Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung der Arbeitslosenhilfebewilligung. Wegfall der Verfügbarkeit. Ablehnung einer amtsärztlichen Untersuchung. Verhältnis von § 66 SGB 1 zu § 48 SGB 10
Leitsatz (amtlich)
- Verfügbarkeit als Voraussetzung eines Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe kann nicht allein deshalb verneint werden, weil sich der Arbeitslose weigert, sich ärztlich untersuchen zu lassen.
- Zum Verhältnis von § 66 SGB 1 und § 48 SGB 10 beim Entzug einer Lohnersatzleistung wegen Arbeitslosigkeit, wenn Zweifel an der Verfügbarkeit bestehen.
Normenkette
SGB III § 119 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1997-12-16, Abs. 2 Fassung: 1997-12-16, Abs. 3 Nr. 1 Fassung: 1997-12-16; SGB 10 § 20; SGB X § 43 Abs. 3; SGB 10 § 48 Abs. 1 S. 1; SGB I §§ 62, 66 Abs. 3; SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. März 2004 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) wegen fehlender Verfügbarkeit ab 24. Mai 2003.
Der 1949 geborene Kläger bezog seit Jahren Lohnersatzleistungen wegen Arbeitslosigkeit, zuletzt Alhi für den Leistungsabschnitt vom 27. Juli 2002 bis 26. Juli 2003 (Bescheid vom 7. August 2002; Bescheid vom 15. Januar 2003: ab 1. Januar 2003). An einer von der Beklagten angebotenen Maßnahme der Eignungsfeststellung ab März 2003 nahm er zwei Tage teil, danach meldete er sich arbeitsunfähig krank. Nach Genesung setzte er die Maßnahme trotz einer Aufforderung der Beklagten nicht fort. Die Beklagte veranlasste nunmehr die Klärung der Leistungsfähigkeit des Klägers durch ein amtsärztliches Gutachten. Der Kläger erschien zwar bei der Gutachterin, erklärte jedoch, sich momentan nicht untersuchen lassen zu wollen. Die Beklagte hob daraufhin die Bewilligung von Alhi mit Wirkung ab 24. Mai 2003 auf, weil der Kläger der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe (Bescheid vom 20. Mai 2003, Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 2003).
Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 27. Oktober 2003, Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 24. März 2004). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt, die Leistungsaufhebung nach § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) sei wegen Änderung der Verhältnisse gerechtfertigt. Eine rechtserhebliche Änderung sei hier darin zu sehen, dass wegen der Weigerung des Klägers, sich untersuchen zu lassen, die Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung und damit eine wesentliche Voraussetzung für den Anspruch auf Lohnersatzleistungen wegen Arbeitslosigkeit nicht mehr habe festgestellt werden können.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, der Leistungsbescheid habe nicht wegen Änderung der Verhältnisse nach § 48 SGB X, sondern allenfalls wegen fehlender Mitwirkung nach den hierfür vorgesehenen speziellen Regelungen der §§ 62, 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil – (SGB I) aufgehoben werden dürfen. Deren besondere Voraussetzungen lägen jedoch nicht vor. Er – der Kläger – sei insbesondere nicht schriftlich auf die Folgen einer Verweigerung der Untersuchung hingewiesen worden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. März 2004 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 27. Oktober 2003 sowie den Bescheid der Beklagten vom 20. März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2003 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Durch die Weigerung, sich untersuchen zu lassen, habe der Kläger die Ermittlung des Sachverhalts nicht nur erschwert, sondern faktisch unmöglich gemacht, sodass § 66 SGB I nicht einschlägig sei. Damit sei auch – mangels weiterer Aufklärbarkeit – das Merkmal “Arbeitsfähigkeit” nach § 119 Abs 1 Nr 2, Abs 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) als materiellrechtliche Leistungsvoraussetzung nicht (mehr) gegeben.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung der Entscheidung des LSG und der Zurückverweisung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Es fehlen für das Revisionsgericht bindende Feststellungen (§ 163 SGG) dazu, ob das Leistungsvermögen des Klägers iS von § 119 Abs 2 Nr 1 SGB III (idF, die § 119 durch das Erste SGB III-Änderungsgesetz ≪1. SGB III-ÄndG≫ vom 16. Dezember 1997 – BGBl I 2970 – erhalten hat) im streitigen Zeitraum auf unter 15 Stunden pro Woche gesunken ist und damit die Verfügbarkeit nach § 119 Abs 1 Nr 2 SGB III entfallen ist (vgl hierzu unter 1.). Eine Umdeutung der Rücknahmeentscheidung nach § 48 Abs 1 SGB X in eine Entziehung nach § 66 Abs 1 SGB I scheidet aus (vgl hierzu unter 2.).
