Entscheidungsstichwort (Thema)
rückwirkende Aufhebung eines Rentenbescheids wegen falscher Angaben des Rentenbeziehers
Leitsatz (amtlich)
30 Jahre nach seinem Erlaß kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nicht mehr für die Vergangenheit zurückgenommen werden, auch wenn er durch arglistige Täuschung erwirkt ist.
Beteiligte
…, Kläger und Revisionskläger |
Tatbestand
G r ü n d e :
I
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob ein Bescheid, mit dem 1952 unter Anerkennung von Schädigungsfolgen eine Rente bewilligt worden ist, noch 1987 wegen falscher Angaben des Beschädigten rückwirkend aufgehoben und die erbrachten Leistungen zurückverlangt werden können.
Aufgrund der Angaben des Klägers, die mit den damals bekannten Lazarettunterlagen von März 1945 übereinstimmten, erkannte die Versorgungsverwaltung mit Bescheid vom 22. Februar 1952 an, daß der Kläger aufgrund der im Kriege erlittenen Knieverletzung links mit Nervenschädigungen Anspruch auf Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH habe. 1953 gelangte ein Gesundheitszeugnis über den Kläger aus dem Jahre 1941 zu den Akten, in dem der Kläger zur Vorgeschichte selbst angegeben hatte, er habe 1931 durch einen Unfall eine Nervenverletzung am linken Knie erlitten. Trotz dieser Vorschädigung wurde der Kläger damals für wehrfliegertauglich, aber untauglich als Fallschirmschütze befunden. Die Versorgungsverwaltung reagierte darauf nicht. 1959 leitete sie nochmals Ermittlungen bei verschiedenen Krankenbuchlagern ein; die erhaltenen Auskünfte stimmten mit den früheren Lazarettunterlagen von 1945 insoweit überein, als damals schon eine Peronäuslähmung als Wehrdienstbeschädigung aufgeführt worden ist. Erst im Jahre 1986 nahm die Versorgungsverwaltung im Zusammenhang mit einem Antrag des Klägers auf Erhöhung der Rente das Gesundheitszeugnis von 1941 zum Anlaß, nach Anhörung des Klägers den Bescheid aus dem Jahre 1952 und die folgenden Rentenanpassungsbescheide rückwirkend aufzuheben und die Versorgungsleistungen zurückzufordern (Bescheid vom 24. März 1987 und Widerspruchsbescheid vom 15. September 1987). Im Klageverfahren blieb der Kläger bei seiner Darstellung, der Zustand des linken Knies beruhe auf Verletzungsfolgen. Er habe deshalb auch das Verwundetenabzeichen erhalten. Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide vollständig aufgehoben, weil der ursprüngliche Verwaltungsakt zwar infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Falschangaben rechtswidrig sei, die Rücknahme jedoch am Fristablauf scheitere. Nach mehr als 30 Jahren könne gemäß § 852 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auch ein Privatmann Schadensersatz nicht mehr geltend machen; die öffentliche Hand werde über § 45 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren -(SGB X) nicht besser gestellt. Dafür spreche auch § 195 BGB mit der regelmäßigen Verjährungsfrist von 30 Jahren und § 218 BGB, wonach selbst ein rechtskräftig festgestellter Anspruch nach 30 Jahren verjährt (Urteil des SG Kassel vom 12. Dezember 1989). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Werde ein Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung erwirkt, könne sich der Begünstigte nicht auf Fristablauf berufen. Das Recht zur Aufhebung sei nicht verjährt, weil dem das Verbot der unzulässigen Rechtsausübung entgegenstehe. Der Beklagte habe auch rechtzeitig gehandelt, insbesondere sei die Einjahresfrist für die Rücknahme gewahrt. Es handele sich um eine Entscheidungsfrist, die erst dann beginne, wenn alle für die Rücknahme erforderlichen äußeren wie inneren Tatsachen bekannt seien. Die Frist habe daher weder mit der Aufnahme des Gesundheitszeugnisses von 1941 in die Akten noch mit der Kenntnisnahme durch den zuständigen Sachbearbeiter, sondern frühestens mit der Anhörung des Klägers am 5. März 1987 begonnen (Urteil des Hessischen LSG vom 8. August 1991).
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er hält das Urteil des SG für zutreffend und verweist zusätzlich auf die ihm günstige Besitzstandsregelung in § 62 Abs 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Im übrigen bestreitet er, den Bewilligungsbescheid aus dem Jahre 1952 durch arglistige Täuschung erwirkt zu haben.
Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. August 1991 zu ändern und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 12. Dezember 1989 zurückzuweisen. |
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Der Beklagte beantragt,
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die Revision zurückzuweisen. |
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Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist darauf, daß der Kläger der Behauptung der Arglist nur mit Zeugen vom Hörensagen entgegengetreten sei.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision des Klägers ist teilweise begründet.
Der angefochtene Aufhebungsbescheid ist rechtswidrig, soweit die Leistungsbewilligung für die Vergangenheit aufgehoben worden ist; die Rückforderung ist in vollem Umfang rechtswidrig. Ob die Leistung für die Zukunft verweigert werden darf, wird das LSG nach weiterer Sachaufklärung zu entscheiden haben. Für die Vergangenheit kann der Senat die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Rücknahmebescheides feststellen, ohne daß es der noch ausstehenden Klärung dazu bedarf, ob der Kläger den ihn begünstigenden Verwaltungsakt aus dem Jahre 1952 durch arglistige Täuschung erwirkt hat. Denn selbst für den Fall der Arglist endet die Befugnis zur rückwirkenden Aufhebung nach Ablauf von 30 Jahren seit Erlaß des Bescheides.
Rechtsgrundlage für die Aufhebung des den Kläger begünstigenden Rentenbescheides aus dem Jahre 1952 ist § 45 SGB X ergänzt durch die Besonderheiten, die für das Versorgungsrecht § 62 BVG anordnet.
§ 45 SGB X bestimmt, unter welchen Umständen und wie lange der Leistungsträger einen von Anfang an unrichtigen Verwaltungsakt über eine wiederkehrende Sozialleistung zu Lasten des Betroffenen aufheben kann. Er betrifft Verwaltungsakte, die zum Zeitpunkt ihres Erlasses der Sach- und Rechtslage wegen eines Tatsachen- oder Rechtsirrtums nicht entsprachen. Die Bestandskraft eines solchen Dauerbescheides verfestigt sich im Lauf der Zeit immer mehr und führt schließlich zur Unzulässigkeit der Bescheidänderung und damit zu einer gesteigerten Bestandskraft (vgl Urteil des Senats vom 11. Dezember 1992 - 9a RV 20/90 zur Veröffentlichung vorgesehen; vgl auch SozR 1300 § 45 Nr 9). Die grundsätzliche Möglichkeit, gegenüber der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes Vertrauensschutz geltend zu machen und damit eine Abwägung der Allgemein-und der Individualinteressen herbeizuführen, gehört zu den im Rechtsstaatsprinzip verfassungskräftig verankerten Geboten. Das Rechtsstaatsprinzip gebietet die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und gewährleistet somit für den Regelfall auch die materielle Richtigkeit der Verwaltungsakte; es gewährleistet aber im Rahmen bestimmter Verfahrensabläufe durch die Bestandskraft selbst gesetzwidriger Verwaltungsakte Rechtssicherheit und Vertrauensschutz. Diese Prinzipien finden ihre konkrete Ausformung in den jeweiligen Verwaltungsverfahrensgesetzen (vgl BVerfGE 59, 128, 152 und 164 ff unter Bezugnahme auf BVerfGE 30, 392, 403 und BVerfGE 50, 244, 250). Anders als das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes (VwVfG) vom 25. Mai 1976 (BGBl I 1253), das in § 48 VwVfG für Geldleistungen neben dem allgemeinen Abwägungsgebot lediglich die Entscheidungsfrist des Abs 4 enthält (weshalb hier grundsätzlich keine Fristen eingreifen, sondern Zeitablauf und Verschulden nur in die Ermessenserwägungen eingehen [vgl die Nachweise bei Kopp, VwVfG, 5. Aufl § 48 RdNr 75 ff]), enthält § 45 SGB X eine gesetzlich vorgeformte Abwägung mit einem Fristensystem für alle Fallgruppen. In den Grenzen dieser Fristen hat die Verwaltung ihre Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen (zu den wesentlichen Unterschieden vgl Schneider-Danwitz in SGB-SozVers-GesKomm § 45 Anm 2). Das in § 45 SGB X geschaffene System führt zu der Erkenntnis, daß nach Ablauf von 30 Jahren aus Gründen der Rechtssicherheit eine rückwirkende Aufhebung begünstigender Verwaltungsakte nicht mehr in Betracht kommt.
