Entscheidungsstichwort (Thema)
versicherungsrechtlichen Beurteilung von Zeitungsausträgern
Leitsatz (redaktionell)
Zur versicherungsrechtlichen Beurteilung von Zeitungsausträgern:
1. Zeitungsausträger, welche die Zeitungen eines Verlagsunternehmens alsbald nach deren Erscheinen an die Bezieher auszuliefern haben, üben eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit aus, auch wenn sie ein gewisses Inkassorisiko zu tragen haben und daneben auch Zeitungen eines anderen Verlages frei verkaufen können.
2. Zeitungsausträger üben auch dann eine Beschäftigung in persönlicher Abhängigkeit aus und unterliegen der Versicherungspflicht, wenn sie beim Austragen der Zeitungen Hilfskräfte verwenden dürfen und neue Bezieher werben können.
Orientierungssatz
Zur Frage der Versicherungspflicht von Zeitungsträgern.
Normenkette
RVO § 165 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1945-03-17, § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVAVG § 56 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Auf die Revision der beigeladenen Landesversicherungsanstalt wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 11. August 1964 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beteiligten streiten über die Sozialversicherungspflicht der beigeladenen Zeitungsträger (innen) und einer weiteren, inzwischen verstorbenen Trägerin. Die beklagte Krankenkasse hat mit Bescheid vom 7. Mai 1958 gegenüber dem klagenden Vertriebsunternehmen, für das die Träger (innen) in der Stadt G tätig waren, deren Versicherungspflicht festgestellt und den Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen (Bescheid vom 16. August 1958).
Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Braunschweig die genannten Bescheide der Beklagten aufgehoben (Urteil vom 4. Juni 1959).
Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos. Auch das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat - nach mündlicher Anhörung mehrerer Beteiligter - ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis der Träger verneint und folgendes festgestellt: Bei Beginn ihrer Tätigkeit erhielten die Träger eine Liste oder Karteikarten der von ihnen zu beliefernden Abonnenten und es wurde ihnen ein fester Bezirk zugeteilt. Beim Zugang neuer Abonnenten wurde den Trägern von der Klägerin eine weitere Karteikarte ausgehändigt.
Beim Abgang eines Abonnenten gaben die Träger die entsprechende Karteikarte zurück. Dieses Verfahren wurde aber nicht ausnahmslos eingehalten. Neu- und Abbestellungen bei den Trägern wurden von diesen der Klägerin auch nur zahlenmäßig ohne Angabe der Namen zur Kenntnis gebracht. Die Träger waren nicht verpflichtet, die Namen zu nennen und sind von der Klägerin dazu auch nicht angehalten worden. Bei Aufgabe der Tätigkeit als Zeitungsträger gaben sie in der Regel ihre Karteikarten der Klägerin zurück, ohne dazu verpflichtet zu sein. Es oblag den Trägern, die Zeitungen alsbald nach ihrem Erscheinen an die Bezieher auszuliefern. Eine eigene Werbetätigkeit haben die Träger nicht entfaltet. Sie nahmen jedoch Neubestellungen entgegen. Im übrigen wurde der Abonnentenkreis durch angestellte Werber des Verlagshauses "Die Welt" erweitert. Die Träger waren berechtigt, die Belieferung von Abonnenten abzulehnen. Davon haben sie aber nur selten Gebrauch gemacht. Entsprechend der Zahl der zu Beginn eines Monats bestellten Zeitungen hatten die Träger die Bezugsgelder - unter Abzug der ihnen verbleibenden Zustellgebühr - an die Klägerin abzuliefern, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Abonnenten gezahlt hatten. Zu Ausfällen ist es nur in geringer Zahl gekommen. Bei den Trägern bestand die Überzeugung, den Verlust selbst tragen zu müssen, und dies ist auch geschehen. Zum Einkassieren der Bezugsgelder stellte die Klägerin den Trägern Quittungsformulare mit dem Firmenaufdruck zu Verfügung. Außer der Belieferung von Abonnenten mit den Zeitungen "Die Welt" und "Welt am Sonntag" haben die Träger die Möglichkeit gehabt und sie teilweise auch genutzt, Zeitungen und Zeitschriften, die sie nicht nur von der Klägerin, sondern auch von anderen Unternehmen bezogen, frei zu verkaufen. Soweit sie diese Zeitungen und Zeitschriften von der Klägerin bezogen, konnten sie die nicht verkauften Exemplare zurückgeben. Im Falle der Erkrankung oder sonstiger Verhinderung sorgten die Träger selbst für eine Vertretung.
Nach Ansicht des LSG sprechen vor allem das Inkassorisiko der Träger, ferner die ihnen eingeräumte Befugnis zum freihändigen Verkauf von Zeitungen, ihre Berechtigung, auch für andere Unternehmen tätig zu sein, und das Recht, die Belieferung von Abonnenten abzulehnen, für ihre Selbständigkeit und gegen ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis. Ob und in welchem Maße sie von diesen Befugnissen Gebrauch gemacht hätten, sei unerheblich (Urteil vom 11. August 1964).
Gegen dieses Urteil hat die beigeladene Landesversicherungsanstalt (LVA) die zugelassene Revision eingelegt und sich mit eingehenden Rechtsausführungen gegen die Auffassung des LSG gewandt. Sie beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 11. August 1964 und das Urteil des SG Braunschweig vom 4. Juni 1959 aufzuheben.