1. Die Beklagte ist bei der angefochtenen Aufhebung der Bewilligungsbescheide von § 48 Abs 1 SGB X ausgegangen. Diese Vorschrift verlangt eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen gegenüber denen des Bewilligungsbescheids. Ob als Vergleichsbasis die Verhältnisse zur Zeit der Bescheide vom 7. August 2002 bzw des Dynamisierungsbescheides vom 15. Januar 2003 maßgebend sind oder ob es auf den Zeitpunkt eines weiteren Bescheides vom 8. Mai 2003 ankommt, der sich im Übrigen auch auf den Bewilligungszeitraum auswirken könnte, im Gerichtsverfahren bislang aber noch nicht berücksichtigt worden ist, wird das LSG zu ermitteln haben. Die Gewährung von Alhi nach Ablauf des maßgebenden Bewilligungszeitraums ist nicht Gegenstand des Rechtsstreits; hierüber wird die Beklagte noch zu befinden haben.
Wesentlich ist jede tatsächliche oder rechtliche Änderung, die sich auf Grund oder Höhe der bewilligten Leistung auswirkt (BSGE 59, 111, 112 = SozR 1300 § 48 Nr 19; BSGE 78, 109, 111 = SozR 3-1300 § 48 Nr 48; SozR 3-4300 § 119 Nr 4 S 17). Eine rechtserhebliche Änderung liegt dann vor, wenn der Anspruch nach dem für die Leistung von Alhi maßgeblichen materiellen Recht entfallen ist.
Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Alhi setzt nach § 190 Abs 1 Nr 1 und Nr 2 SGB III (idF, die § 190 durch das 3. SGB III-ÄndG vom 22. Dezember 1999 – BGBl I 2624 – erhalten hat) insbesondere voraus, dass eine versicherungspflichtige Beschäftigung gesucht wird (§ 198 Satz 2 Nr 1 iVm § 118 Abs 1 Nr 2 SGB III ≪idF, die § 198 durch das 3. und § 118 durch das 1. SGB III-ÄndG erhalten hat≫). Eine Beschäftigung sucht, wer alle Möglichkeiten nutzt und nutzen will, um seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden (§ 119 Abs 1 Nr 1 SGB III) und den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung steht (Verfügbarkeit, vgl § 119 Abs 1 Nr 2 SGB III), also arbeitsfähig und seiner Arbeitsfähigkeit entsprechend arbeitsbereit ist (§ 119 Abs 2 SGB III).
Auf Grund der tatsächlichen Feststellungen des LSG kann nicht abschließend beurteilt werden, ob die Verfügbarkeit des Klägers nach § 119 Abs 1 Nr 2 SGB III entfallen war und die Beklagte die Bewilligung von Alhi zu Recht wegen Änderung der Verhältnisse aufgehoben hat. Verfügbarkeit ist ein komplexer Rechtsbegriff (vgl hierzu: Söhngen, in Eicher/Schlegel, SGB III, § 119 RdNr 3, Stand September 2005), der die Beachtung zahlreicher Tatsachen (etwa die Fähigkeit zur Ausübung einer versicherungspflichtigen Tätigkeit ≪objektive Verfügbarkeit und Erreichbarkeit≫ und die Arbeitsbereitschaft ≪subjektive Verfügbarkeit≫) erforderlich macht, wie die Regelungen in § 119 SGB III deutlich machen. Im Rahmen des § 48 SGB X kann eine Änderung der Verhältnisse nur anhand eines Vergleichs der maßgebenden Tatsachen begründet werden. Die Verwendung der Rechtsbegriffe “nicht arbeitsfähig” bzw “nicht arbeitsbereit” ersetzt die nach dem Gesetz erforderlichen Tatsachenfeststellungen, aus denen sich eine Änderung der Verhältnisse ergibt, nicht. Das LSG hat den Wegfall der Verfügbarkeit zu Unrecht allein wegen der Weigerung des Klägers gegenüber dem Arbeitsamt (seit 1. Januar 2004: Agentur für Arbeit) angenommen, sich amtsärztlich untersuchen zu lassen. Hierdurch habe er dem Arbeitsamt die Möglichkeit genommen, festzustellen, ob er noch arbeitsfähig ist und gegebenenfalls in welchem Umfang er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht.
In Bezug auf die Verfügbarkeit ergibt sich hieraus jedoch keine Änderung der Verhältnisse, sondern allenfalls ein Aufklärungshindernis. Verwaltung und Sozialgerichte sind aber grundsätzlich verpflichtet, das Vorliegen der maßgebenden Anspruchsvoraussetzungen von Amts wegen aufzuklären (§ 20 SGB X bzw § 103 SGG). Die Beklagte bzw die Tatsachengerichte hätten deshalb ermitteln müssen, ob der Kläger in dem von ihnen angenommenen Zeitpunkt nicht mehr in der Lage war, eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes aufzunehmen und auszuüben und damit nicht mehr als verfügbar angesehen werden konnte (§ 119 Abs 2 – 4 SGB III).
