nach § 35 Abs 1 Satz 3 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) muß die Begründung eines schriftlichen Verwaltungsaktes, der eine Ermessensentscheidung zum Inhalt hat, „auch” die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Ist die Begründung unterblieben, darf sie mit heilender Wirkung nur bis zum Abschluß des Vorverfahrens oder, falls ein solches nicht stattfindet, bis zur Erhebung der Klage nachgeholt werden (§ 41 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2 SGB X). Werden – wie hier – später im Gerichtsverfahren Ermessenserwägungen mitgeteilt, die bei Erlaß des Bescheides oder Widerspruchsbescheides angestellt worden sind, dürfen sie nicht berücksichtigt werden (BSG SozR 1300 § 35 Nr 4). Ein ohne die gebotene Begründung ergangener schriftlicher Verwaltungsakt ist rechtswidrig. Dies gilt entsprechend auch dann, wenn die Verwaltung von dem ihr eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht hat; sie verletzt den Betroffenen dann in seinem Recht auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung, der Bescheid ist rechtswidrig. Die unterbliebene Ermessensausübung darf ebenfalls mit heilender Wirkung nur bis zum Abschluß des Vorverfahrens bzw der Klageerhebung nachgeholt werden (BSG Urteil vom 14. Februar 1989 – 7 RAr 62/87 – = HV-Info 1989, 821; BSGE 61, 184, 189 = SozR 1300 § 44 Nr 26).
Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die Beklagte bei Erlaß der angefochtenen Bescheide überhaupt kein Ermessen ausgeübt hat oder ihr betätigtes Ermessen in den angefochtenen Bescheiden lediglich nicht begründet hat, da in beiden Fällen dieselben Rechtsfolgen der Anfechtung eintreten. Die Bescheide sind jedenfalls im Hinblick auf die Ermessensausübung nicht hinreichend begründet. Die Begründung einer solchen Entscheidung muß zunächst deutlich machen, daß die Beklagte überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen hat (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 10). Bei einer sog „Ermessensreduzierung auf Null” ist auch dies darzulegen (KassKomm-Krasney, § 35 SGB X RdNr 6). Wie bei einer gebundenen Entscheidung (s § 35 Abs 1 Satz 2 SGB X) müssen Ermessensentscheidungen die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe anführen, darüber hinaus („auch”) müssen sie die Gründe für die darauf beruhende und somit erst daran anschließende Ausübung des Ermessens erkennen lassen (vgl KassKomm-Krasney, aaO).
Formelhafte Wendungen, etwa daß „keine Besonderheiten gegeben” seien oder „hinsichtlich der Umstände nichts besonderes ersichtlich” sei, reichen für die vorgeschriebene Begründung von Ermessensentscheidungen nicht aus, weil bei derartigen „Leerformeln” nicht nachgeprüft werden kann, ob die Verwaltung von ihrem Ermessen überhaupt und ggf in einer dem Zweck der ihr erteilten Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl BSGE 59, 157, 171 = SozR 1300 § 45 Nr 19; BSG SozR 1300 § 35 Nr 3 mwN; KassKomm-Krasney, § 35 SGB X RdNr 6). Erforderlich ist vielmehr eine auf den Einzelfall eingehende Darlegung, daß und welche Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen stattgefunden hat und welchen Erwägungen dabei die tragende Bedeutung zugekommen ist (vgl Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl, § 35 SGB X RdNr 2 mwN), damit dem Betroffenen bzw dem Gericht die Prüfung ermöglicht wird, ob die Ermessensausübung den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Daran mangelt es hier.
Die Begründung des ablehnenden Bescheides vom 15. Mai 1997 enthält keinen eindeutigen Hinweis darauf, daß die Beklagte überhaupt von dem ihr eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht hat. Zwar wird im Eingang der Begründung ausgeführt, bei der Abfindung handele es sich um eine Ermessensleistung und ein Rechtsanspruch hierauf bestehe nicht. Die weiteren Ausführungen lassen indes nicht erkennen, daß und in welcher Weise hier das Für und Wider einer Bewilligung der begehrten Ermessensleistung erwogen worden wäre. Die Feststellung, es sei nicht auszuschließen, daß der Kläger erneut eine gefährdende Tätigkeit aufnehmen und damit eine wesentliche Änderung der rechtserheblichen Verhältnisse herbeigeführt werde, und der daraus gezogene Schluß, eine Rentenabfindung könne nicht bewilligt werden, entsprechen vielmehr der Struktur einer gebundenen Entscheidung. Die von der Beklagten in dem Widerspruchsbescheid vom 16. September 1997 benutzte Wendung, im Verwaltungsverfahren sei „nach pflichtgemäßem Ermessen geprüft worden, ob dem Antrag auf Abfindung … stattgegeben werden kann”, läßt ebenfalls nicht erkennen, daß und aufgrund welcher den Einzelfall betreffenden Erwägungen hier Ermessen betätigt worden wäre. Es handelt sich vielmehr um eine „Leerformel” im obigen Sinne, die in keiner Weise erkennen läßt, daß und ggf welche Ermessenserwägungen „pflichtgemäß” angestellt worden sind. Die weiteren Ausführungen, die im Kern die Begründung des angefochtenen Bescheides wiederholen, gleichen wiederum den Feststellungen und Folgerungen einer gebundenen Entscheidung. Von den später im erstinstanzlichen Verfahren, im Berufungs- und auch noch im Revisionsverfahren durch die Beklagte eingebrachten Darlegungen über die Ausübung des Ermessens in diesem Fall findet sich in den im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren ergangenen Bescheiden nichts.
