Leitsatz (amtlich)
"Unterhalt" durch den Versicherten bei Geschiedenenwitwenrente - Mindestbetrag als Unterhalt iS des RVO § 1265 S 1 - Sozialhilferechtliche Regelsätze und Mindestbedarf als Unterhalt:
Der Betrag, der etwa 25 % des notwendigen Mindestbedarfs eines Unterhaltsberechtigten ausmacht, ist nicht nach den individuellen Besonderheiten des früheren Ehegatten, sondern nach den zeitlichen und örtlichen Regelsätzen der Sozialhilfe - zuzüglich Unterkunftsleistungen, jedoch ohne Mehrbedarf - festzustellen (Fortführung von BSG 1964-10-27 4 RJ 383/61 = BSGE 22, 44 und 1969-03-20 12 RJ 118/68 = SozR Nr 49 zu § 1265 RVO).
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23; BSHG § 22 Fassung: 1969-09-18, § 23 Fassung: 1969-09-18; RegSatzV § 1 Fassung: 1971-05-10, § 3 Fassung: 1971-05-10
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 26. April 1974 wird aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 31. Oktober 1973 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat der Beigeladenen zu 1) die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob die Klägerin die Witwenrente ungekürzt, d. h. ohne Berücksichtigung eines Hinterbliebenenrentenanspruches der früheren Ehefrau des Versicherten, der Beigeladenen zu 1), beanspruchen kann (§§ 1265, 1268 Abs. 4 Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die Beigeladene zu 1) war mit dem Versicherten von 1930 bis April 1971 verheiratet. Die Ehe wurde auf die Klage des Versicherten ohne Schuldausspruch gemäß § 48 des Ehegesetzes (EheG) geschieden. Im Juli 1971 heiratete der Versicherte die Klägerin. Er starb am 29. Oktober 1972.
Zur Zeit der Scheidung bezog der Versicherte eine Rente von monatlich 707,60 DM. Die Beigeladene zu 1) bezog eine Rente von monatlich 93,50 DM. In einem gerichtlichen Vergleich vom März 1971 hatte sich der Versicherte verpflichtet, der Beigeladenen zu 1) einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 86,65 DM zu zahlen; bis zum Tode des Versicherten wurden der Beigeladenen zu 1) monatlich 85,70 DM überwiesen. Seit Juni 1971 bezog die Beigeladene zu 1) von der Beigeladenen zu 2) Sozialhilfe in Höhe von zunächst monatlich 215,20 DM, seit Juni 1972 in Höhe von 228,70 DM. Die Sozialhilfeleistung wurde unter Berücksichtigung des Unterhaltsbeitrages des Versicherten der jeweiligen Rente der Beigeladenen zu 1), des Regelsatzes nach § 22 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG - (in Hamburg 188,- DM bzw. 205,- DM), eines Zuschlages nach § 23 BSHG (56,40 DM bzw. 60,90 DM), einer Ernährungszulage nach § 37 BSHG (70,- DM) sowie der Mietkosten (125,- DM) errechnet. Die Beklagte gewährte mit Bescheiden vom 10. Mai 1973 der Klägerin eine Witwenrente (§ 1264 RVO) und der Beigeladenen zu 1) eine Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO. Beide Renten wurden entsprechend der Anzahl der Ehejahre bemessen (§ 1268 Abs. 4 RVO).
Die Klage der Klägerin auf Gewährung einer ungekürzten Witwenrente blieb vor dem Sozialgericht (SG) ohne Erfolg (Urteil vom 31. Oktober 1973). Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab Februar 1973 die Witwenrente ungekürzt zu gewähren; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 26. April 1974).