Die beklagte Krankenkasse hat sich diesem Antrag angeschlossen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie meint, die beigeladenen Träger seien selbständige Beförderungsunternehmer (Spediteure) gewesen.
Die Revision der beigeladenen LVA ist zulässig (§ 75 Abs. 4 SGG) und auch begründet. Entgegen der Ansicht des LSG waren die beigeladenen Zeitungsträger (innen) während ihrer Tätigkeit für das klagende Vertriebsunternehmen nicht selbständig, sondern abhängig beschäftigt.
Wie der Senat im Urteil vom 26. Februar 1960 entschieden hat, unterliegen Personen, deren Tätigkeit im wesentlichen im Austragen von Zeitungen an einem feststehenden Bezieherkreis und im Einziehen der Abonnementsbeträge besteht, der Sozialversicherungspflicht; das gilt auch dann, wenn sie beim Austragen der Zeitungen Hilfskräfte verwenden dürfen und neue Bezieher werben können. Für die Beurteilung der Versicherungspflicht kommt es auf das Gesamtbild ihrer Tätigkeit an, wie sie sich tatsächlich gestaltet hat (SozR Nr. 16 zu § 165 RVO).
Auch im vorliegenden Fall bestand die Tätigkeit der beigeladenen Träger (innen) im wesentlichen in dem Austragen von Zeitungen an einen festen Abonnentenkreis innerhalb eines bestimmten Bezirks der Stadt G und in dem Inkasso der Zeitungsgelder, mithin in einer Art Botentätigkeit. Wenn sie dabei keiner laufenden Überwachung der Klägerin unterlagen, und von ihr auch nicht ständig mit Weisungen für die Ausführung ihrer Arbeit versehen wurden, so schließt dies die Annahme einer abhängigen Beschäftigung nicht aus. Die Eigenart einer Tätigkeit kann es mit sich bringen, daß "die Anweisungen des Arbeitgebers ersetzt werden durch die aus der Natur der Sache sich ergebende Notwendigkeit bestimmter Verrichtungen" (Reichsversicherungsamt in AN 1904, 527). Im übrigen hatten die Träger hier nach Feststellung des LSG die Zeitungen alsbald nach ihrem Erscheinen an die Bezieher auszuliefern, konnten also nicht im wesentlichen frei ihre Tätigkeit gestalten und ihre Arbeitszeit bestimmen (vgl. § 84 Abs. 1 Satz 2 Handelsgesetzbuch).
Daß sie ein gewisses Risiko beim Einzug der Zeitungsgelder trugen, wie das LSG angenommen hat, obwohl ausdrückliche Abreden darüber offenbar nicht vorlagen, machte sie nicht zu selbständigen Gewerbetreibenden. Mit einem eigentlichen Unternehmerrisiko, das in der Regel ein Kapitalrisiko ist, läßt sich das Inkassorisiko der Träger nicht vergleichen. Außerdem hat es bei ihnen nach Feststellung des LSG nur zu geringen Ausfällen geführt, das tatsächliche Gesamtbild ihrer Beschäftigung also nicht wesentlich bestimmt.
Das gleiche gilt für ihre Befugnis, die Belieferung von Abonnenten abzulehnen. Auch sie hat "nur selten" praktische Bedeutung erlangt, so daß sie für die Frage der Versicherungspflicht nicht entscheidend ins Gewicht fällt. Im übrigen hat ein solches Recht mit unternehmerischer Freiheit nichts zu tun, wenn es sich darauf beschränkt, die Zustellung der Zeitung im Einzelfall aus besonderen Gründen abzulehnen, etwa wegen weiter Entfernung der Wohnung eines Abonnenten, ungenügender Sicherung des Zugangs der Wohnung, besonderer Zustellungswünsche usw. (vgl. das schon genannte Urteil des Senats aaO Bl. Aa 13 R, Aa 14).
Daß die Träger schließlich die Möglichkeit hatten und sie "teilweise" nutzten, Zeitungen und Zeitschriften frei zu verkaufen, die sie nicht nur von der Klägerin, sondern auch von anderen Unternehmen bezogen, mag zwar im allgemeinen ein Indiz für die Selbständigkeit einer Tätigkeit sein, kann jedoch hier nicht den Ausschlag geben. Soweit die Zeitungen und Zeitschriften von der Klägerin selbst bezogen und bei der Zustellung der abonnierten Zeitungen nebenher mitvertrieben wurden, konnten die nicht verkauften Exemplare zurückgegeben werden; insoweit hatten die Träger also keinerlei "Unternehmerrisiko". Ob im übrigen ein Rückgaberecht bestand, hat das LSG nicht festgestellt. Selbst wenn es - entgegen der allgemeinen Übung - nicht bestanden hätte, wäre die Gesamttätigkeit der Träger dadurch nicht in einem solchen Maße geprägt worden, daß sie nunmehr wegen dieses Risikos nicht mehr als abhängig anzusehen wäre.
Da die Beigeladenen und eine inzwischen verstorbene Trägerin somit während ihrer Tätigkeit für die Klägerin abhängig beschäftigt waren, unterlagen sie der Sozialversicherungspflicht, sofern sie nicht ausnahmsweise aufgrund besonderer Vorschriften (z. B. nach §§ 168, 1228 RVO) versicherungsfrei waren. Das Urteil des LSG war daher aufzuheben. Um die noch erforderlichen Feststellungen nachzuholen, hat der Senat den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Dieses wird im abschließenden Urteil auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitentscheiden.
Fundstellen