Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnung einer Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Rückwirkung. Vertrauensschutz
Leitsatz (amtlich)
Zur Anrechnung einer Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung (Abgrenzung zu BSG vom 31.3.1998 – B 4 RA 59/96 R = SozR 3-2600 § 93 Nr 8).
Normenkette
SGB VI § 93 Abs. 1-3, 5 Nr. 1 F: 1989-12-18, Abs. 5 S. 3 F: 1996-09-25; WFG Art. 1 Nr. 17, Art. 12 Abs. 8; SGB X § 44 Abs. 1 S. 1, § 45 Abs. 1, § 48 Abs. 1 S. 1; GG Art. 14 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Mai 2000 hinsichtlich des Zeitraums vom 1. August 1996 bis 31. Januar 1997 abgeändert und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 17. Dezember 1997 insoweit zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten nur noch darüber, ob hinsichtlich des Zeitraums vom 1. August 1996 bis 31. Januar 1997 auf die der Klägerin gewährte Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung eine Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung anzurechnen ist.
Die Klägerin ist die Witwe des am 1. November 1993 an einem berufsbedingten Lungenleiden (Eintritt der Berufskrankheit 29. Oktober 1991) verstorbenen Versicherten H.…B.…, der im Anschluss an eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vorgezogenes Knappschaftsruhegeld nach § 48 Abs 1 Nr 1 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) bezogen hatte. Die Beklagte gewährte ihr mit Bescheid vom 1. Februar 1994 rückwirkend ab 1. Dezember 1993 eine große Witwenrente. Nachdem die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie (BG) der Klägerin mit Bescheid vom 13. April 1994 rückwirkend ab 1. November 1993 auch aus der Unfallversicherung eine Witwenrente bewilligt hatte, stellte die Beklagte, gestützt auf § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), die Witwenrente unter Anrechnung der Witwenrente aus der Unfallversicherung für die Zeit ab 1. Dezember 1993 (unter Aufhebung bzw Abänderung der vorangegangenen Bescheide) mit den Bescheiden vom 19. September 1994 und 13. Januar 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 1996 neu fest. Die BG gab im Verlauf des Verwaltungsverfahrens einem Erstattungsbegehren der Beklagten statt und zahlte an diese aus der Rentennachzahlung der Witwenrente aus der Unfallversicherung 7.476,67 DM und 1.909,54 DM.
Das Sozialgericht Duisburg (SG) hat mit Urteil vom 17. Dezember 1997 die Klage hinsichtlich der Neufeststellung der laufenden Witwenrente der Klägerin abgewiesen. Es hat die Bescheide abgeändert, “soweit darin eine rückwirkende Aufhebung der … Witwenrente gewährenden Bescheide und eine Rückforderung ausgesprochen wird”, gleichzeitig aber festgestellt, “dass die Erstattungsansprüche der Beklagten gegenüber der Berufsgenossenschaft Chemie in Höhe von DM 7.476,67, DM 1.909,54 und … zu recht geltend gemacht worden sind”. Im Verfahren über die Berufung der Klägerin hat diese in der mündlichen Verhandlung ihre Klage auf die Zeit vor dem 1. Februar 1997 beschränkt. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat mit Urteil vom 16. Mai 2000 das Urteil des SG antragsgemäß geändert und die Bescheide der Beklagten vom 19. September 1994 und 13. Januar 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 1996 insoweit aufgehoben, “als dadurch der Bescheid vom 01. Februar 1994 für die Zeit vor dem 01. Februar 1997 abgeändert worden ist”. Weiter hat es die Beklagte verurteilt, “die von der Berufsgenossenschaft Chemie insofern erstattet erhaltenen Rentenbeträge in Höhe von DM 9.386,21 an die Klägerin auszuzahlen”.
