Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 17. Januar 1973 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger erlitt am 24. Oktober 1967 einen Unfall, bei dem er sich eine bimalleoläre Knöchelfraktur rechts mit ausgedehnter Quetsch-Rißwunde am rechten Unterschenkel zuzog. Bis zum 23. Dezember 1967 befand er sich in stationärer Behandlung. Nach mehreren Untersuchungen und Begutachtungen gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 26. Juni 1970 für die Zeit vom 9. Dezember 1968, dem Tag nach dem Wegfall der Arbeitsunfähigkeit, bis zum 31. Dezember 1969 eine Teilrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte durch Urteil vom 5. November 1971 nach Antrag verurteilt, dem Kläger die Verletztenrente von 20 v.H. der Vollrente bis zum Ablauf des Monats Oktober 1970 zu zahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt, daß die Begrenzung einer Dauerrente bei der Erstfeststellung auf einen Zeitraum von weniger als ein Jahr nur dann zulässig sei, wenn dies vor Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall geschehe. Zu dem danach maßgeblichen Zeitpunkt sei die Beklagte in der Lage gewesen, die Rente als eine vorläufige festzustellen; es hätten jedoch bis zum Ablauf der Frist für sie noch keine Anhaltspunkte dafür bestanden, daß die Verletzungsfolgen des Klägers nur noch gering seien bzw. eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von unter 20 v.H. bedingen könnten.
Die – zugelassene – Berufung der Beklagten hatte Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts –LSG– vom 17. Januar 1973). Im Berufungsurteil ist ausgeführt: § 622 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beziehe sich nur auf Fälle, in denen vor Ablauf der Zweijahresfrist eine vorläufige Rente festgestellt worden sei. Das sei hier nicht der Fall gewesen. Aus § 1585 Abs. 2 RVO ergebe sich weder eine Verpflichtung des Unfallversicherungsträgers zur Feststellung einer vorläufigen Rente noch werde ihm damit vorgeschrieben, wann er die Rente festzustellen habe. Dem Verletzten bleibe insoweit nur die Untätigkeitsklage des § 54 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die dem Kläger gewährte Rente sei weder eine vorläufige noch eine Dauerrente; sie sei – weil für einen vergangenen Zeitraum bewilligt – eine Verletztenrente eigener Art, die ihre rechtliche Grundlage unmittelbar in der Vorschrift des § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO finde und auch von § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO nicht berührt werde.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet:
Leistungsbescheide hätten im allgemeinen rein deklaratorische Wirkung. Entscheidend könne daher nur sein, ob der Anspruch des Berechtigten durch Erfüllung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen zur Entstehung gelangt sei. Hier könne es keinem Zweifel unterliegen, daß der Anspruch des Klägers auf eine Rente von 20 v.H. der Vollrente nach dem 1. und 2. Rentengutachten am 9. Dezember 1968 entstanden sei. Damit sei die Beklagte verpflichtet gewesen, spätestens im Januar 1969 den Anspruch des Klägers durch Bescheid festzustellen. Wenn die Beklagte ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen sei, obwohl auch noch im September 1969 eine entsprechende MdE bestanden habe, so liege darin ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und eine Verletzung der Treue- und Fürsorgepflicht. Wolle man es dem Versicherungsträger überlassen, den angemessenen Zeitpunkt zur bescheidmäßigen Bestätigung eines begründeten Anspruchs selbst zu bestimmen, so würde man der Manipulierung des Gesetzes Tür und Tor öffnen. Demgemäß müsse sich der Versicherungsträger so behandeln lassen, als wenn er seiner Verpflichtung zur rechtzeitigen Bescheiderteilung nachgekommen sei.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 5. November 1971 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.
Der Bescheid habe, selbst wenn er eine lediglich deklaratorische Bedeutung habe, ab 1. Januar 1970 keine Rente mehr zusprechen dürfen. Im übrigen sei die späte Bescheiderteilung durch weitere notwendige medizinische Erhebungen bedingt gewesen. Für ein treuwidriges Verhalten der Beklagten habe die Revision auch nichts Stichhaltiges vorgetragen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). In der Sache konnte sie keinen Erfolg haben.