Die von der Beklagten in den angefochtenen Bescheiden gegebene Begründung für die ablehnende Entscheidung ermöglicht mithin weder dem Kläger noch dem Gericht die Prüfung, ob die Beklagte bei der Ablehnung der Bewilligung der Abfindung ermessensfehlerfrei verfahren ist. Die Bescheide genügen insoweit nicht dem gesetzlichen Begründungszwang. Da die nicht ordnungsgemäße Begründung einer Ermessensentscheidung deren Rechtswidrigkeit bewirkt, hat das LSG die angefochtenen Bescheide zu Recht aufgehoben, auch wenn es sich um die Ablehnung einer Ermessensleistung und nicht um einen Eingriff in bereits bestehende Rechte handelte (vgl BSG SozR 2200 § 1236 Nr 50).
Da nach Aufhebung der ablehnenden Bescheide der Antrag des Klägers auf Abfindung seiner Verletztenrente nicht beschieden ist, hat das LSG die Beklagte auch zutreffend zur Neubescheidung dieses Antrags verurteilt. Die Beklagte hat die von ihr nunmehr erneut zu treffende Entscheidung den obigen Ausführungen entsprechend zu begründen. Dabei wird sie zu berücksichtigen haben, daß zwar die Ausrichtung der Entscheidung an verwaltungsinternen Ermessensrichtlinien – als solche wäre der „Geschäftsführerbeschluß” vom 25./26. August 1994 zu qualifizieren – für sich regelmäßig noch kein Ermessensfehler iS einer Ermessensunterschreitung darstellt. Allerdings bestehen gegen eine solche Handhabung nur dann keine Bedenken, wenn – wie dies hier indes offenbar nicht der Fall zu sein scheint – neben der Anwendung des generellen Ermessensmaßstabs Raum für eine Einzelfallentscheidung aufgrund besonderer Gegebenheiten des Sachverhalts bleibt (vgl BSGE 83, 292, 296 = SozR 3-2400 § 76 Nr 2). Außerdem wird sie bei der Ermessensausübung im Rahmen des Zweckes der Ermächtigung zu berücksichtigen haben, daß § 76 SGB VII sowohl den Interessen des Versicherten als auch denen des Unfallversicherungsträgers zu dienen bestimmt ist. Zwar diente die Abfindung kleiner Verletztenrenten ursprünglich wohl allein einer Verwaltungsvereinfachung (vgl Wiesner BG 1985, 327 und Dahm ZfS 1997, 332, beide mwN), doch wurde bereits in den Motiven der der heutigen Vorschrift im wesentlichen entsprechenden Norm (§ 604 der Reichsversicherungsordnung idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 ≪BGBl I 241≫) darauf hingewiesen, daß dem eigenen Interesse Versicherter mit kleinen Renten besser gedient sei, wenn sie – statt Dauerrentner zu sein – durch eine einmalige Zahlung abgefunden würden; dies entspreche auch der neuzeitlichen Forderung nach Eigentumsbildung für weite Bevölkerungskreise (BT-Drucks IV/120, S 60). Der Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch führt zur Begründung für die – seit 1. Januar 1997 geltende – Vorschrift des § 76 SGB VII an, Versicherten mit einem Grad der MdE um nunmehr 40 vH, die im Regelfall neben der Verletztenrente Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erzielten, werde mit der Anhebung der MdE (von bisher 30 vH) „die Möglichkeit gegeben, eine Dauerabfindung zu beantragen, wenn sie dies zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse wünschen” (BT-Drucks 13/2204, S 94 zu § 76 Abs 1). Da hier nur noch die Interessen des Versicherten erwähnt werden, kann mit dem LSG davon ausgegangen werden, daß diese zumindest im Vordergrund stehen (aA wohl Dahm ZfS 1997, 332). Ob indes die Interessen des Versicherungsträgers oder die des Versicherten im Einzelfall überwiegen, muß durch Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände ermittelt werden. Dabei wird die Beklagte davon auszugehen haben, daß nur die aufgrund einer alle relevanten Umstände berücksichtigenden Prognose sich ergebende ernsthafte Möglichkeit der Wiederaufnahme einer schädigenden Tätigkeit iS der Nr 4301 der Anlage 1 zur BKVO durch den Kläger als ein der Abfindung entgegenstehendes, die weitere Abwägung aber nicht erübrigendes Kriterium zu beachten ist.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen
NZA 2000, 994 |
SozSi 2001, 323 |