Das LSG hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt, die Klägerin habe Anspruch auf eine ungekürzte Witwenrente. Der Beigeladenen zu 1) stehe eine Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO nicht zu. Die Voraussetzungen der 2. Alternative dieser Vorschrift seien nicht erfüllt. Der Betrag von 86,65 DM bzw. 85,20 DM, den der Versicherte der Beigeladenen zu 1) habe zahlen müssen bzw. gezahlt habe, erreiche nicht 25 v. H. des Mindestbedarfs der Beigeladenen zu 1). Dieser Mindestbedarf umfasse nicht allein die Regelsatzbeträge des § 22 BSHG und die Mietkosten, sondern auch die Leistungen nach § 23 BSHG und die Ernährungszulage nach § 37 BSHG. Eine in diesem Sinne individualisierende Betrachtungsweise sei angebracht, weil bei der Ermittlung des Unterhalts im Sinne des § 1265 RVO darüber zu entscheiden sei, ob die vom Versicherten gezahlten Beträge nominell ins Gewicht gefallen seien und die Lebensführung der geschiedenen Frau merklich verbessert hätten.
Die Voraussetzungen der 1. Alternative des § 1265 RVO lägen ebenfalls nicht vor. Da die Ehe ohne Schuldausspruch geschieden worden sei, hätte eine allenfallsige Unterhaltspflicht des Versicherten nach § 61 Abs. 2 EheG keinen höheren als den im Vergleich festgelegten Unterhaltsanspruch der Beigeladenen zu 1) begründet.
Die Beigeladene zu 1) und 2) haben Revisionen eingelegt.
Sie beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Die Beigeladene zu 1) macht geltend, sie habe gegenüber dem Versicherten einen Unterhaltsanspruch von etwa 350,- DM gehabt; dies entspreche etwa 1/3 der Summe der Nettoeinkünfte des Versicherten, der Klägerin sowie ihres eigenen Nettoeinkommens. Bei der Bemessung des Betrages von 25 v. H. des Mindestbedarfs sei von dem Regelmindestsatz nach § 22 BSHG auszugehen. Danach sei in ihrem Fall der Mindestbedarf gewährt worden.
Die Beigeladene zu 2) meint, das LSG habe den Begriff "Mindestbedarf", der in der Rechtsprechung zur Ermittlung des Unterhalts im Sinne des § 1265 RVO herangezogen werde, verkannt. Als Mindestbedarf sei nur der jeweilige Regelsatz des BSHG zuzüglich einer entsprechenden Mietpauschale anzusehen. Eine Subjektivierung dieses Begriffs durch Einbeziehung eines über die Regelsätze hinausgehenden besonderen Bedarfs hätte zur Folge, daß besonders bedürftigen Personen die Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO nur unter erschwerten Bedingungen bewilligt werden könne.
Die Klägerin beantragt,
die Revisionen der Beigeladenen zurückzuweisen.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Die Revisionen sind zulässig und begründet.
Die Klägerin kann Witwenrente nur in der Höhe beanspruchen, die sich bei Berücksichtigung eines Anspruchs der Beigeladenen zu 1) auf Hinterbliebenenrente ergibt (§ 1265 Satz 1, § 1268 Abs. 4 RVO).