Die Ausführungen des LSG, für eine Anwendung von § 622 Abs. 2 Sätze 1 und 2 RVO sei kein Raum, die dem Kläger gewährte Rente könne nicht als eine vorläufige Rente angesehen werden, weil sie erst nach Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall festgestellt worden sei, aus § 1585 Abs. 2 RVO ergebe sich keine – mit unmittelbaren Rechtswirkungen verbundene – Verpflichtung zur erstmaligen Feststellung einer vorläufigen Rente oder einer Dauerrente innerhalb von zwei Jahren seit dem Unfall, lassen keinen Rechtsfehler erkennen. Sie stehen im Einklang mit dem hinreichend eindeutigen Wortlaut dieser Vorschriften und mit der Rechtsprechung des 5. Senats des Bundessozialgerichts –BSG– (vgl. BSG 32, 11, 12/13), der der erkennende Senat insbesondere auch insoweit beitritt, als dort die Zulässigkeit der zeitlich begrenzten Dauerrente – wenn ein Rentenanspruch nur für die Vergangenheit besteht – bejaht wird (vgl. dazu auch Urteil des erkennenden Senats vom 29. November 1973 – 8/2 RU 127/72 – S. 7/8). Die dagegen von der Revision erhobenen Bedenken greifen nicht durch.
Die Revision geht davon aus, daß der Versicherungsträger umgehend zumindest eine vorläufige Rente feststellen müsse, sobald deren Entstehung und Umfang für ihn erkennbar geworden seien; ergäben sich für ihn innerhalb von zwei Jahren seit dem Unfall keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Änderung der Rente, so müsse er, wenn er deshalb untätig bleibe, den Eintritt der Rechtsfolge des § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO hinnehmen. Nichts anderes könne gelten, wenn der Versicherungsträger die rechtzeitige Feststellung der vorläufigen Rente pflichtwidrig unterlassen habe; er müsse sich so behandeln lassen, wie wenn er seiner Verpflichtung ordnungsgemäß nachgekommen wäre.
Hierbei übersieht die Revision, daß § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO an ein bestimmtes Verhalten des Unfallversicherungsträgers und an den tatsächlichen Bezug einer vorläufigen Rente, nicht aber an eine unabhängig davon gegebene Rechtslage, d. h. das Bestehen eines Anspruchs, anknüpft. Hat der Versicherungsträger eine vorläufige Rente festgestellt und eine Entscheidung über die Dauerrente innerhalb von zwei Jahren seit dem Unfall unterlassen, so verwandelt sich die vorläufige Rente auch dann in eine Dauerrente, wenn ein Anspruch auf Rente vom Zeitpunkt der Umwandlung an in Wahrheit nicht besteht und schon die vorläufige Rente nicht hätte gewährt werden dürfen. Das Gesetz nimmt hier im Interesse des Berechtigten, der auf den Bestand der ihm durch den Bescheid zugebilligten Rechtsstellung vertraut, eine Abweichung von der materiellen Rechtslage in Kauf. Daraus erhellt, daß es für die Anwendung von § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO nicht darauf ankommen kann, ob und wann der Rentenanspruch des Verletzten entstanden ist, sondern allein darauf, ob vor Ablauf der Zwei-Jahresfrist tatsächlich eine vorläufige Rente gewährt worden ist (vgl. dazu auch Schroeder-Printzen, Soziale Sicherheit, 1964, 215). Fehlt es an der Feststellung einer vorläufigen Rente, selbst wenn diese geboten gewesen wäre, so fehlt es auch an einem Sachverhalt, auf dessen Bestand der Berechtigte aus der Sicht des Gesetzgebers vertrauen darf und der deswegen selbständige Grundlage eines Anspruchs auf Dauerrente sein könnte.
Daran ändert auch der Umstand nichts, daß das Unterbleiben einer – wie die Revision meint – nach der Sachlage gebotenen rechtzeitigen Bescheiderteilung u.U. eine Verletzung der dem Unfallversicherungsträger obliegenden Pflichten darstellen mag. Ob eine solche Unterlassung einen Anspruch auf Schadensersatz unter dem Gesichtspunkt von § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) i.V.m. Art. 34 des Grundgesetzes (GG) begründen kann, für den der ordentliche Rechtsweg gegeben wäre, ist in diesem Verfahren nicht zu erörtern (vgl. BSG 18, 293 [298]). Hier geht es allenfalls darum, ob sich ein Unfallversicherungsträger, der nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine vorläufige Rente bewilligt hat, bei Anwendung von § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO so behandeln lassen muß, als habe er dies getan. Diese Frage ist zu verneinen. Unter dem Blickpunkt der vom Gesetzgeber vorgenommenen Interessenabwägung kann es – wie bereits dargelegt – hier nicht darauf ankommen, was der Unfallversicherungsträger bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte tun müssen, sondern allein darauf, was er – zu Recht oder zu Unrecht – getan hat. Daß beim Unterbleiben der Feststellung einer vorläufigen Rente innerhalb von zwei Jahren seit dem Unfall die Rechtsfolge des § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO nicht eintritt, hat der Gesetzgeber ersichtlich gewollt; die Berufung darauf kann daher jedenfalls grundsätzlich nicht als Ausnutzung einer rechtswidrig erlangten Rechtsstellung angesehen werden (vgl. dazu Soergel/Siebert, BGB mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, 10. Aufl., RdNr. 193 zu § 242; Staudinger, Komm. zum BGB mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, 11. Aufl., RdNr. D 400 ff zu § 242). Darin liegt kein Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip; weder der Grundsatz der Rechtssicherheit (vgl. BVerfGE 7, 194 [196]; 27, 167 [173]) noch auch der der materiellen Gerechtigkeit (vgl. BVerfGE 21, 378 [388]; 22, 322 [329]) wird berührt. Der Kläger vermag nur geltend zu machen, ihm sei der Erwerb einer formalen Rechtsstellung entgangen. Daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers in der Zeit vom 1. Januar bis 31. Oktober 1970 nicht in einem die Gewährung einer Verletztenrente rechtfertigenden Umfange gemindert war, stellt auch die Revision nicht in Abrede. Damit konzentriert sich der Vorwurf, den die Revision der Beklagten macht, darauf, daß letztere nicht einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat, der anstelle der im Regelfall erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen, d. h. einer unfallbedingten MdE um mindestens 1/5, nach Sinn und Zweck des § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO die alleinige Grundlage eines Rentenanspruchs gebildet hätte. Das von der Revision behauptete Unterbleiben einer rechtzeitigen Bescheiderteilung mag – was hier keiner Entscheidung bedarf – zutreffendenfalls insofern einen Gesetzesverstoß darstellen, als der Kläger ihm zustehende Leistungen nicht in der Zeit erhalten hat, in der er sie nach dem Willen des Gesetzgebers hätte erhalten sollen. Es steht aber nicht im Widerspruch zu Wortlaut und Sinn des Gesetzes, wenn beim Kläger nicht auch die Erwartung geweckt worden ist, er werde über den 31. Dezember 1969 hinaus eine ihm in Wahrheit nicht zustehende Rente beziehen. Ist eine vorläufige Rente nicht gewährt worden, so fehlt es nach alledem an der vom Gesetzgeber in §§ 622 Abs. 2, 1585 Abs. 2 RVO vorausgesetzten Interessenlage, weshalb der geltend gemachte Anspruch weder nach dem Sinn und Zweck dieser Vorschriften noch nach den Grundsätzen von Treu und Glauben noch schließlich nach höherrangigem Recht begründet ist.
Allerdings kann sich der Unfallverletzte gegen den Verlust der ihm in den genannten Vorschriften zugedachten Rechtsposition dadurch schützen, daß er alsbald nach dem Unfall einen Bescheid über die ihm zustehende Unfallentschädigung begehrt (vgl. § 1546 Abs. 1 Satz 1 RVO) und – worauf das LSG bereits zutreffend hingewiesen hat – sechs Monate nach Antragstellung (vgl. § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG) Untätigkeitsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG erhebt. Angesichts dieser dem Verletzten eingeräumten Möglichkeit bedarf es keiner allgemeinen Erörterung darüber, ob die obigen Grundsätze auch dann zu gelten haben, wenn dem Unfallversicherungsträger der Versuch einer Manipulation zum Nachteil des Verletzten zur Last fallen sollte. Daß ein solcher Sachverhalt hier vorläge, hat das LSG nicht festgestellt; auch die Revision hat insoweit – außer dem Hinweis auf die Daten des 1. und 2. Rentengutachtens – keine Tatsachen, die eine absichtliche Verzögerung dartun könnten, vorgetragen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Unterschriften
Dr. Maisch, Schroeder-Printzen, Thomas
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 05.04.1974 durch Schuppelius Reg.Hauptsekretär als Ukr. Beamter der Gesch.Stelle
Fundstellen