Beteiligte
Bau-Berufsgenossenschaft Hamburg |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. September 1996 geändert. Der Bescheid der Beklagten vom 29. Juni 1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 31. August 1994 wird insoweit aufgehoben, als er den Kläger verpflichtet, die ihm für die Zeit vom 18. Mai 1993 bis 30. September 1993 geleisteten Rentenzahlungen zurückzuerstatten. Im übrigen wird die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Soialgerichts Kiel vom 6. September 1995 zurückgewiesen.
Im übrigen wird die Revision des Klägers zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits zu zwei Drittel zu erstatten.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist die Verpflichtung des Klägers umstritten, von der Beklagten nach einem – inzwischen bestandskräftigen – Entziehungsbescheid weitergewährte Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung für die Zeit vom 1. September 1992 bis 30. September 1993 zurückzuzahlen.
Die Beklagte hatte dem Kläger wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls am 27. Juni 1991 eine vorläufige Verletztenrente ab 21. August 1991 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH bewilligt (Bescheid vom 10. Januar 1992). Wegen Besserung der Unfallfolgen entzog die Beklagte die Rente mit Ablauf des Monats August 1992 (Bescheid vom 7. Juli 1992 idF des Widerspruchsbescheids vom 20. April 1993). Die hiergegen am 18. Mai 1993 beim Sozialgericht (SG) erhobene Klage (S 1 U 59/93) nahm der Kläger am 14. Juni 1994 zurück.
Die Beklagte setzte auch nach Erlaß des Entziehungsbescheids vom 7. Juli 1992 die Rentenzahlungen bis Ende September 1993 fort. Mit Schreiben vom 9. September 1993 teilte sie dem Kläger die Zahlungseinstellung mit, führte ua darin aus, daß er wegen des Rentenentziehungsbescheids keinen Vertrauensschutz im Hinblick auf die versehentlich erfolgten Überzahlungen genieße und forderte ihn auf, insgesamt 10.610,60 DM zurückzuzahlen. Auf Verlangen des Klägers erließ die Beklagte unter dem 29. Juni 1994 einen förmlichen Rückforderungsbescheid, in dem es zur Begründung heißt, aufgrund der Klagerücknahme vom 14. Juni 1994 sei der Rentenentziehungsbescheid vom 7. Juli 1992 bindend geworden. Der hiergegen gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 31. August 1994).
Das SG hat den Bescheid vom 29. Juni 1994 idF des Widerspruchsbescheids vom 31. August 1994 aufgehoben (Urteil vom 6. September 1995): Die auf § 50 Abs 2 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) iVm § 45 SGB X gestützte Rückforderung sei rechtswidrig, weil die Beklagte im Rahmen des § 45 SGB X keine ausreichenden Ermessenserwägungen angestellt habe; vor allem habe sie nicht die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers näher geprüft und in ihre Erwägungen einbezogen. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 20. September 1996). Zur Begründung heißt es im wesentlichen, für die Zeit vom 1. September 1992 – erster Tag nach dem in dem Rentenentziehungsbescheid festgesetzten Ende der Rentenzahlung – bis zum 17. Mai 1993 – ein Tag vor Erhebung der Klage gegen den Rentenentziehungsbescheid – habe für die Beklagte bei der Rückforderung kein Anlaß für eine Ermessensausübung bestanden. Vielmehr sei insoweit die Rückforderung zwingend in § 50 Abs 1 SGB X vorgeschrieben. Rechtsgrundlage für die erbrachten Leistungen sei insoweit noch der Bewilligungsbescheid vom 10. Januar 1992 gewesen. Durch die mit der Einlegung des Widerspruchs gegen den Rentenentziehungsbescheid gemäß § 86 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) eingetretene Vollziehungshemmung des Entziehungsbescheids sei der ursprüngliche Bewilligungsbescheid Rechtsgrundlage für die bis zur Klageerhebung gegen diesen Entziehungsbescheid geleisteten Zahlungen gewesen. Die für den dargestellten Zeitraum vorhandene aufschiebende Wirkung des Widerspruchs sei mit dem Eintritt der Rechtsbeständigkeit des Entziehungsbescheids (mit der Klagerücknahme am 14. Juni 1994) rückwirkend entfallen mit der Folge, daß die für die Dauer der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs geleisteten Zahlungen vom Kläger zu erstatten seien.
Die Rückforderung der ab Klageerhebung gegen den Entziehungsbescheid geleisteten Zahlungen richte sich hingegen nach § 50 Abs 2 iVm § 45 SGB X. Für die Vollziehungshemmung eines angefochtenen Verwaltungsakts gelte ab Klageerhebung die besondere Vorschrift des § 97 SGG. Der Kläger habe beim SG keinen Antrag auf Aussetzung des Vollzugs des Entziehungsbescheids beantragt. Dementsprechend habe der Vollziehung des Entziehungsbescheids ab Klageerhebung kein Hindernis entgegengestanden. Von diesem Zeitpunkt an könne deshalb der Bewilligungsbescheid vom 10. Januar 1992 nicht mehr als Rechtsgrundlage für die weiteren Zahlungen angesehen werden, die damit ohne Rechtsgrund erfolgt seien. Für ihre Rückforderung gelte daher § 50 Abs 2 SGB X iVm mit einer entsprechenden Anwendung des § 45 SGB X. Zwar müsse es als grob fahrlässig angesehen werden, wenn der Kläger nach Empfang des Rentenentziehungsbescheids und des dazu ergangenen Widerspruchsbescheids ohne weitere Rückfragen oder Erkundigungen davon ausgegangen sei, das weitergezahlte Geld auch für den Fall einer erfolglosen Klage behalten zu dürfen. Im Gegensatz zur Auffassung des SG enthalte indessen der angefochtene Bescheid ausreichende Ermessenserwägungen. Die Beklagte habe sich bei ihren im Widerspruchsbescheid umfangreich enthaltenen Ermessenserwägungen mit der Frage auseinandergesetzt, ob und welches Verschulden seitens der Verwaltung zu der Überzahlung geführt habe. Nach der eindeutigen Bestimmung des Endzeitpunkts der Rente im Rentenentziehungsbescheid habe für einen ausdrücklichen Vorbehalt der Rückforderung weiterer Zahlungen keine Notwendigkeit bestanden. Schließlich habe die Beklagte nach der für sie erkennbaren Einkommenssituation des Klägers auch keinen Anlaß gehabt, an der Fähigkeit des Klägers zur Erstattung der überzahlten Beträge zumindest in Raten zu zweifeln. Eine weitergehende Kontrolle der Ermessensausübung durch Gewichtung einzelner Argumente überschreite die Grenzen der gerichtlichen Ermessensüberprüfung.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 50 iVm § 45 SGB X). Zwar habe der Widerspruch gegen den Entziehungsbescheid gemäß § 86 Abs 2 SGG aufschiebende Wirkung, doch hemme die Einlegung des Widerspruchs nicht das Wirksamwerden des Verwaltungsakts. Die Bedeutung der aufschiebenden Wirkung bestehe lediglich darin, daß die Bindungswirkung des Verwaltungsakts gehemmt werde. Sie beziehe sich nicht auf den Eintritt der Wirksamkeit des Verwaltungsakts, sondern nur seine Vollziehbarkeit. Der Versicherungsträger sei somit verpflichtet, für die Dauer des durch die Anfechtung des Verwaltungsakts herbeigeführten Schwebezustands alle Maßnahmen zu unterlassen, die der Vollziehung des Verwaltungsakts dienten. Damit sei der Ansicht des LSG nicht zu folgen, den gesamten Zeitraum in zwei Teile aufzusplitten und dabei bis zum Tag der Erhebung der Klage gegen den Rentenentziehungsbescheid § 50 Abs 1 SGB X anzuwenden und damit die erbrachten Leistungen noch als auf der Grundlage des Bewilligungsbescheids vom 10. Januar 1992 gezahlt anzusehen. Zuzustimmen sei hingegen dem LSG, wenn es für die Rückforderung der ab Erhebung der Klage gegen den Entziehungsbescheid geleisteten Zahlungen als Rechtsgrundlage § 50 Abs 2 SGB X iVm einer entsprechenden Anwendung des § 45 SGB X sehe. Für den gesamten Zeitraum von September 1992 bis September 1993 hätten die von der Beklagten erbrachten Leistungen als ohne Verwaltungsakt erbracht gegolten. Die in § 50 Abs 2 SGB X enthaltene Verweisung auf § 45 SGB X habe von der Beklagten eine Vertrauensprüfung und Ermessensausübung gefordert. Entgegen der Auffassung des LSG sei festzustellen, daß Ermessenserwägungen im Rückforderungsbescheid vom 29. Juni 1994 und Widerspruchsbescheid vom 31. August 1994 keinen Ausdruck gefunden hätten. So sei bereits fraglich, ob er beim Leistungsbezug überhaupt bösgläubig gewesen sei, dh die Rechtsgrundlosigkeit der Leistung gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe. Die Ausführungen der Beklagten im angefochtenen Widerspruchsbescheid stellten keine Ermessensabwägung dar. Auch zu seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit habe die Beklagte keine Abwägung vorgenommen. Der Hinweis der Beklagten, sie sei ihm durch das Angebot der Ratenzahlung bereits entgegengekommen, könne nicht als ein Abwägen des Für und Wider zwischen öffentlichen und privaten Interessen angesehen werden. Zu seinem weiteren Vorbringen im Widerspruchsverfahren habe sich die Beklagte nicht geäußert, insbesondere nicht auf die für ihn eintretenden wirtschaftlichen Folgen der Rückforderung.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. September 1996 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 6. September 1995 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision des Klägers ist begründet, soweit sie den Zeitraum vom 18. Mai 1993 bis 30. September 1993 betrifft, für den die Beklagte die Rückerstattung der gezahlten Rente aufgrund der angefochtenen Bescheide zu Unrecht verlangt. Im übrigen ist die Revision unbegründet.
Zutreffend ist das LSG zunächst davon ausgegangen, daß für die Zeit vom 1. September 1992 – dem ersten Tag nach dem im Rentenentziehungsbescheid festgesetzten Ende der Rentenzahlung – bis zum 17. Mai 1993 – ein Tag vor Erhebung der Klage gegen den Rentenentziehungsbescheid – für die Beklagte kein Anlaß für eine Ermessensausübung bestand. Vielmehr ist die Rückforderung nach § 50 Abs 1 SGB X zwingend vorgeschrieben. Nach dieser Vorschrift sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Der aufgehobene Verwaltungsakt muß Rechtsgrundlage für die erbrachten Leistungen sein. Dies trifft für den vorstehend abgegrenzten Zeitraum zu: Rechtsgrundlage für die Zahlungen war insoweit – noch – der Bewilligungsbescheid vom 10. Januar 1992 über die vorläufige Verletztenrente. Es kann hier offenbleiben, ob dann, wenn das Gesetz – wie hier in § 86 Abs 2 SGG – die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vorsieht, damit lediglich eine Hemmung der Vollziehbarkeit oder gar eine Hemmung des Wirksamwerdens des Verwaltungsakts eintritt (s Schlegel in Hennig, SGG, § 86 RdNr 9). Aufschiebende Wirkung jedenfalls bedeutet, daß keine Maßnahmen zur Durchsetzung oder Vollstreckung des Verwaltungsakts eingeleitet oder durchgeführt werden dürfen. Bereits eingeleitete Maßnahmen sind einzustellen. Es tritt ein vorläufiger Schwebezustand ein (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 86 RdNr 6 mwN), der bis zur Klärung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts durch Abschluß des (Verwaltungs- oder Gerichts-)Verfahrens den „status quo ante” beibehält (Schlegel aaO § 86 RdNr 10). Bei gestaltenden Verwaltungsakten hat die aufschiebende Wirkung die Bedeutung, daß während des Schwebezustands keine Folgerungen aus dem angefochtenen Verwaltungsakt gezogen werden dürfen. Bei der Entziehung von Leistungen muß also, wenn Widerspruch eingelegt wird, zunächst weiter nach dem alten Verwaltungsakt gezahlt werden (Meyer-Ladewig aaO § 86 RdNr 6; Zeihe, SGG, 6. Aufl, § 86 RdNr 12a). Durch die mit der Einlegung des Widerspruchs gegen den Rentenentziehungsbescheid gemäß § 86 Abs 2 SGG eingetretene aufschiebende Wirkung blieb der Bewilligungsbescheid vom 10. Januar 1992 Rechtsgrundlage für die bis zur Klageerhebung gegen den Entziehungsbescheid geleisteten Zahlungen, und zwar unabhängig davon, ob die Beklagte sich nur „versehentlich” dementsprechend verhalten oder die in § 86 Abs 2 SGG angeordnete aufschiebende Wirkung beachtet haben sollte.
Diese aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Rentenentziehungsbescheid wirkte, wie das LSG zutreffend erkannt hat, bis zum 17. Mai 1993 (dh einen Tag vor Erhebung der Klage gegen diesen Verwaltungsakt). Bei sinnvoller Interpretation des Gesetzes ist es naheliegend, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nach § 86 Abs 2 SGG zumindest für den Fall der nachfolgenden Klageerhebung am Tag vor Eintritt der Rechtshängigkeit enden zu lassen. Für die Vollziehungshemmung eines angefochtenen Verwaltungsakts gilt ab Klageerhebung die spezielle Regelung in § 97 SGG. Nach dessen Abs 2 Satz 1 ist für die einstweilige Aussetzung des Vollzugs eines Verwaltungsakts, der eine laufende Leistung herabsetzt oder entzieht, eine auf Antrag des Klägers zu erlassende Anordnung des Gerichts erforderlich. Im Hinblick auf diese besondere, für das gerichtliche Verfahren maßgebende Vorschrift ist davon auszugehen, daß die mit der Einlegung des Widerspruchs nach § 86 Abs 2 SGG automatisch verbundene Wirkung mit dem Zeitpunkt der nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobenen Klage endet (Bayer LSG Breithaupt 1979, 197, 199; Schlegel aaO § 86 RdNr 11; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 86 Anm 2 Buchst a: mit Abschluß des Vorverfahrens; Zeihe aaO § 86 RdNr 12d). Soweit ua von Meyer-Ladewig (aaO § 86 RdNr 7) die weitergehende Auffassung vertreten wird, die aufschiebende Wirkung nach § 86 Abs 2 SGG ende erst mit der Unanfechtbarkeit des Widerspruchsbescheids, da sichergestellt sein müsse, daß die aufschiebende Wirkung ununterbrochen bis zur Rechtskraft wirke, vermag sich der Senat im Hinblick auf die Sonderregelung des § 97 SGG nicht anzuschließen. Diese Vorschrift geht gerade davon aus, daß die aufschiebende Wirkung nach § 86 SGG bei Entziehung von Leistungen der Sozialversicherung nicht über den Zeitpunkt der Klageerhebung hinaus andauert. Sonst wäre die Aussetzung des Vollzugs des angefochtenen Verwaltungsakts auf Antrag des Klägers überhaupt nicht erforderlich.
Diese auf den dargestellten Zeitraum beschränkte Wirkung des Widerspruchs ist mit dem Eintritt der Bestandskraft des Entziehungsbescheids – dh mit der Rücknahme der Klage hiergegen am 14. Juni 1994 – rückwirkend entfallen (Meyer-Ladewig aaO § 86 RdNr 7; Peters/Sautter/Wolff aaO; Zeihe aaO) mit der Folge, daß nach § 50 Abs 1 SGB X die für die Dauer der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs geleisteten Zahlungen vom Kläger zu erstatten sind (Zeihe aaO). Die Beklagte weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, daß diese Vorschrift einen gerechten Ausgleich zwischen den durchaus schutzwürdigen Interessen des Verletzten und den Interessen des Versicherungsträgers schafft. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gibt dem Verletzten Schutz gerade in den Fällen, in denen durch Verwaltungsakt eine bisher gewährte Leistung entzogen werden soll (Meyer-Ladewig aaO § 86 RdNr 6). Damit war die Beklagte trotz des Entziehungsbescheids aufgrund des Widerspruchs hiergegen zur weiteren Leistungserbringung verpflichtet. Dann kann aber das Risiko des Widerspruchsverfahrens nicht einseitig dem Versicherungsträger aufgebürdet werden, zumal der Verletzte damit rechnen muß, daß er im Rechtsbehelfsverfahren auch unterliegen kann.
Zutreffend hat das LSG auch ausgeführt, daß die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs die Wirksamkeit des Entziehungsbescheids im übrigen nicht berührt und vor allem keine Änderung des in dem Bescheid festgesetzten Endpunkts der vorläufigen Rente bewirkt hat.
Damit ist insoweit für Billigkeitserwägungen, wie sie bei der Rückforderung einer sog Urteilsrente (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 10) oder bei Sozialleistungen anzustellen wären, die während eines Rechtsstreits aufgrund gerichtlicher Aussetzung der Vollziehung eines Entziehungsbescheids gezahlt werden (vgl BSGE 63, 74 ff) kein Raum, zumal sich derartige Rückforderungen nach § 50 Abs 2 SGB X richten (KassKomm-Steinwedel, § 50 SGB X RdNr 7 mwN).
Entgegen der Auffassung des LSG und der Beklagten ist jedoch der Kläger aufgrund der angefochtenen Bescheide nicht verpflichtet, die für den Zeitraum vom 18. Mai 1993 bis 30. September 1993 gezahlten Leistungen zurückzuerstatten. Ihre Rückforderung richtet sich nach § 50 Abs 2 SGB X iVm einer entsprechenden Anwendung des § 45 SGB X, dessen Voraussetzungen mangels rechtmäßiger Ermessensausübung nicht erfüllt sind.
Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger im Klageverfahren gegen den Rentenentziehungsbescheid keine Aussetzung des Vollzugs dieses Verwaltungsakts beantragt; infolgedessen stand der Vollziehung des Entziehungsbescheids ab Klageantrag kein Hindernis entgegen. Von diesem Zeitpunkt an kann deshalb der Bewilligungsbescheid vom 10. Januar 1992 nicht mehr als Rechtsgrundlage für die weiteren Zahlungen angesehen werden. Diese Zahlungen sind daher ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erfolgt; ihre Rückforderung richtet sich demnach nach § 50 Abs 2 SGB X iVm einer entsprechenden Anwendung des § 45 SGB X.
Die Erstattungsforderung für den Zeitraum ab 18. Mai 1993 würde nur dann bestehen, wenn ein nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X entsprechender Fall gegeben wäre, der Kläger die Rechtsgrundlosigkeit (Rechtswidrigkeit) der Leistungserbringung kannte oder nur infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Davon ist das LSG aufgrund seiner tatsächlichen Feststellungen zwar ausgegangen; dies kann hier jedoch offenbleiben, da die Bescheide über die Rückforderung insoweit aus anderen Gründen aufzuheben sind.
Die Beklagte hat zwar zutreffend erkannt, daß die Geltendmachung der Erstattung von ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbrachten Leistungen nach § 50 Abs 2 SGB X in ihrem Ermessen steht. Auch wenn ihre Ermessenserwägungen erst im Widerspruchsbescheid vom 31. August 1994 zum Ausdruck gekommen sind (s BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 2), hat sie ebenfalls im Rahmen des Ermessens ihr eigenes Verschulden zugunsten des Klägers berücksichtigt, wie den Ausführungen in diesem Bescheid zu entnehmen ist. Daraus folgt aber nicht, das Ermessen könne nur dahin ausgeübt werden, auf die Geltendmachung der erbrachten Leistungen zu verzichten, weil die Zahlungen allein auf ein Verschulden der Beklagten zurückzuführen wären (BSG SozR aaO).
Der Senat vermag jedoch der Auffassung des LSG nicht zu folgen, die Ausführungen im Widerspruchsbescheid könnten als ausreichende Ermessensausübung gewertet werden. Ermessensfehler sind von den Gerichten zwar nur beschränkt nachprüfbar, da das Gericht nicht eigene Erwägungen an die Stelle des Ermessens der Behörde setzen darf (s Peters/Sautter/Wolff aaO § 54 Anm 27 Buchst f unter Stichwort: Gerichtliche Ermessenskontrolle). Gleichwohl muß die Begründung einer Ermessensentscheidung die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen der Träger bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (§ 35 Abs 1 Satz 3 SGB X). Formelhafte Wendungen genügen einer ordnungsgemäßen Ermessensausübung und -begründung nicht (BSG SozR 1300 § 35 Nr 3). Gerade die Berücksichtigung und Angabe der im konkreten Einzelfall gegebenen Besonderheiten und Eigenheiten kennzeichnet eine ordnungsgemäße Ausübung des Ermessens (KassKomm-Krasney § 35 SGB X RdNrn 4 und 6). Hiervon ausgehend mangelt es in den angefochtenen Bescheiden an der durch den Zweck der Ermächtigung vorgeschriebenen Abwägung und angemessenen Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls, zumindest in wesentlichen Punkten (BSGE 59, 157, 170). Es fehlen nämlich ua Anhaltspunkte auch im angefochtenen Widerspruchsbescheid, daß die Beklagte bei ihrer Ermessensentscheidung die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Klägers hinsichtlich des Rückforderungsbetrags abgewogen hat. Ebensowenig enthalten die Bescheide im Hinblick auf die beruflichen Einkommensverhältnisse des Klägers und seine familiären Verhältnisse irgendwelche erwägenden Hinweise auf die möglicherweise eintretenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Rückforderung. Gerade in Fällen des § 45 SGB X können diese im Einzelfall eintretenden Folgen der Rücknahme eines Verwaltungsakts für den Betroffenen derart sein, daß sie bei sachgerechter Ermessensausübung gleichwohl zu keiner oder zu einer differenzierten Rücknahmeentscheidung führen (BSGE 59, 157, 171). Für Rückforderungen nach § 50 Abs 2 SGB X gilt nichts anderes (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 2). Den für die Entscheidung benötigten Sachverhalt hat der Versicherungsträger ggf von Amts wegen zu ermitteln; er kann sich dabei ua der Mitwirkung der Beteiligten bedienen (§§ 20, 21 SGB X). In Fällen vorliegender Art müßte es sich zB aufdrängen, die Höhe der Einkünfte des Verletzten festzustellen und deren Bedeutung im Verhältnis zur Höhe der zurückzufordernden Summe für die persönlichen Lebensverhältnisse des Betroffenen in die Ermessensbeurteilung einzubeziehen (BSGE 59, 157, 171). Dies läßt die Begründung im angefochtenen Bescheid vom 29. Juni 1994 idF des Widerspruchsbescheids vom 31. August 1994 nicht erkennen. Es ist nicht auszuschließen, daß bei sachgerechter Ermessensausübung die Beklagte durchaus eine grundsätzlich andere, zumindest aber differenzierte Entscheidung über die Rückforderung hätte treffen können (Stundung, Niederschlagung, Erlaß oder ähnliches – s KassKomm-Steinwedel § 50 SGB X RdNr 38 iVm § 45 SGB X RdNrn 54, 55 und § 50 SGB X RdNr 11 selbst zu § 50 Abs 1 SGB X).
Der Hinweis der Beklagten, sie sei dem Kläger durch das Angebot von Ratenzahlung bereits entgegengekommen, kann vor allem für die der Gewährung von Ratenzahlungen vorausgehenden Entscheidung, ob und ggf in welcher Höhe zurückgefordert wird, nicht als ausreichende Abwägung des Für und Wider zwischen öffentlichen und privaten Interessen angesehen werden. Die Feststellung des LSG, die Beklagte hätte nach der für sie erkennbaren Einkommenssituation des Klägers keinen Anlaß gehabt, an dessen Fähigkeit zur Erstattung der überzahlten Beträge zu zweifeln, reicht hierzu ebenfalls nicht aus. Es kann dahinstehen, ob die Beklagte derartige Erwägungen überhaupt angestellt hat; jedenfalls ist hier bis zum Abschluß des Vorverfahrens keine entsprechende Begründung abgegeben worden. Die Ausführungen der Beklagten in ihrer Berufungsbegründungsschrift vom 29. Januar 1996 über die Einkommenssituation des Klägers werden dem geschilderten im Rahmen der Ermessensausübung gesetzlich vorgeschriebenen Begründungszwang nicht gerecht. Es ist dem Träger verwehrt, die für die Begründung von Verwaltungsakten wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe, die ihm zu einer Entscheidung bewogen haben, erst während des gerichtlichen Verfahrens darzulegen (BSGE 64, 36, 38; 66, 204, 207).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 651669 |
NZS 1998, 300 |
SozSi 1998, 397 |