§ 45 SGB X entfaltet ein abgestuftes System unterschiedlich gewichtiger Gründe für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes und zeitliche Stufen in Form von Handlungs- und Ausschlußfristen als Ergebnis einer gesetzgeberischen Abwägung von Gesichtspunkten materieller Gerechtigkeit, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit: Gutgläubige, denen eine wiederkehrende Sozialleistung bewilligt worden ist, genießen nach § 45 Abs 1 iVm Abs 3 Satz 1 SGB X nach Ablauf von zwei Jahren Schutz vor der Rücknahme des Verwaltungsaktes für Vergangenheit und Zukunft. Eine individuelle Vertrauensabwägung, wie sie § 45 Abs 2 Satz 2 SGB X grundsätzlich anordnet, findet hier nicht mehr statt. Der Vertrauensschutz wird durch Fristablauf festgeschrieben. Da § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X erst ab grober Fahrlässigkeit die Rücknahmemöglichkeit für einen Zeitraum bis zu 10 Jahren nach Erlaß des begünstigenden Verwaltungsaktes eröffnet, gewährleistet die Zweijahresfrist im Hinblick auf ein Mitverschulden bis zum Grade einfacher Fahrlässigkeit nicht so sehr Vertrauensschutz als vielmehr Rechtssicherheit durch die Bestandskraft des Verwaltungsakts (so auch Schneider-Danwitz aa0 Anm 3). Der begünstigende Verwaltungsakt bleibt wirksam, weil er nicht zurückgenommen werden kann (§ 39 Abs 2 SGB X), sofern nicht Spezialnormen zugunsten Dritter eine Durchbrechung erlauben (vgl BSG SozR 2200 § 1268 Nr 32).
Der Gesetzgeber schätzt die Bestandskraft des Verwaltungsaktes allerdings nicht höher ein als diejenige von Urteilen (so ausdrücklich in den Materialien BT-Drucks 8/4022 S 83 zu § 43 des Entwurfs), weshalb die Zweijahresfrist nicht gilt, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozeßordnung (ZPO) vorliegen. Die Wiederaufnahmegründe des § 580 ZPO umschreiben Tatbestände erheblicher Störung der Rechtsordnung, die den Gedanken der Rechtssicherheit verdrängen und daher die Rechtskraft von Urteilen und die Bestandskraft von Verwaltungsakten zu beseitigen geeignet sind. Diese Einschränkung der Rechtssicherheit gilt aber nicht unbefristet, denn die Wiederaufnahmeklage ist in ihrem System an die Notfrist von einem Monat gebunden (§ 586 ZPO) und wird nach Ablauf von fünf Jahren, gerechnet vom Tage der Rechtskraft an, unstatthaft (§ 586 Abs 2 Satz 2 ZPO). Das Verwaltungsverfahrensrecht des SGB X nimmt auf die Wiederaufnahmegründe Bezug, ordnet eindeutig an, daß nur die Zweijahresfrist nicht gilt und eröffnet für einen Teil der Wiederaufnahmegründe (§ 580 Nrn 1 und 4 ZPO), die zugleich Tatbestände des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X erfüllen, die 10-Jahresfrist; bei arglistiger Täuschung, Drohung oder Bestechung gilt nicht einmal diese Frist. Insoweit muß auf die Wiederaufnahmegründe nicht zurückgegriffen werden (vgl hierzu Hauck/Haines, SGB X, K § 45, RdNrn 8 und 27). Die übrigen Wiederaufnahmegründe, die weder Straftaten noch Fehlverhalten des Begünstigten umschreiben, können gegen Verwaltungsakte nicht anders ins Feld geführt werden, als gegen Urteile. Dies bedeutet, daß sie im Verhältnis zu einem gutgläubigen Berechtigten äußerstenfalls für fünf Jahre die Bestandskraft verdrängen. Auch die Wiederaufnahmeklage ist ersichtlich Teil eines Systems der Rechtssicherheit, das vom Gesetzgeber selbst für Fälle gravierender Rechts- und Verfahrensfehler in Zivilurteilen geschaffen worden ist, nicht jedoch mit dem Ziel der Herstellung materieller Richtigkeit um jeden Preis. Die Anknüpfung an die vorherige Verurteilung bei Straftaten, bewirkt in Zusammenhang mit der absoluten Ausschlußfrist nach fünf Jahren eine Herstellung von Rechtsfrieden durch Zeitablauf. Da die Fünfjahresfrist der regelmäßigen