Der Betrag, den der Versicherte nach der Scheidung zur Zeit seines Todes der Beigeladenen zu 1) zu zahlen hatte und tatsächlich gezahlt hat, stellt Unterhalt im Sinne des § 1265 Satz 1 RVO dar.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist nicht jeder Betrag, den ein Versicherter an seinen früheren Ehegatten auf der Grundlage des EheG und somit auch bei geringster Höhe eherechtlich als "Unterhalt" zahlt, auch "Unterhalt" im Sinne des Rentenversicherungsrechts. Unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrenten und ihrer Höhe, die nicht vom konkreten Unterhalt, sondern von der Gestaltung des Versicherungslebens des Versicherten abhängt, sowie der Teilung der vom Versicherungsträger geschuldeten einzigen Hinterbliebenenrente zwischen der Witwe und früheren Ehefrauen sieht das BSG als Unterhalt im Sinne des § 1265 RVO nur einen Betrag an, der nominell ins Gewicht fällt. Dies ist der Fall, wenn der vom Versicherten zu zahlende oder gezahlte Betrag etwa 25 v. H. des Betrages ausmacht, der unter den gegebenen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen zur Deckung des notwendigen Mindestbedarfs benötigt wird (SozR Nr. 26, 49 zu § 1265 RVO). Dieser Mindestbetrag kann nicht individuell in jedem Einzelfall nach dem Mindestbedarf gerade des anspruchserhebenden jeweiligen Hinterbliebenen bestimmt werden, sondern muß allgemein unter Zugrundelegung der örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten ermittelt werden. Diese auf den allgemeinen Mindestbedarf abstellende Auffassung ist aus dem Grund geboten, weil die Hinterbliebenenrenten der Rentenversicherung keine individuell bemessenen Leistungen sind, die von einer Bedürftigkeit des jeweiligen Empfängers abhängen (SozR Nr. 49 zu § 1265 RVO). Welcher Mindestbetrag zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts zeitlich und örtlich als erforderlich anzusehen ist, ist den Sozialhilfesätzen für Leistungen an Personen ohne individuelle Besonderheiten zu entnehmen. Der Betrag, der generell zur Bestreitung des notwendigen laufenden Lebensbedarfs für erforderlich erachtet wird, setzt sich aus den Regelsätzen (§ 22 BSHG, § 1 der Regelsatz-VO) und den Leistungen für Unterkunft (§ 3 der Regelsatz-VO) zusammen.
Bei Berücksichtigung weiterer zusätzlicher Leistungen der Sozialhilfe, wie für ältere und erwerbsunfähige Hilfeempfänger - vgl. im einzelnen §§ 23, 24 BSHG -, würde der von der Rechtsprechung herausgestellte objektive Maßstab für die Feststellung eines Mindestbetrages, der bei Anwendung des § 1265 RVO noch als Unterhalt im Sinne dieser Vorschrift in Frage kommen kann, verlassen und es würden die Bedürftigkeitsgedanken, die dem Sozialhilferecht eigen sind, systemwidrig in die Rentenversicherung hineingezogen. Demnach können hier die Leistungen nach §§ 23, 37 BSHG nicht berücksichtigt werden, um den nach den örtlichen und zeitlichen Verhältnissen allgemein notwendigen Mindestbedarf für den Lebensunterhalt und den Betrag in Höhe von 25 v. H. dieses Mindestbedarfs festzustellen.
In einer nicht veröffentlichten Entscheidung vom 13. Dezember 1973 - 1 RA 147/73 - hat der 1. Senat im Falle einer wegen Geisteskrankheit in einer Klinik untergebrachten früheren Ehefrau erwogen, ob und inwieweit individuelle, aber für bestimmte Hilfeempfängergruppen allgemein übliche Zuschläge, wie Alter usw., zu berücksichtigen seien; er hat jedoch allgemein die generalisierende Betrachtungsweise gebilligt und nicht einen individuellen Maßstab - den hohen, durch die Unterbringung bedingten Mindestbedarf der früheren Ehefrau - angelegt.
Im vorliegenden Fall richtet sich der Betrag von 25 v. H. des zeitlichen und örtlichen allgemeinen Mindestbedarfs nach den vom LSG festgestellten Regelsätzen von 188,- bzw. 203,- DM und Unterkunftsleistungen von 125,- DM, zusammen monatlich 313,- bzw. 328,- DM. 25 v. H. davon betragen 78,25 DM bzw. 82,- DM. Die Leistungen des Versicherten haben diese Beträge überschritten. Damit hat er im Sinne des § 1265 Satz 1, 3. Alternative, RVO "Unterhalt" geleistet. Die Beigeladene zu 1) ist deshalb berechtigt, Hinterbliebenenrente zu beanspruchen, und die Klägerin ist verpflichtet, die Aufteilung der Hinterbliebenenrente nach der Zahl der jeweiligen Ehejahre mit dem Versicherten hinzunehmen.
Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen