Leitsatz (amtlich)
Bei einem Unfall auf dem Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit besteht auch Versicherungsschutz, wenn der Unfall auf eine durch eine geringfügige private Verrichtung hervorgerufene Gefahr zurückzuführen ist, die mit der Zurücklegung des Weges in ursächlichem Zusammenhang gestanden hat (Fortführung von BSG 1978-01-26 2 RU 39/77 = SozR 2200 § 550 Nr 37).
Orientierungssatz
Der Griff in einen Papierkorb an der Bushaltestelle, um einen versehentlich weggeworfenen Gegenstand herauszuholen, stellt eine geringfügige und daher rechtlich unbedeutende Unterbrechung der versicherten Tätigkeit dar.
Normenkette
RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 28.01.1981; Aktenzeichen L 17 U 161/80) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 30.06.1980; Aktenzeichen S 18 U 194/78) |
Tatbestand
Die Klägerin verlangt von der Beklagten den Ersatz von Kosten in Höhe von DM 5.877,41, welche sie aus Anlaß des Unfalles des bei ihr versicherten R-S W (W.) am 9. Februar 1978 aufgewendet hat, weil W. nach ihrer Überzeugung einen Arbeitsunfall erlitten hat.
W. befand sich auf dem Weg zur Arbeitsaufnahme. Er wollte einen Bus benutzen. An der Bushaltestelle warf er aus Versehen zusammen mit einer Zeitung auch seinen Kugelschreiber in den Papierkorb. Bei dem Versuch, den Kugelschreiber aus dem Papierkorb herauszuholen, zog er sich an einer zerbrochenen Flasche erhebliche Verletzungen der Hand zu.
Die Beklagte lehnte den Ersatz von Kosten gegenüber der Klägerin ab, weil der Unfall sich bei einer privaten Verrichtung ohne Zusammenhang mit einer dem Weg zur Arbeitsstätte eigentümlichen Gefahr ereignet habe. Im Klageverfahren hat die Klägerin geltend gemacht, daß der Weg zum Ort der Tätigkeit nach den Umständen des Falles nur geringfügig unterbrochen worden sei, so daß nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der bestehende Versicherungsschutz auf dem Weg zur Arbeitsstätte nicht beseitigt gewesen sei.
Klage und Berufung haben keinen Erfolg gehabt. Nach der Auffassung des Sozialgerichts (SG) war der Unfall die Folge einer eigenwirtschaftlichen Betätigung, welche auf jedem beliebigen anderen Weg zu demselben Unfall hätte führen können (Urteil vom 30. Juni 1980). Auch das Landessozialgericht (LSG) hat die Überzeugung vertreten, der Unfall sei nicht als Folge der Wegegefahr im weitesten Sinne, sondern vielmehr infolge einer privaten Sphäre zuzurechnenden Handlung eingetreten (Urteil vom 28. Januar 1981). Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Der Versicherungsschutz für W. hat nach ihrer Überzeugung auch im Unfallzeitpunkt bestanden, weil die in den Weg zur Arbeitsstätte eingeschobene eigenwirtschaftliche Verrichtung geringfügig gewesen sei. Nach der Rechtsprechung des BSG unterbreche eine geringfügige private Tätigkeit den Versicherungsschutz nicht, wenn - wie hier - die Unfallgefahr auf dem Weg zur Arbeit latent bestanden habe. W. sei keiner selbstgeschaffenen Gefahr erlegen.
Die Klägerin beantragt, 1. Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. Januar 1981 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30. Juni 1980 aufzuheben und 2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 5.877,41DM zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Nach ihrer Auffassung ist das Zurücklegen des Weges nur als Gelegenheitsursache für den Unfall des W. anzusehen; der Unfall habe sich ausschließlich in seiner privaten Sphäre entwickelt, ohne daß Umstände, die mit der Zurücklegung des Weges zusammenhängen, wirksam geworden seien. Auch unter dem Gesichtspunkt der selbstgeschaffenen Gefahr sei der Unfallversicherungsschutz entfallen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. W. war bei der unfallbringenden Verrichtung gegen Arbeitsunfall versichert.
Voraussetzung des von der Klägerin geltend gemachten Ersatz ist, daß die Verletzung der Hand des W. "Folge eines Arbeitsunfalles" war (§ 1504 Abs 1 Satz 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Als Arbeitsunfall gilt ua auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg zur Arbeitsstätte (§ 550 Abs 1 RVO). W. befand sich, was auch das SG und das LSG nicht verkannt haben, an der Bushaltestelle auf einem solchen Weg, da er mit Hilfe dieses Verkehrsmittels seine neue Arbeitsstelle erreichen wollte. Mit Recht haben SG und LSG jedoch den Umstand besonders gewürdigt, daß die unfallbringende Handlung - das Greifen in den Papierkorb - nicht unmittelbar dem Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte diente. Diese Tätigkeit ist nach ihrem Ablauf und angesichts der mit ihr verbundenen Zwecksetzung nicht zur Zurücklegung des Weges zur Arbeit erforderlich und bestimmt gewesen. Der Unfall des W. ereignete sich zwar im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Weg zur Arbeitsstätte. Das reicht jedoch allein - wie von den Vordergerichten eingehend dargelegt ist - nicht aus, den für die gesetzliche Unfallversicherung erforderlichen Ursachenzusammenhang zu begründen (BSGE 20, 219, 220/221). Insoweit gehen auch die Beteiligten zutreffend davon aus, daß W. in den Weg, auf welchem er versichert war, eine dem privaten Lebensbereich zuzuordnende Verrichtung eingeschoben hat. Bei ihr ist er verunglückt.
Der erkennende Senat hat jedoch von Anfang an entschieden, daß nicht jede private Besorgung oder Verrichtung auf einem Weg zur Arbeitsstätte - oder auch am Arbeitsplatz (Urteil vom 18. Dezember 1974 - 2 RU 37/73 -) - den Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung beseitigt (vgl zB SozR § 543 aF Nrn 5, 28, § 548 Nr 31; BG 1965, 196 f; Urteil vom 31. Januar 1974 - 2 RU 165/72 -; siehe ferner die Nachweise bei Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 480 t I und 480 t II; Benz, WzS 1982, 129, 130). Danach entfällt der Versicherungsschutz nicht, wenn das eingeschobene Verhalten derart ist, daß es bei natürlicher Betrachtungsweise angesichts des Gesamtweges als geringfügig anzusehen ist. Dieser Rechtsauffassung ist der 8. Senat gefolgt (SozR 2200 § 539 Nr 21). Diese Rechtsprechung führt hier - entgegen der Auffassung des SG und LSG - zum Versicherungsschutz für den Unfall des W.
SG und LSG sind zutreffend davon ausgegangen, daß das unfallbringende Verhalten des W. geringfügig war. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats entfällt der Versicherungsschutz nicht, wenn eine private Besorgung hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer und der Art ihrer Erledigung als so geringfügig anzusehen ist, daß sie angesichts des Gesamtweges nicht ins Gewicht fällt; sie ist dann auch rechtlich unerheblich und bedeutet folglich keine Unterbrechung des Weges zur Arbeitsstätte (Urteil vom 31. Januar 1974 - 2 RU 165/72 - mwN; s auch die Übersicht bei Brackmann aa0). Daß der Griff in den Papierkorb zu dem genannten Zweck in diesem Sinne geringfügig war, wird auch von den Beteiligten angenommen und bedarf keiner weiteren Begründung. Ferner ist für das Fortbestehen des Versicherungsschutzes unerheblich, ob der Versicherte mit der eingeschobenen privaten Verrichtung eine neue dem Weg zur Arbeitsstätte nicht eigentümliche Gefahrenlage heraufbeschworen hat (BSG wie zuvor), so daß hier unberücksichtigt bleiben muß, daß die von dem Inhalt des Papierkorbes ausgehende Gefahr gerade wegen der privaten Besorgung wirksam geworden ist (s auch BSG Urteil vom 25. November 1977 - 2 RU 95/75 -: Versicherungsschutz bei Unterbrechung des Weges, um Schulkindern beim Überqueren der Fahrbahn zu helfen; Brackmann, aa0 S 487).
Die Vordergerichte haben hier jedoch angesichts der Entscheidung des Senats vom 26. Januar 1978 (SozR 2200 § 550 Nr 37) Versicherungsschutz verneint, weil der Unfall des W. ausschließlich in der privaten Sphäre entstanden sei und sich jederzeit an jedem anderen Ort hätte ereignen können. Die genannte Entscheidung ist nicht nur von den in diesem Rechtsstreit tätig gewordenen Gerichten mißverstanden worden (vgl auch Ricke BG 1979, 571 ff; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, Kennzahl 070 S 11). Der damals zur Entscheidung anstehende Sachverhalt war dadurch gekennzeichnet, daß der Versicherte sich beim Griff in die Aktentasche an einem offenen Messer verletzte, das sein Sohn hineingelegt hatte. Die wirksam gewordene Unfallgefahr war auf dem Heimweg von der Arbeitsstätte weder entstanden noch latent vorhanden. Sie war vielmehr überall dort gegeben, wo der Versicherte sich in der Nähe der Aktentasche aufhielt, also unabhängig von dem Zurücklegen des Weges von dem Ort der Tätigkeit, so daß der Unfall sich "jederzeit und an jedem anderen Ort" hätte ereignen können. Der Versicherte trug die Gefahr sozusagen mit sich herum. Daß die Gefahr auf dem Weg von der Arbeitsstätte wirksam geworden war, geschah "rein zufällig" und somit nicht im ursächlichen Zusammenhang mit dem Zurücklegen des Weges, sondern nur gelegentlich des Weges. Hiervon unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt. Der Unfall ereignete sich an einer Stelle des Weges, an welcher eine Gefahr für jeden gegeben war, der den Papierkorb benutzte. Diese Gefahr ging also von einer Örtlichkeit aus, die auf dem Weg zur Arbeitsstätte lag. Infolgedessen ist W. im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit einer Gefahr erlegen. Da es rechtlich bedeutungslos ist, daß die Gefahr bei der Erledigung einer eingeschobenen geringfügigen privaten Verrichtung wirksam geworden ist (s.o.), bestand für W. Versicherungsschutz. Für die Annahme, daß W. einer selbstgeschaffenen Gefahr zum Opfer gefallen sei, ergeben die Feststellungen des LSG keine Anhaltspunkte.
Eine Kostenentscheidung entfällt (s § 193 Abs 4 SGG).
Fundstellen
Haufe-Index 1662473 |
Breith. 1983, 483 |