Die Weigerung des Klägers, sich einer arbeitsamtsärztlichen Untersuchung zu unterziehen, enthob weder die Beklagte noch die Gerichte der sie treffenden Ermittlungspflicht. Halten sie zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit eine ärztliche Untersuchung für erforderlich und wird diese vom Betroffenen verweigert, so sind zunächst andere zur Aufklärung geeignete Maßnahmen, etwa ein Sachverständigengutachten nach Aktenlage unter Heranziehung von Behandlungsberichten der behandelnden Ärzte, einzusetzen. Sind alle Ermittlungsmöglichkeiten erschöpft, kann das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 128 SGG unter Umständen auch Schlüsse daraus ziehen, dass sich ein Beteiligter grundlos geweigert hat, sich untersuchen zu lassen, Unterlagen vorzulegen oder eine Zustimmung zur Einholung von Auskünften zu erteilen, und zu dem Ergebnis kommen, dass die verhinderten Ermittlungen für den Beteiligten ein ungünstiges Ergebnis gehabt hätten, wenn dies mit sonstigen Feststellungen nicht im Widerspruch steht (BSG SozR Nr 40 zu § 128 SGG; BFHE 96, 13; BFHE 156, 38, 43; BVerwGE 8, 29).
Erst wenn feststeht, dass weitere Ermittlungen nicht mehr möglich bzw unzumutbar sind und auch im Rahmen der Beweiswürdigung keine Entscheidung (positiv wie negativ) getroffen werden kann, kommt eine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen in Betracht. Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast geht die Nichterweislichkeit des Gesundheitszustandes grundsätzlich zu Lasten desjenigen, der hieraus Rechte herleiten will (vgl BSGE 6, 70, 72; BSGE 7, 295, 298 ff; 43, 110, 112 = SozR 2200 § 548 Nr 27, S 71). Dies ist im vorliegenden Fall die Beklagte als Leistungsträger, der den Wegfall einer Anspruchsvoraussetzung geltend macht (vgl Steinwedel, in Kasseler Kommentar, § 48 SGB X, RdNr 22, Stand Mai 2003; zur Möglichkeit einer Beweislastumkehr bei Beweisvereitelung vgl BSG SozR 4-1500 § 128 Nr 5, RdNr 15).
2. Das LSG hat allerdings keine Beweislastentscheidung getroffen, sondern ist mit der Beklagten zu Unrecht davon ausgegangen, die fehlende Verfügbarkeit und damit die Grundlage für die Aufhebung des Leistungsbescheides lasse sich allein aus der Weigerung des Klägers ableiten, sich untersuchen zu lassen. Für dieses Vorgehen stellen aber die §§ 60 ff SGB I ein eigenständiges Instrumentarium zur Verfügung. Insbesondere für den Fall, dass der Anspruch auf eine Sozialleistung vom Ergebnis ärztlicher oder psychologischer Untersuchungen abhängt, enthält § 62 SGB I die Regelung, dass derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers einer solchen Untersuchung zu unterziehen hat, wenn dies für die Entscheidung über die Leistung erforderlich ist. Zwar dürfte die Erforderlichkeit einer Untersuchung hier nach den Feststellungen des LSG ohne weiteres anzunehmen sein. Die Beklagte und das LSG haben sich jedoch gerade nicht auf § 66 SGB I gestützt; eine solche (Ermessens-) Entscheidung hätte auch nicht getroffen werden können, weil die hierfür erforderlichen Voraussetzungen fehlten. Nach § 66 Abs 3 SGB I dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist. Die Feststellung des LSG, dass der Kläger im Rahmen der – nicht durchgeführten – Untersuchung vom zuständigen Mitarbeiter der Beklagten mündlich auf die möglichen leistungsrechtlichen Konsequenzen hingewiesen worden sei, reicht dafür nicht aus. Anhaltspunkte, dass ein schriftlicher Hinweis entbehrlich gewesen wäre (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 34), hat die Beklagte weder dargelegt noch sind sie ersichtlich. Zudem wäre ein Entzug nur nach Ablauf einer gesetzten Frist, nicht aber für die Vergangenheit möglich. Die Umdeutung der Rücknahmeentscheidung nach § 48 Abs 1 SGB X in eine Entziehung nach § 66 SGB I (analoge Anwendung von § 43 SGB X) scheidet auch schon deshalb aus, weil eine gebundene Entscheidung, wie sie hier vorliegt, nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden kann (§ 43 Abs 3 SGB X).
Da das angefochtene Urteil sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist, kann es keinen Bestand haben. Die Revision führt somit gemäß § 170 Abs 2 SGG zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, das bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben wird.
Fundstellen