Verjährungsfrist für die im § 580 ZPO genannten Straftaten entspricht (§ 78 Abs 3 Nr 4 Strafgesetzbuch [StGB]) wird einerseits erreicht, daß mit dem Ziel der Durchbrechung der Rechtskraft nicht strafbares Verhalten zur Prüfung gestellt wird, ohne daß diese Prüfung grundsätzlich den Strafgerichten in dem hierfür vorgesehenen Verfahren überantwortet wird (vgl § 581 ZPO). Andererseits hat nicht nur im Zivilprozeßrecht, sondern auch im sozialgerichtlichen Verfahren (§ 179 SGG iVm § 586 ZPO) nach fünf Jahren der Rechtsfrieden Vorrang vor materieller Gerechtigkeit. In § 179 Abs 2 SGG wird die Bedeutung strafgerichtlicher Verurteilung nochmals besonders hervorgehoben. Diese Verurteilung ist aber von der fristgebundenen Einleitung des Strafverfahrens abhängig. Bei der entsprechenden Anwendung der Wiederaufnahmegründe in § 45 Abs 3 Satz 2 SGB X besteht kein geringeres Interesse am baldigen Eintritt des Rechtsfriedens, zumal hier die Verwaltung, die sich auf die Wiederaufnahmegründe beruft, zugleich über ihr Vorliegen entscheidet. Nach Wortlaut, systematischer Stellung und dem Gesamtzusammenhang der Norm haben die Wiederaufnahmegründe nur für einen Zeitraum von fünf Jahren ab Erlaß des begünstigenden Bescheides entsprechend § 586 Abs 2 Satz 2 ZPO Bedeutung. Diese Auffassung wird in der Literatur nur zum Teil im Ergebnis und mit unterschiedlichen Begründungen geteilt (vgl die ausführlichen Nachweise zum Streitstand bei Zweng/Scherer/Buschmann, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, 47. Lieferung Juni 1991 zu § 45 SGB S 23 und Wiesner in Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen, SGB X, 2. Aufl, § 45 Anm 5.3). Die in der Literatur vorgetragenen Gegenargumente überzeugen den Senat nicht. Sie stehen mit dem Wortlaut der Norm nicht in Einklang, die nur die kurze Zweijahresfrist, nicht aber die 10-Jahresfrist beim Vorliegen von Wiederaufnahmegründen ausschließt. Sie lassen die vom Gesetzgeber nach den Materialien ausdrücklich angestrebte Harmonie mit dem Prozeßrecht außer acht, das durch eigene Fristen Rechtssicherheit ebenso gewährleistet, wie die 10-Jahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X.
Auch der Hinweis auf die frühere unvollkommene und nur in Teilbereichen des Sozialrechts geltende Regelung des § 1744 der Reichsversicherungsordnung (RVO) oder auf § 48 VwVfG vermögen nicht zu überzeugen, weil § 45 SGB X diese Regelungen nicht nur formal abgelöst hat, sondern inhaltlich durch ein eigenes System ersetzt hat. Eine unbefristete Aufhebungsmöglichkeit bei allen Wiederaufnahmegründen würde den Rahmen der Norm sprengen, die auch mittels der 10-Jahresfrist für Rechtssicherheit durch Zeitablauf trotz gezielter Erweiterung des Handlungsrahmens zur Ahndung von Fehlverhalten des Begünstigten sorgt. Das Auffinden von Urkunden und das dem Begünstigten nicht zurechenbare Fehlverhalten Dritter indiziert keinen minderen Bestandsschutz als eigener Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit beim Begünstigten selbst. Allerdings hatte sich zu § 1744 RVO, der die Wiederaufnahme nach altem Recht regelte, in Abkehr vom ursprünglich geschlossenen System der RVO (vgl zur Bedeutung der strafrechtlichen Verurteilung bei Straftaten als Wiederaufnahmegrund: BSG SozR zu § 1744 RVO Nr 10; vgl zur Geltung der Fristen der §§ 1724 bis 1734: Urteil des BSG vom 8. Juli 1959 - 4 RJ 47/50 - LS bei SozR zu § 1744 RVO Nr 4) die Auffassung durchgesetzt, daß seit Einführung des SGG keine Fristenbeschränkung mehr gelte (vgl BSGE 6, 283, 287; vgl auch BSG SozR zu § 1744 RVO Nr 5). Diese Rechtsprechung wurde für Zugunstenverfahren entwickelt, die heute in § 44 SGB X erfaßt sind und Fristenbeschränkungen nicht unterliegen. Soweit