Zur Begründung hat das LSG angeführt, die Vergünstigung des § 93 Abs 5 Nr 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) idF des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG) gelte auch für Hinterbliebenenrenten. Weiter sei das Erfordernis des Eintritts des “höchstmöglichen” Versicherungsfalls beim Versicherten mit der Bewilligung des vorgezogenen Altersruhegeldes erfüllt gewesen. Es hätte deshalb nach altem Recht zu keinem Zeitpunkt die Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf die Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung angerechnet werden dürfen. Die von der BG geleisteten Zahlungen seien von der Beklagten zu erstatten. Die Freistellung von der Anrechnung ende jedoch für Rentenbezugszeiten ab Februar 1997. Frühestens ab diesem Zeitpunkt hätte die Neufassung des § 93 Abs 5 Satz 2 und 3 SGB VI durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) gegenüber der Klägerin rechtmäßig umgesetzt werden können. Denn die Neuregelung durch das WFG sei nicht mit einem “Selbstvollzug” ausgestattet worden (Anschluss an das Urteil des BSG vom 31. März 1998 – B 4 RA 59/96 R – SozR 3-2600 § 93 Nr 8).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte zunächst eine Verletzung des § 93 Abs 5 Nr 1 SGB VI idF des RRG 1992 sowie des § 93 Abs 5 SGB VI idF des WFG, des § 33 Abs 1 und 2 SGB VI und der §§ 44 und 48 SGB X; weiterhin macht sie – nachdem sie die Revision gegen das Urteil des LSG hinsichtlich der Zeit bis zum 31. Juli 1996 nicht weiter verfolgt – lediglich geltend, hinsichtlich des noch streitigen Zeitraums seien die Bescheide rechtmäßig. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf ungekürzte Witwenrente bis zum 31. Januar 1997. Die Beklagte bezieht sich auf die Rechtsprechung des Senats, wonach die Bescheide der Beklagten als wirksame Neufeststellungsbescheide nach § 48 SGB X anzusehen seien. Mit dem Tag des Gesetzesbeschlusses über das WFG – dem 9. Juli 1996 – hätten die Witwen mit der Verkündung und dem Inkrafttreten der Neuregelung rechnen müssen. Insoweit sei dem Vertrauensschutz Genüge getan. Die Rechtsprechung des 4. Senats des BSG betreffe eine besondere, hier nicht vorliegende Fallkonstellation.
Die Beklagte beantragt,
hinsichtlich des noch streitigen Zeitraums vom 1. August 1996 bis 31. Januar 1997 das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Mai 2000 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 17. Dezember 1997 insoweit zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie trägt vor, das LSG sei zutreffend der Rechtsauffassung des 4. Senats des BSG gefolgt. Jedenfalls stehe der verfahrensrechtliche Vertrauensschutz einer Anrechnung der Unfallhinterbliebenenrente für einen Zeitraum vor Verkündung des WFG entgegen. Auf den Zeitpunkt des endgültigen Gesetzesbeschlusses des Bundestages sei nicht abzustellen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist hinsichtlich des allein noch streitigen Zeitraums vom 1. August 1996 bis 31. Januar 1997 begründet. Insoweit sind die Bescheide der Beklagten vom 19. September 1994 und 13. Januar 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 1996 in ihrem Verfügungssatz – der Neufeststellung der Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung unter Anrechnung der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach Maßgabe des § 93 SGB VI – nicht zu beanstanden, und die Klage ist deshalb abzuweisen.
1. a) Durch Art 1 Nr 17 WFG vom 25. September 1996 (BGBl I 1461) sind dem § 93 Abs 5 SGB VI folgende Sätze (2 und 3) angefügt worden:
“≪2≫ Als Zeitpunkt des Versicherungsfalls gilt bei Berufskrankheiten der letzte Tag, an dem der Versicherte versicherte Tätigkeiten verrichtet hat, die ihrer Art nach geeignet waren, die Berufskrankheit zu verursachen. ≪3≫ Satz 1 ist auf Hinterbliebenenrenten nicht anzuwenden.”
Die Neuregelung ist mit Wirkung vom 1. Januar 1992 in Kraft getreten (Art 12 Abs 8 WFG). Ob sich damit die Klägerin von Anfang an nicht auf die rückwirkend obsolete Vergünstigung des § 93 Abs 5 Satz 1 Nr 1 SGB VI berufen konnte, bedarf hier keiner Entscheidung. Jedenfalls war der Gesetzgeber nicht gehindert, die Anrechnung der Witwenrente aus der Unfallversicherung auf die Witwenrente aus der Rentenversicherung zumindest für den hier noch streitigen Zeitraum ab 1. August 1996 (Folgemonat nach dem Gesetzesbeschluss des Bundestages zum WFG am 9. Juli 1996) auch für laufende Leistungsfälle anzuordnen.
b) Die rückwirkende Änderung der Rechtslage – im vorliegenden Fall durch ein bereits vor Erlass des Widerspruchsbescheides verkündetes Gesetz – ist in allen Instanzen zu berücksichtigen (vgl Teilurteil vom 28. Mai 1997 – 8 RKn 27/95 – SozR 3-2600 § 93 Nr 3 mwN und BSG Urteil vom 24. Februar 2000 – B 2 U 43/98 R – SozR 3-2200 § 551 Nr 14). Das Gericht hat sie – es sei denn, es bestehen verfassungsrechtliche Bedenken – unmittelbar und ohne zeitliche Verzögerung der prozessualen und materiellen Prüfung der angefochtenen Bescheide, bei denen es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung handelt, im Rahmen der hier erhobenen Anfechtungsklage zu Grunde zu legen (vgl BSG Urteil vom 11. März 1987 – 10 RAr 5/85 – BSGE 61, 203, 205 f = SozR 4100 § 186a Nr 21; Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl, § 54 RdNr 32, 33 mwN). Der Senat teilt nicht die vom LSG unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des 4. Senats (Urteil vom 31. März 1998 – B 4 RA 59/96 R – SozR 3-2600 § 93 Nr 8) vertretene Auffassung, die Umsetzung der neuen Rechtslage durch das Gericht habe in allen Fällen im Ergebnis mit einer zeitlichen Verzögerung zu erfolgen, nämlich der Zeitspanne, die für die “gedachte” Durchführung eines Korrekturverfahrens nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X und ein folgendes Anhörungs- und Neufeststellungsverfahren nach § 24 Abs 1 SGB X und § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X erforderlich gewesen wäre. Denn der vom 4. Senat postulierte “selbständige Korrekturanspruch” der Klägerin ist deckungsgleich mit ihrem Klageantrag. Die Durchführung eines – nur gedachten – Zwischenverfahrens ist überflüssig, zumal schon der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 18. November 1996 ausdrücklich auf die damals bereits verkündete Neuregelung des § 93 Abs 5 SGB VI durch das WFG Bezug genommen hat. Aber auch ein “fiktives” oder tatsächliches Neufeststellungsverfahren nach § 48 SGB X erübrigt sich, wenn – wie im vorliegenden Fall – bei gleich bleibendem Verfügungssatz die angefochtenen Bescheide vom 19. September 1994 und 13. Januar 1995 jedenfalls ab Änderung der Rechtslage und für die Zukunft auf § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X (und nicht wie bisher fehlerhaft auf § 45 SGB X) gestützt werden können (vgl BSG Urteil vom 4. Juli 1989 – 9 RVs 3/88 – BSGE 65, 185, 188 = SozR 1300 § 48 Nr 57, S 173 f). Einer Änderung der Begründung durch Wechsel der Rechtsgrundlage (§ 48 Abs 1 SGB X an Stelle von § 45 Abs 1 SGB X) stehen § 41 Abs 2, § 42 SGB X nicht entgegen, wobei hier offen bleiben kann, ob eine Umdeutung iS von § 43 SGB X vorzunehmen ist (so Teilurteil vom 28. Mai 1997 – 8 RKn 27/95 – SozR 3-2600 § 93 Nr 3, S 27) oder – wozu der erkennende Senat nunmehr neigt – lediglich ein das Wesen des vorliegenden Aufhebungsbescheides nicht verändernder Begründungswechsel stattzufinden hat (so bereits BSG Urteile vom 27. Juli 2000 – B 7 AL 88/99 R – SozR 3-1300 § 45 Nr 42, vom 25. April 1990 – 7 RAr 94/87 – SozR 3-4100 § 63 Nr 1 und vom 29. Juni 2000 – B 11 AL 85/99 R – SozR 3-4100 § 152 Nr 9).
c) Wie bereits im Urteil vom 13. März 2002 (B 8 KN 4/00 R – SozR 3-2600 § 93 Nr 11) ausgeführt, weicht der Senat nicht von den Urteilen des 4. Senats vom 31. März 1998 (B 4 RA 59/96 R – SozR 3-2600 § 93 Nr 8 und – B 4 RA 27/96 R – veröffentlicht in JURIS) ab. Die Urteile berücksichtigen und vollziehen die Neuregelung im Ergebnis selbst – obwohl der 4. Senat davon ausging, dass Art 12 Abs 8 WFG kein sog sich selbst vollziehendes Gesetz sei –, wenngleich mit einer zeitlichen Verzögerung. Im Grundsätzlichen besteht also keine Abweichung. Wenn der 4. Senat eine weitere Zeitspanne für die Durchführung eines “fiktiven” Verwaltungsverfahrens berücksichtigte, so bezog sich dies auf eine besondere, hier nicht vorliegende Fallkonstellation. Denn in dem dort entschiedenen Fall hatte der beklagte Versicherungsträger dem Grundsatz von Treu und Glauben im Verwaltungsrechtsverhältnis zuwider gehandelt, indem er seine bei Einlegung “objektiv noch in vollem Umfang unbegründete Revision nunmehr uneingeschränkt weiter verfolgte, obwohl er – wie von ihm in der mündlichen Verhandlung vor dem BSG ausgeführt und auf Nachfrage bestätigt wurde – inzwischen die richtige Rechtskenntnis erlangt hatte, dass er sich in den angefochtenen Anrechnungsbescheiden und auch in den Vorinstanzen rechtswidrig verhalten hatte, weil er die Hinterbliebenenrente aus der Unfallversicherung nicht hätte anrechnen dürfen … ”. Demzufolge hatte der 4. Senat auch keinen Anlass gesehen, vor seinen Urteilen vom 31. März 1998 beim 8. Senat anzufragen, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhält, wonach bei den dortigen Fallgestaltungen die neue Anrechnungsregelung erstmals ab 1. August 1996 und nicht erst nach Ablauf einer fiktiven Zeitspanne ab 1. Februar 1997 rechtmäßig nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X umgesetzt werden konnte (vgl dazu kritisch Langen, DAngVers 1999, 128, 134). Im vorliegenden Fall – der sich auch im verfahrensrechtlichen und zeitlichen Ablauf erheblich von den der Rechtsprechung des 4. Senats zu Grunde liegenden Fallgestaltungen unterscheidet – besteht indes keinerlei Anhalt für einen Verstoß der Beklagten gegen Treu und Glauben.
2. Der Senat hat in seinem Vorlagebeschluss und dem Teilurteil vom 28. Mai 1997 (8 RKn 27/95 – unter IV ≪1≫ – insoweit veröffentlicht in JURIS und SozR 3-2600 § 93 Nr 3) sowie im Urteil vom 13. März 2002 (B 8 KN 4/00 R – SozR 3-2600 § 93 Nr 11) bereits dargelegt, dass gegen die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung für den Zeitraum ab 1. August 1996 keine Bedenken bestehen. Dies gilt auch für den hier zu entscheidenden Fall einer Korrekturentscheidung bei nachträglicher und rückwirkender Bewilligung einer Hinterbliebenenrente aus der Unfallversicherung. Verfassungsrechtlich ist das gesetzgeberische Ziel, sozialpolitisch unerwünschte Doppelversorgungen zu vermeiden, gerechtfertigt. Zudem unterliegen Ansprüche von Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Versorgung ihrer Hinterbliebenen nicht dem Eigentumsschutz des Art 14 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫ (vgl im Einzelnen BVerfG Beschluss vom 18. Februar 1998 – 1 BvR 1318/86 und 1 BvR 1484/86 – BVerfGE 97, 271 = SozR 3-2940 § 58 Nr 1).
Im Anschluss an sein Urteil vom 13. März 2002 (B 8 KN 4/00 R – SozR 3-2600 § 93 Nr 11) bleibt der Senat auch unter Berücksichtigung der im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 20. Februar 2002 (1 BvL 19/97 ua – BVerfGE 105, 48, 58 ff) gegebenen Hinweise dabei, dass der Gesetzgeber verfassungsrechtlich befugt war, die Anrechnungsvorschriften des § 93 Abs 1 bis 3 SGB VI jedenfalls auf den hier allein noch streitigen Eingriff in (nach der alten Rechtslage) bestehende Leistungsansprüche für die Zukunft – begrenzt auf den Zeitraum ab dem Folgemonat nach dem endgültigen Gesetzesbeschluss des WFG am 9. Juli 1996, also ab 1. August 1996 – zu erstrecken (vgl im Einzelnen Teilurteil des Senats vom 28. Mai 1997 – 8 RKn 27/95 – SozR 3-2600 § 93 Nr 3 – unter V ≪1≫; hierzu Nicht-Annahme-Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 24. Oktober 2000 – 1 BvR 1769/00).
3. Ebenfalls nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes geboten ist die von der Klägerin hilfsweise angestrebte Neufeststellung erst ab dem Folgemonat der Verkündung des WFG im Bundesgesetzblatt (vom 27. September 1996). Der Gesetzgeber hat bewusst der Neuregelung Rückwirkung ab 1. Januar 1992 beigemessen, dh es sollten alle bereits entschiedenen, aber vor allem alle in den Verwaltungs- und Klageinstanzen anhängigen Fälle erfasst werden (vgl Teilurteil vom 28. Mai 1997 – 8 RKn 27/95 – SozR 3-2600 § 93 Nr 3 – unter II 5b). Ungeachtet der weiterhin bestehenden Bedenken gegen die “echte” Rückwirkung in einen Zeitraum vor Erlass des Gesetzesbeschlusses des Bundestages, ist Art 12 Abs 8 WFG (dh die Rückwirkung ab 1. Januar 1992) jedenfalls insoweit verfassungsrechtlich unbedenklich und damit zu befolgen, als Art 1 Nr 17 WFG (dh die Neuregelung) Wirkung vom 1. August 1996 an entfaltet. Seitdem besteht kein Vertrauensschutz. Ab dem Tage des endgültigen Gesetzesbeschlusses über das WFG mussten die Betroffenen mit der Verkündung und dem Inkrafttreten der Neuregelung rechnen; es ist ihnen von diesem Zeitpunkt an zuzumuten, ihr Verhalten auf die beschlossene Gesetzeslage einzurichten. Der Gesetzgeber war deshalb – bei aller Fragwürdigkeit einer Rückwirkung bereits ab 1. Januar 1992 – berechtigt, den rückwirkenden zeitlichen Anwendungsbereich der Neureglung jedenfalls auf den Zeitraum vom Gesetzesbeschluss bis zur Verkündung der Neuregelung zu erstrecken. Dies gilt auch angesichts des Umstandes, dass in jenem Zeitraum schon wegen der Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrates weder der Inhalt des künftigen Gesetzes feststand, noch ob es überhaupt endgültig zu Stande kommen würde (vgl BVerfG Urteil vom 14. Mai 1986 – 2 BvL 2/83 – BVerfGE 72, 200, 260 ff; BVerfG Beschluss vom 3. Dezember 1997 – 2 BvR 882/97 – BVerfGE 97, 67; BSG Urteil vom 25. Juni 1998 – B 7 AL 2/98 R – BSGE 82, 198 = SozR 3-4100 § 242v Nr 1).
Bei Anwendung der neuen Rechtslage (hier der jedenfalls ab Gesetzesbeschluss verfassungsrechtlich zulässigen Rückwirkung der Anrechnungsregelung) durch das Gericht ist zwar der “verfahrensrechtliche Vertrauensschutz” des § 48 SGB X (sei es bei der Umdeutung, sei es bei der neuen Begründung des Verfügungssatzes) zu beachten. Dieser (s § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X) besteht jedoch nur für Fälle einer Rückwirkung des Verwaltungsakts. Soweit sich der Verwaltungsakt, dh der Ausgangsbescheid, jedoch iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X “Wirkung für die Zukunft” beimisst, “ist” der ursprüngliche, frühere Verwaltungsakt (hier = Bewilligung der vollen großen Witwenrente) nach dieser Vorschrift zwingend aufzuheben. Auf ein Wissen bzw Nichtwissen infolge einer groben Sorgfaltspflichtverletzung iS des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X kommt es dann nicht an. Insoweit sieht sich der Senat auch nicht im Widerspruch zu den Ausführungen im Beschluss des BVerfG vom 20. Februar 2002 (1 BvL 19/97 ua – BVerfGE 105, 48, 59), wonach die subjektiven Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X “jedenfalls nicht vor der Verkündung des Gesetzes vorliegen” könnten; im Übrigen beziehen sich diese Ausführungen des BVerfG – entsprechend dem Gegenstand der Vorlage – auf die rückwirkende Aufhebung der rentenrechtlichen Bewilligungsbescheide und jedenfalls auch nicht auf ein Verwaltungsverfahren, das erst nach Verkündung der Neuregelung abgeschlossen wurde.
Das individuelle Vertrauen der Klägerin in die bestehende Rechtslage war noch nicht gefestigt. Es gibt keinen Verwaltungsakt, der ihr die Zahlung der vollen großen Witwenrente neben der Witwenrente aus der Unfallversicherung versprochen hätte. Vermögensdispositionen wären riskant gewesen und wurden von der Klägerin auch nicht geltend gemacht. Der Sachverhalt ist deshalb vergleichbar mit dem, der dem Urteil des 7. Senats des BSG vom 25. Juni 1998 (B 7 AL 2/98 R – BSGE 82,198 = SozR 3-4100 § 242v Nr 1 – zur rückwirkenden Absenkung der Arbeitslosenhilfe bei sog Bestandsfällen –) zu Grunde gelegen hatte. Das Vertrauen der rechtskundig vertretenen Klägerin – genauer ihre Erwartung – konnte (vor den Entscheidungen des Senats vom 28. Mai 1997) sich allein darauf beziehen, dass eine Rechtsprechung zum SGB VI, die mit dem Urteil des 5. Senats vom 21. Juni 1995 (5 RJ 4/95 – SozR 3-2600 § 93 Nr 1) in Fortführung der Rechtsprechung zum alten Recht begründet wurde und – dies ist zu betonen – keinen Fall aus der knappschaftlichen Rentenversicherung betraf (dort wurde vor Inkrafttreten des SGB VI die Unfallhinterbliebenenrente stets angerechnet, vgl §§ 75, 76 RKG), Bestand hat (zum Meinungsstand vgl Teilurteil vom 28. Mai 1997 – 8 RKn 27/95 – SozR 3-2600 § 93 Nr 3 – unter II 4a). Selbst der 5. Senat hatte in der genannten Entscheidung zu verstehen gegeben, dass zur Korrektur ungerechtfertigter Doppelleistungen eine Gesetzesänderung zu erwägen sei. Erst mit den Teilurteilen vom 28. Mai 1997 – also zeitlich nach dem Erlass der angefochtenen Bescheide – hat der Senat diese Rechtsprechung auf nach dem SGB VI festgestellte Knappschaftsrenten erstreckt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 959710 |
NZS 2004, 103 |
SozR 4-2600 § 48, Nr. 1 |
ZfSSV 2007 |