Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufhebung der Leistungsbewilligung in Anwendung des § 48 Abs 1 S 2 SGB 10 iVm § 152 Abs 3 AFG idF vom 21.12.1993. Ermessensausübung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Aufhebung einer Leistungsbewilligung in Anwendung des § 48 Abs 1 S 2 Nrn 2 und 4 SGB X iVm § 152 Abs 3 AFG erfordert seit 1.1.1994 in sogenannten atypischen Fällen auch dann nicht die Ausübung von Ermessen, wenn erst der Widerspruchsbescheid im Jahre 1994 ergangen ist und im Jahre 1993 nicht hätte ergehen müssen (Fortführung von BSG vom 28.11.1996 – 7 RAr 56/96 = SozR 3-4100 § 117 Nr 13).

Stand: 24. Oktober 2002

 

Normenkette

AFG § 152 Abs. 3 Fassung: 1993-12-21; SGB X § 48 Abs. 1 S. 2 Nrn. 2, 4; GG Art. 20 Abs. 3

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 10.05.1996; Aktenzeichen L 13 Ar 5/95)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 07.06.1995; Aktenzeichen S 4 Ar 162/94)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Mai 1996 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Das Verfahren betrifft (noch) die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 22. Januar bis 17. März 1993 und die daraus resultierende Erstattungsforderung in Höhe von 2.298,30 DM sowie die Erstattung von Krankenversicherungsbeiträgen, die die Beklagte im streitigen Zeitraum entrichtet hat.

Der Kläger nahm während des Bezugs von Alg am 18. Januar 1993 eine Arbeit als Aushilfsfahrer an, die am 21. Januar 1993 vorzeitig endete (30,5 Arbeitsstunden; 545,32 DM Arbeitsentgelt). Eine Arbeitslosmeldung nach Ende der Beschäftigung erfolgte nicht mehr; am 18. März 1993 hat der Kläger eine neue Arbeitsstelle angetreten.

Im April 1993 erfuhr das Arbeitsamt (ArbA) von der Beschäftigung des Klägers in der Zeit vom 18. bis 21. Januar 1993, hob (nach dessen Anhörung) die Bewilligung von Alg ab 18. Januar 1993 auf und forderte die Rückzahlung des (bis 17. März 1993) gezahlten Alg in Höhe von 2.493,90 DM (Bescheid vom 1. Dezember 1993) sowie die Erstattung der in diesem Zeitraum wegen des Alg-Bezugs gezahlten Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 953,53 DM (Bescheid vom 25. April 1994); die Widersprüche des Klägers gegen beide Bescheide blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 1994).

Nachdem die Beklagte beim Sozialgericht (SG) erklärt hatte, daß sie für den 18. bis 21. Januar 1993 keine Krankenversicherungsbeiträge geltend mache, hob das SG die Bescheide vom 1. Dezember 1993 und 25. April 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Mai 1994 auf, soweit sie die Zeit vom 22. Januar bis 17. März betreffen (Urteil vom 7. Juni 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil zurückgewiesen (Urteil vom 10. Mai 1996). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Kläger habe zwar ab 22. Januar 1993 die Voraussetzungen für den Bezug von Alg wegen fehlender Arbeitslosmeldung nicht mehr erfüllt. Die Bescheide der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids seien jedoch für die Zeit ab 22. Januar 1993 rechtswidrig, weil der Bescheid der Beklagten über die Aufhebung der Alg-Bewilligung nicht den Voraussetzungen des § 48 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) entspreche. Es könne offenbleiben, ob der Kläger einer Mitteilungspflicht vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen sei oder ob er gewußt habe oder grob fahrlässig in Unkenntnis darüber gewesen sei, daß ihm die Leistung nicht zugestanden habe (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 SGB X). Entscheidend sei, daß nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X in atypischen Fällen bei der Aufhebung einer Leistungsbewilligung für die Vergangenheit Ermessen auszuüben gewesen sei. Eine Atypik sei anzunehmen, weil der Kläger nur vier Tage beschäftigt gewesen sei und danach mit der fehlenden Arbeitslosmeldung nur eine formelle Voraussetzung für den Bezug von Alg nicht mehr vorgelegen habe. Ermessen habe die Beklagte indes nicht ausgeübt. Hiervon entbinde sie nicht § 152 Abs 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in der seit 1. Januar 1994 geltenden Fassung. Diese Vorschrift könne nicht auf die noch im Jahre 1993 abgeschlossenen Sachverhalte angewandt werden.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 48 Abs 1 SGB X und des § 152 Abs 3 AFG. Sie ist der Ansicht, das LSG habe zu Unrecht eine Atypik iS des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X angenommen. Aufgrund der Änderung des § 152 Abs 3 AFG komme es jedoch hierauf nicht an, weil ohnedies seit 1. Januar 1994 Ermessen nicht mehr ausgeübt werden müsse. § 152 Abs 3 AFG nF finde auch auf Sachverhalte Anwendung, die bereits vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen gewesen seien.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage unter Abänderung des Urteils des SG in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger hat sich weder zur Sache geäußert noch einen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist iS der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die Entscheidung des LSG beruht auf einer fehlerhaften Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X iVm § 152 Abs 3 AFG; mangels ausreichender tatsächlicher Feststellung ist indes eine abschließende Entscheidung durch den Senat nicht möglich bzw untunlich.

Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die Bescheide der Beklagten vom 1. Dezember 1993 und 25. April 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Mai 1994, beschränkt auf den Zeitraum vom 22. Januar bis 17. März 1993. Soweit die Beklagte für die Zeit vom 18. Januar bis 21. Januar 1993 die Bewilligung von Alg aufgehoben und die Erstattung von Alg in Höhe von 195,60 DM gefordert hat, ist die Klage bereits erstinstanzlich rechtskräftig abgewiesen worden; die Erstattung von Krankenversicherungsbeiträgen war sowohl beim SG als auch beim LSG nur für den Zeitraum vom 22. Januar bis 17. März 1993 Gegenstand der Entscheidung. Allerdings unterblieb – von der Rechtsauffassung des SG und LSG ausgehend folgerichtig – eine Bezifferung des in diesem Punkt noch streitigen Erstattungsbetrags. Gegebenenfalls wird dies bei einer erneuten Entscheidung vom LSG nachzuholen sein.

Verfahrensfehler, die bei zulässiger Revision von Amts wegen zu beachten sind, liegen nicht vor; insbesondere war die Berufung mit Rücksicht auf den Wert des Beschwerdegegenstandes zulässig (§ 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG iVm § 202 SGG und § 5 Zivilprozeßordnung).

Die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 1. Dezember 1993 (über die Aufhebung der Alg-Bewilligung) in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Mai 1994 mißt sich – ausgehend von den tatsächlichen Feststellungen des LSG – an § 48 SGB X iVm § 152 Abs 3 AFG (letzterer idF des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993 – BGBl I 2353 –, in Kraft getreten am 1. Januar 1994). Nach § 48 Abs 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt (Satz 1). Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse (rückwirkend) ua aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Satz 2 Nr 2) oder der Betroffene wußte oder nicht wußte, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, daß der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (Satz 2 Nr 4). Abweichend von § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X ist jedoch gemäß § 152 Abs 3 AFG der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben.

Die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X sind vorliegend erfüllt. Die wesentliche Änderung der Verhältnisse besteht darin, daß der Kläger am 18. Januar 1993 eine mehr als kurzzeitige Beschäftigung aufgenommen und sich in der Folgezeit beim ArbA nicht mehr arbeitslos gemeldet hat. Wie das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung hierzu entschieden hat, verliert die Arbeitslosmeldung mit der Aufnahme einer Beschäftigung ihre Wirkung; nach Beendigung der Beschäftigung kann ein Alg-Anspruch erst mit erneuter Arbeitslosmeldung entstehen (BSGE 44, 164 ff = SozR 4100 § 134 Nr 3; BSGE 77, 175 ff = SozR 3-4100 § 105 Nr 2; BSG, Urteil vom 21. März 1996 – 11 RAr 93/95 –, unveröffentlicht; BSG SozR 3-4100 § 105 Nrn 3 und 4; BSG, Urteile vom 23. Juli 1996 – 7 RAr 92/95, 7 RAr 94/95, 7 RAr 112/95 und 7 RAr 124/95 –, alle unveröffentlicht; Urteile vom 1. August 1996 – 11 RAr 9/96 und 11 RAr 15/96 –, beide unveröffentlicht). Die Arbeitsaufnahme verbraucht im übrigen auch den Leistungsantrag (BSGE 44, 164, 173 = SozR 4100 § 134 Nr 3; BSG, Urteile vom 1. August 1996, aaO). Diese wesentliche Änderung dürfte vorliegend nach Erlaß des Bewilligungsbescheids eingetreten sein. Das LSG hat zwar nur den Bescheid vom 29. Dezember 1992 erwähnt, obwohl die Akten Anhaltspunkte für einen im Januar ergangenen weiteren Bescheid enthalten, der offenbar aber noch vor Aufnahme der Beschäftigung erlassen worden ist. Sollte es sich bei diesem Bescheid um einen typischen Änderungsbescheid handeln, in dem die neue Leistungsverordnung angewandt worden ist, dürfte im übrigen ohnedies weiterhin § 48 SGB X Anwendung finden (vgl: BSG SozR 3-4100 § 249e Nr 9 mwN; BSG, Urteil vom 29. Januar 1997 – 11 RAr 43/96 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Das LSG mag dies bei seiner erneuten Entscheidung genauer überprüfen.

Es fehlen jedoch tatsächliche Feststellungen des LSG für eine Entscheidung darüber, ob die Voraussetzungen einer Aufhebung des Bewilligungsbescheids mit Wirkung für die Vergangenheit gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 SGB X vorlagen, ob also der Kläger eine Mitteilung der Arbeitsaufnahme vorsätzlich oder grob fahrlässig unterlassen hat bzw wußte oder grob fahrlässig nicht wußte, daß der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes für den streitigen Zeitraum weggefallen war. Ob eine zeitliche Beschränkung des Aufhebungszeitraums auf drei Monate, beginnend mit der letzten Arbeitslosmeldung (abweichend der Sammelerlaß Alg/Alhi der Beklagten, Stand August 1996, § 105 Rz 12 ff), mit Rücksicht auf die Schadensminderungspflicht der Beklagten (vgl: BSGE 77, 175, 180 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2; BSG, Urteile vom 1. August 1996 – 11 RAr 9/96 und 11 RAr 15/96 –, beide unveröffentlicht) möglich und zulässig ist, kann bei dieser Situation noch offenbleiben. Damit läßt sich auch nicht endgültig beurteilen, ob und in welcher Höhe der Kläger das gezahlte Alg gemäß § 50 Abs 1 Satz 1 SGB X zu erstatten hat (Bescheid vom 1. Dezember 1993).

Hieran ändert sich – entgegen der Ansicht des LSG – nichts dadurch, daß die Beklagte im angefochtenen Bescheid vom 1. Dezember 1993 keinen atypischen Fall angenommen und kein Ermessen ausgeübt hat. Ob, wie das LSG und der Kläger meinen, ein sog atypischer Fall vorliegt, der die Beklagte (vor dem 1. Januar 1994) zur Ausübung von Ermessen verpflichtete (vgl: BSGE 59, 111, 114 ff = SozR 1300 § 48 Nr 19; BSGE 66, 103, 108 = SozR 4100 § 103 Nr 47; BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 9), kann dahinstehen; denn § 152 Abs 3 AFG nF verpflichtet die Beklagte (seit dem 1. Januar 1994) im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X zur Aufhebung der Leistungsbewilligung mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse ohne die Ausübung von Ermessen. Dies gilt, wie der Senat bereits entschieden hat, für alle Aufhebungsbescheide, die nach dem 31. Dezember 1993 ergangen sind bzw ergehen (Urteil vom 28. November 1996 – 7 RAr 56/96 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Der mit Wirkung ab 1. Januar 1994 eingefügte § 152 Abs 3 AFG ist aber auch dann anzuwenden, wenn – wie hier – der Aufhebungsbescheid selbst noch im Jahre 1993, der Widerspruchsbescheid hingegen erst im Jahre 1994 ergangen ist und – wie vorliegend – der Widerspruchsbescheid jedenfalls nicht mehr im Jahre 1993 hätte ergehen müssen (§ 88 Abs 2 SGG). Auf die Rechtmäßigkeit des Ausgangsbescheids allein kommt es insoweit nicht an. Denn die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns beurteilt sich – bei dem hier obligatorisch vorgesehenen Vorverfahren (§ 78 Abs 1 Satz 1 SGG) – nach dem Ausgangsbescheid in der Gestalt, die dieser durch den Widerspruchsbescheid erhalten hat. Beide ergehen nämlich in einem einheitlichen – nicht in zwei getrennten – Verwaltungsverfahren, das erst durch den Widerspruchsbescheid abgeschlossen wird (BVerwGE 82, 336, 338; Meyer-Ladewig, SGG, Vor § 77 Rz 4; Krasney in KasselerKomm, Stand Juni 1996, § 8 SGB X Rz 9). Demgemäß ist nach § 95 SGG Gegenstand der vom Kläger erhobenen Anfechtungsklage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Damit übereinstimmend sieht § 41 Abs 2 SGB X die Heilung von Verfahrens- und Formfehlern noch bis zum Abschluß eines Vorverfahrens vor.

Die Anwendbarkeit des § 152 Abs 3 AFG, der im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (Widerspruchsbescheid) bereits in Kraft getreten war, folgt, wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 28. November 1996 (7 RAr 56/96, zur Veröffentlichung vorgesehen) ausgeführt hat, sowohl aus Wortlaut als auch Entstehungsgeschichte und Rechtssystematik der Neuregelung. Darüber hinaus entspricht es einem allgemeinen Grundsatz des Verfahrensrechts, daß neue Bestimmungen auch für schwebende Verfahren gelten, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist (vgl: BSGE 56, 222, 225 = SozR 2200 § 368n Nr 30; BSGE 70, 133 f = SozR 3-1300 § 24 Nr 6; BSGE 72, 148, 156 mwN = SozR 3-2500 § 15 Nr 1). Daß die dem Verfahrensrecht zuzuordnende Vorschrift des § 48 SGB X materielle Wirkung besitzt, weil sie die Aufhebung früherer bewilligender Bescheide an bestimmte Voraussetzungen knüpft, die dem Betroffenen einen gewissen Bestandsschutz gewährleisten, steht dem nicht entgegen.

Wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 28. November 1996 für den Fall ausgeführt hat, daß sowohl der Ausgangsbescheid als auch der Widerspruchsbescheid nach 1993 ergangen sind, gebietet der Verfassungsgrundsatz der Rechtssicherheit bzw des Vertrauensschutzes keine andere Auslegung. Nichts anderes gilt für den Fall, daß nur der Widerspruchsbescheid im Jahre 1994 ergangen ist.

Zwar wirkt die Vorschrift des § 152 Abs 3 AFG in Fällen der vorliegenden Art auf eine bereits vor ihrem Inkrafttreten bestehende Situation ein. Doch kann nicht von einem Eingriff in eine materiell-rechtlich gefestigte Position gesprochen werden. § 152 Abs 3 AFG modifiziert nämlich nicht die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Aufhebung; er verzichtet insbesondere nicht auf die sogenannte Bösgläubigkeit (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 SGB X), sondern beseitigt insoweit ausschließlich eine zusätzliche Vergünstigung auf der Rechtsfolgeseite (Ermessensbetätigung) für eine Personengruppe, die bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 oder 4 SGB X wegen ihrer Bösgläubigkeit ohnedies keines gesteigerten Vertrauensschutzes bedarf.

§ 48 Abs 2 SGB X sieht als Grundsatz „soll”) die rückwirkende Aufhebung rechtswidrig zuerkannter Leistungen bei den in Nr 1 bis Nr 4 genannten Fallgestaltungen vor. Lediglich in atypischen Fällen – also in Fallgestaltungen, die Merkmale aufweisen, die signifikant vom (typischen) Regelfall abweichen – kann der Leistungsträger nach seinem Ermessen hiervon abweichen. Selbst der in sog atypischen Fällen Betroffene kann also nicht ohne weiteres darauf bauen, daß die Beklagte von einer Aufhebung und der daraus resultierenden Rückforderung absehen wird. Der Betroffene hat mithin regelmäßig keinen Anspruch darauf, die rechtswidrig zuerkannte Leistung behalten zu dürfen, sondern nur einen Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung der Verwaltung, die nur in bestimmten seltenen Konstellationen – bei einer Ermessensschrumpfung auf Null – zu seinen Gunsten ausgehen muß (vgl etwa BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 42) und noch im Widerspruchsbescheid nachgeholt werden kann, wenn sie im Ausgangsbescheid unterblieben ist. Allein die seltene Fallgestaltung einer materiellen Verfestigung der verfahrensrechtlichen Rechtsposition des Betroffenen kann es jedoch nicht rechtfertigen, bei allen vor Inkrafttreten des § 152 Abs 3 AFG liegenden Sachverhaltskonstellationen noch darauf abzustellen, ob ein sog atypischer Fall vorliegt. Abgesehen davon ist es zweifelhaft, ob die vom LSG angeführten Gründe die Annahme eines atypischen Falles und einer Ermessensreduzierung auf Null überhaupt rechtfertigen. Härtefällen könnte im Einzelfall durch Erlaß der Forderung (vgl zum Erlaß nur BSG SozR 3-4427 § 5 Nr 1 mwN) Rechnung getragen werden (BSG, Urteil vom 28. November 1996 – 7 RAr 56/96 –, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Soweit die Beklagte mit Bescheid vom 25. April 1994 die Erstattung der für den streitigen Zeitraum entrichteten Krankenversicherungsbeiträge verlangt hat, bleibt die abschließende Entscheidung ebenfalls dem LSG vorbehalten. Die Rechtmäßigkeit dieses Bescheids richtet sich nach § 157 Abs 3a AFG (idF des Gesetzes zur Änderung von Förderungsvoraussetzungen im AFG und anderen Gesetzen vom 18. Dezember 1992 – BGBl I 2044). Danach hat der Versicherte der Beklagten die Beiträge zur Krankenversicherung zu erstatten, soweit die Entscheidung, die zu einem Bezug von ua Alg geführt hat, rückwirkend aufgehoben und die Leistung zurückgefordert worden ist (Satz 1). Hat jedoch für den Zeitraum, für den der Versicherte nach Satz 1 erstattungspflichtig ist, ein weiteres Krankenversicherungsverhältnis bestanden, so erstattet die Krankenkasse, die die Krankenversicherung nach den §§ 155 bis 161 durchführt, der Beklagten die für diesen Zeitraum entrichteten Beiträge; der Versicherte wird insoweit von der Erstattungspflicht nach Satz 1 befreit (Satz 2).

Sollte die Aufhebung der Alg-Bewilligung rechtswidrig sein, würde ein Erstattungsanspruch der Beklagten für den noch streitigen Zeitraum völlig entfallen. Erst wenn überhaupt feststeht, daß und für welchen Zeitraum die Aufhebung der Alg-Bewilligung und Rückforderung Rechtens ist, ist es tunlich, die bislang im Rechtsstreit nicht erörterten Fragen des § 157 Abs 3a zu prüfen (Verhältnis zu nachgehendem Leistungsanspruch des § 19 Abs 2 Sozialgesetzbuch – Krankenversicherung – bzw zu § 155 Abs 2 Satz 2 iVm § 155a AFG; Höhe des Erstattungsbetrags).

Schließlich wird das LSG die Kostenentscheidung der ersten Instanz zu überprüfen und gegebenenfalls den erstinstanzlichen Tenor zu ändern sowie über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1174541

SozR 3-4100 § 152, Nr.8

SozSi 1998, 240

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