ersichtlich, ist nur in einem Fall der Fristablauf von etwas mehr als fünf Jahren zu Lasten des Berechtigten als unschädlich gewertet worden, als ein vorgreiflicher Bescheid von einer anderen Behörde aufgehoben worden war (vgl BSGE 22, 13). Die Anpassung des unrichtigen Sozialleistungsbescheides ab der Änderung der Verhältnisse für die Zukunft - so die damalige Entscheidung - entspricht heute der Regelung in § 48 SGB X und kann nicht dafür herangezogen werden, daß zu Lasten der Begünstigten bei Wiederaufnahmegründen jemals unbeschränkte Eingriffsmöglichkeiten bestanden hätten. Zur Vorläufernorm des § 45 SGB X in Gestalt des § 1744 RVO hat es keine BSG-Entscheidung gegeben, die allein wegen des Vorliegens von Wiederaufnahmegründen zeitlich unbefristet die rückwirkende Aufhebung von Leistungsbescheiden angeordnet hätte. Im Versorgungsrecht, wo einschränkende Fristen überhaupt fehlten, wurde - jedenfalls nach Inkrafttreten des § 45 SGB X - die rechtsstaatlich bedenkliche Situation anderweit abgefangen (vgl die Entscheidung des 4b Senats: BSGE 62, 191 und des 9. Senats im SozR 3100 § 1 Nr 43 mit Nachweisen zu § 41 KOVVfG). Zum neuen Recht ist bisher keine Entscheidung des BSG ergangen (BSGE 56, 165 wird insoweit teilweise zu Unrecht zitiert, weil die Fristen bei Wiederaufnahmegründen in dieser Entscheidung nicht erwähnt werden).
Da demnach auch die Wiederaufnahmegründe durch Fristen eingeengt sind, braucht der Senat nicht zu prüfen, ob sich der Beklagte auf solche Gründe hat berufen dürfen, ob es insbesondere ausreicht, sich auf eine in den Akten befindliche Urkunde zu berufen, die seit mehr als 30 Jahren "nicht aufgefunden" war (vgl hierzu Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 50. Aufl § 586 unter 1) B b) und § 580 Anm 4) F jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung).
Dem Verwaltungsakt kommt gegenüber Urteilen minderer Bestandsschutz nicht deshalb zu, weil die Wiederaufnahmegründe zeitlich unbefristet angewandt werden könnten (so aber zugunsten des Leistungsempfängers die Begründung in BSGE 6, 283), sondern weil § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X die weitergehende Rücknahme von Verwaltungsakten ermöglicht und zugleich ausdrücklich begrenzt. Bei grobem Verschulden des Begünstigten läßt das Gesetz die Beseitigung der Bestandskraft nicht nur fünf Jahre, sondern 10 Jahre lang zu. Verwaltungsakte können in einem Zeitraum bis zu 10 Jahren für Vergangenheit und Zukunft zurückgenommen werden, wenn sie auf vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Falschangaben beruhen oder dem Begünstigten ihre Rechtswidrigkeit bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt war. Nach Ablauf der 10-Jahresfrist drängt der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit den Gesichtspunkt materieller Richtigkeit zurück. Auch dieser Fristablauf ist nicht Ausdruck des Vertrauensschutzes, wenn er denjenigen begünstigt, dem zugleich grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen wird. Insbesondere in den Fällen des Vorsatzes und der Kenntnis wird deutlich, daß die 10-Jahresfrist Rechtssicherheitsfunktion in gleichem Maße wahrnimmt, wie die Fünfjahresfrist bei der Restitutionsklage (in diesem Sinne ausdrücklich die Gesetzesmaterialien in BT-Drucks 8/4022 S 83, zustimmend Schneider-Danwitz aa0). Nach Ablauf von 10 Jahren hat nur noch derjenige die Rücknahme eines Verwaltungsaktes auch für die Vergangenheit zu befürchten, der diesen durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 1 SGB X) erwirkt hat. Denn nach Ablauf der 10-Jahresfrist erlaubt § 45 SGB X für die Fälle der Nrn 2 und 3 keine Einzelabwägung mehr. Der Zahlbetrag bleibt dem Begünstigten erhalten.
Auf diesen Zahlbetrag ist die Bestandskraft allerdings beschränkt durch die Regelung des § 48 Abs 3 SGB X. Die Vorschrift ergänzt das auf Rechtssicherheit angelegte System des § 45 SGB X und hält dessen Folgen in Grenzen. Rechtswidrige Leistungen nehmen nicht an den jährlichen Anpassungen teil (BSG SozR 1300 § 48 Nrn 33, 49, 51, 54) und können daher gänzlich aufgezehrt oder abgeschmolzen werden (vgl BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 11); die Bescheidelemente rechtswidriger Leistungs-Verwaltungsakte verfestigen sich nicht zum Maßstab späterer Entscheidungen (vgl BSGE 60, 287 = SozR 1300 § 48 Nr 29).
Demgegenüber ist allerdings derjenige, dem der Vorwurf arglistiger Täuschung gemacht werden kann, weiterhin dem Entzug der Leistung für Vergangenheit und Zukunft ausgesetzt. Hat ein Begünstigter den Verwaltungsakt durch Betrug, Erpressung oder Bestechung erwirkt, sind Straftatbestände von erheblichem Gewicht verwirklicht, die vom Gesetzgeber so gewertet worden sind, daß dem die aus Rechtssicherheitsgründen gesetzte 10-Jahresfrist weichen muß. Dies haben die Vorinstanzen zutreffend entschieden. Die hieraus folgende "unbeschränkte" Aufhebbarkeit (so die einhellige Meinung in der Literatur - vgl auch beiläufig BSGE 56, 165, 172) beruht nicht darauf, daß solchen Tätern weniger Vertrauensschutz zukäme als schlicht vorsätzlich handelnden. Vertrauensschutz verdienen beide nicht. Der Gesetzgeber läßt vielmehr die Rechtssicherheit dort zurücktreten, wo über die Rücknahmemöglichkeit ein erheblicher Verstoß gegen die Rechtsordnung geahndet werden soll. Selbst nach 10 Jahren erwerben solche Täter keine unanfechtbare Rechtsposition. Da aber § 45 SGB X deutlich herausstellt, daß der Rechtssicherheit im Gefüge der Rücknahmetatbestände erhebliches Gewicht zukommt, ist ein vollständiges Zurücktreten dieses Gesichtspunktes - entgegen der Auffassung des LSG - nicht unbefristet vorstellbar. 30 Jahre nach dem Erlaß sind auch solche Verwaltungsakte nicht mehr für die Vergangenheit zurücknehmbar.
Das Verwaltungsverfahrensrecht ist eingebettet in übergreifende Gesichtspunkte, die vielfältig darauf hinweisen, daß die vom SG genannte absolute Frist von 30 Jahren gilt, die jedenfalls einer rückwirkenden Veränderung von Verhältnissen entgegensteht. Insoweit ist nicht nur die regelmäßige Verjährungsfrist von 30 Jahren, die auch für rechtskräftig festgestellte Ansprüche gilt, zu nennen (§§ 195, 218 BGB). Die Rechtsordnung kennt die gewöhnliche Ersitzung nach 10 Jahren (§ 937 Abs 1 BGB) und die Buchersitzung nach 30 Jahren (§ 900 BGB). Gerade auch Gestaltungsrechte, wie die Kündigung und die Anfechtung lösen Fristen aus, sobald ihre Voraussetzungen vorliegen (§§ 199, 200 BGB), und unterliegen selbst Ausschlußfristen (§§ 121, 124 BGB). Diesen Gestaltungsrechten entspricht im Verwaltungsverfahrensrecht die Rücknahmebefugnis des § 45 SGB X; durch das Gestaltungsrecht werden im Zivilrecht die Wirkungen einer Willenserklärung und im öffentlichen Recht die Wirkungen des Verwaltungsaktes beseitigt. Selbst die längstmögliche Anfechtung gemäß den Vorschriften des BGB ist 30 Jahre nach dem Zeitpunkt der Abgabe der Willenserklärung ausgeschlossen. Hierbei kommt es auf die Kenntnis des Anfechtungsgrundes nicht an. Die absolute Anfechtungsschranke gilt für solche Willenserklärungen, die durch Irrtum (§ 121 Abs 2 BGB) und für solche, die durch arglistige Täuschung oder widerrechtlich durch Drohung herbeigeführt sind (§ 124 Abs 3 BGB). Das Zivilrecht macht damit deutlich, daß selbst schwerwiegende und strafrechtlich relevante Verstöße gegen die Rechtsordnung keine unbefristete Beseitigung der hierauf beruhenden Willenserklärungen zulassen. Auch der hierdurch eingetretene Schaden kann nicht unbefristet geltend gemacht werden. Ohne Rücksicht auf die Kenntnis des Schadens und der Person eines Schadensersatzpflichtigen verjährt der Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung in 30 Jahren von der Begehung der Handlung an (§ 852 Abs 1 BGB). Die Handlungsfristen des § 121 Abs 1 BGB, wonach unverzüglich wegen Irrtums anzufechten ist, und des § 124 Abs 1 BGB, wonach wegen Täuschung und Drohung binnen Jahresfrist angefochten werden muß, entsprechen der Handlungsfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X. Auf diese Handlungsfristen kommt es jedoch nicht an, wenn die Ausschlußfristen abgelaufen sind.
Das ist hier der Fall, weil seit der Begünstigung mehr als 30 Jahre vergangen sind. In derartigen Fällen scheidet eine Aufhebung des Verwaltungsaktes jedenfalls für die Vergangenheit aus. Nach Ablauf der 30-jährigen Frist kann es auch nicht als rechtsmißbräuchlich gewertet werden, wenn dem Begünstigten der Zahlbetrag für die Vergangenheit verbleibt. Denn allen Fristen haften derartige Folgen an. Das Gesetz trifft mit jeder Fristenregelung selbst eine Abwägung. Fristen verlören weitgehend ihren Sinn, wenn man ihnen mit dem Gedanken des Rechtsmißbrauchs begegnen könnte (vgl BGH NJW 1969, 604). Das gilt vor allem dann, wenn zugleich sichergestellt ist, daß die eingeräumte günstige Position für die Zukunft nicht weiter ausgenutzt werden darf. Dem Leistungsverweigerungsrecht des Zivilrechts entspricht dabei aus Gründen der Rechtsklarheit im öffentlichen Recht die Aufhebung für die Zukunft. Denn Verwaltungsakte mit Dauerwirkung begründen nicht nur Zahlungsverpflichtungen; wenn sie mit einer Festlegung der MdE und der Zuerkennung der Kriegsbeschädigteneigenschaft verbunden sind, verleihen sie einen Status mit vielfältigen Auswirkungen in anderen Rechtsgebieten. Die weitere Nutzung dieses unberechtigten Vorteils kann nur durch eine Aufhebung des Verwaltungsaktes vermieden werden (vgl zu den entsprechenden Schwierigkeiten bei der Rücknahme von Statusentscheidungen: BVerwGE 85, 79, 82 ff).
Hat der Kläger also den ihn begünstigenden Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung erwirkt, schützt ihn zwar die 10-Jahresfrist nicht. Aus Gründen der Rechtssicherheit wird aber nach 30 Jahren in seine Position für die Vergangenheit nicht mehr eingegriffen. Leistungen für die Zukunft sind jedoch beim Nachweis von Betrug, Erpressung und Bestechung nicht mehr zu erbringen. Dies ist nicht allein eine Folge des § 826 BGB und seiner entsprechenden Anwendung im öffentlichen Recht (vgl zur Anwendung der Norm und ihren äußerst engen Voraussetzungen: VGH Mannheim, NVwZ 1993, 72; vgl auch Schneider-Danwitz aa0 Anm 26), sondern der analogen Anwendung einer sachnäheren Norm. Wenn die Anfechtung wegen des Zeitablaufs ausscheidet, läßt § 853 BGB die Abwehr fortbestehender Ansprüche zu, selbst wenn die zugrunde liegende Forderung nicht mehr beseitigt werden kann. Dem Betrüger verwehrt auch das Zivilrecht, sich auf den im Gesetz angeordneten Fristablauf für die Zukunft zu berufen.
Deshalb ist das Urteil des SG zu bestätigen, soweit es den angefochtenen Verwaltungsakt für die Vergangenheit aufgehoben hat. Ob auch eine Aufhebung für die Zukunft in Betracht kommt, läßt sich noch nicht beurteilen. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend in der Sache zu entscheiden.
Das LSG hat die arglistige Täuschung bejaht und dies damit begründet, daß der Kläger vorsätzlich falsche Angaben gemacht hat. Nur hierzu enthält das Urteil Feststellungen. Daraus ergibt sich, daß das LSG den Begriff der Arglist verkannt hat, denn das Gesetz unterscheidet die beiden Sachverhalte in § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X in den Nrn 1 und 2. Länger als 10 Jahre kann man nicht gegen denjenigen vorgehen, der "nur" vorsätzliche Falschangaben macht, sondern ausschließlich gegen den betrügerischen Antragsteller, der in der Absicht der Erlangung eines rechtswidrigen Vorteils in Form eines Verwaltungsakts falsche Angaben macht. Es sind insoweit vor allem Feststellungen zur inneren Tatseite zu treffen. Es muß der Täuschungswille mit der Absicht, einen für den Erlaß des Verwaltungsaktes ausschlaggebenden Irrtum zu erzeugen, festgestellt werden. Selbst wenn man mit dem LSG davon ausgeht, daß in dem Verschweigen einer Vorschädigung am Knie eine vorsätzliche Falschangabe liegt, ist dem Kläger die arglistige Täuschung und deren Ursächlichkeit für einen rechtswidrigen Verwaltungsakt bisher nicht nachgewiesen. Denn das Verschweigen des Vorschadens widerlegt noch nicht ein späteres schädigendes Ereignis. Insoweit ist von Bedeutung, daß der Kläger bereits während des Krieges die Knieverwundung behauptet hat, daß sie in den Lazarett- und Arztunterlagen aufgeführt und 1949 die Versehrtenstufe 1 anerkannt worden ist. Er ist angeblich wegen dieser Verwundung ausgezeichnet worden, was zwei Zeugen schriftlich bestätigt haben. Falls diese Verwundung nicht stattgefunden hat und der Kläger insoweit eine vorsätzliche Falschaussage gemacht haben sollte, kann es ihm aber ursprünglich um diese Auszeichnung, nicht aber um Vermögensvorteile, insbesondere nicht um den jetzt aufgehobenen Verwaltungsakt von 1952 gegangen sein. Auch im übrigen macht die angefochtene Entscheidung nicht deutlich, inwiefern das Verschweigen einer Vorschädigung bereits Beweis dafür erbringt, daß der bewilligende Bescheid auf Arglist beruht. Die verschwiegene Vorschädigung hat die Wehrtauglichkeit nicht beseitigt, so daß näher zu begründen wäre, warum sie ohne weitere schädigende Ereignisse im Anschluß an den Krieg mit einer MdE um 30 vH zu bewerten war. Deshalb bestehen erhebliche Zweifel am Nachweis einer arglistigen Täuschung. Um Arglist zu bejahen, muß die Motivation des Klägers aufgezeigt werden, was - ähnlich wie im Strafverfahren - kaum ohne seine Anhörung und einen persönlichen Eindruck der entscheidenden Richter geschehen kann. Auf denkbare Entlastungszeugen darf nicht verzichtet werden. Über Arglist kann nicht aufgrund der Akten, nicht ohne persönlichen Eindruck und selten im Wege der Beweislast befunden werden.
Im übrigen wird das LSG erneut zu prüfen haben, ob der Beklagte das Verhalten des Klägers schon deshalb nicht als arglistige Täuschung werten darf, weil im Jahre 1959 - ersichtlich in Kenntnis des vollständigen Akteninhaltes - nochmals eine Überprüfung der schädigenden Vorgänge durchgeführt worden ist. Damals ist kein sogenannter Anfechtungsbescheid gem § 42 Abs 1 Nr 3 VwVfG-KOV erlassen worden, obwohl die Vorschrift nur voraussetzte, daß Tatsachen, die für die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung waren, wissentlich falsch angegeben oder verschwiegen worden waren; die Fünfjahresfrist des § 48 Abs 2 VwVfG-KOV war 1959 noch nicht abgelaufen. Es müßte insoweit deutlich gemacht werden, inwiefern seitdem noch arglistig ein Irrtum erzeugt oder aufrechterhalten worden ist.
Sofern die weiteren Ermittlungen nicht mit der erforderlichen Sicherheit die Feststellung zulassen, daß der Kläger den ihn begünstigenden Bescheid durch arglistige Täuschung erwirkt hat, die Voraussetzungen des § 45 Abs 3 Satz 3 Nr 2 SGB X jedoch bejaht werden, käme dem Kläger auch für die Zukunft die 10-Jahres-Ausschlußfrist zugute. Der Anspruch bliebe dem Kläger in vollem Umfang erhalten, ohne daß dem § 826 BGB (vollständig) oder § 48 Abs 3 SGB X (abschmelzend) entgegengehalten werden könnte. Er hätte wegen der Spezialregelung des § 62 BVG als langjähriger Leistungsbezieher in einem Alter von über 55 Jahren vollen Bestandsschutz (BSG SozR 3-3100 § 62 Nr 1).
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen
Haufe-Index 517872 |
BSGE, 139 |
NVwZ-RR 1994, 628 |
NVwZ 1995, 831 |
DVBl. 1994, 432 |