Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittel. Therapie-Tandem. krankhaft übersteigerter Bewegungsdrang
Leitsatz (amtlich)
Ein krankhaft übersteigerter Bewegungsdrang ist kein Grundbedürfnis, dessen Befriedigung ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung (hier: Therapie-Tandem) im Wege des Behinderungsausgleichs dienen kann (Anschluss an BSG vom 16.9.1999 – B 3 KR 9/98 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 32).
Normenkette
SGB V § 33 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 3. April 2002 und des Sozialgerichts Cottbus vom 28. Oktober 1999 geändert. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der 1987 geborene Kläger leidet an einem Zustand nach frühkindlicher, mehrfach rückfälliger Hirnhautentzündung mit mittelgradiger geistiger Behinderung (Entwicklungsstand eines Vier- bis Fünfjährigen bei körperlich altersentsprechender Entwicklung), gut einstellbarem Anfallsleiden, Tic-Erkrankung (sog Tourette-Syndrom), wechselnden Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen, Störung des Gleichgewichtssinns, Sprachstörung mit geringem aktivem und passivem Wortschatz sowie hochgradiger – durch ein Hörgerät zT ausgeglichener – Schwerhörigkeit. Körperlich ist der Kläger ansonsten nicht behindert, aber hyperaktiv, und bedarf wegen eingeschränkten Gefahrenbewusstseins der ständigen Aufsicht; ein normales Fahrrad kann er nicht benutzen. Er besucht eine Förderschule für geistig Behinderte. Der Kläger ist als Familienangehöriger bei der beklagten Krankenkasse versichert; von der Pflegeversicherung bezieht er Leistungen nach Pflegestufe III iS des Sozialgesetzbuchs Elftes Buch.
Im Juni 1997 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung und eines Kostenvoranschlages ein Therapie-Tandem “Co-Pilot” der Fa Hoening (mit Doppellenkung, Freilauf und Zubehör) zum Gesamtpreis von 5.038,75 DM als Hilfsmittel zu gewähren. Bei diesem sitzt das behinderte Kind vor der erwachsenen Begleitperson und kann mitlenken sowie ggf mit in die Pedale treten. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil das Tandem ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens sei und das Tandemfahren über die allgemeinen Grundbedürfnisse iS von § 33 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) hinausgehe (Bescheid vom 18. Juni 1997 und Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 1997). Das Sozialgericht hat die Beklagte – nach Einholung eines ärztlichen Gutachtens – zur Versorgung mit dem Therapie-Tandem antragsgemäß, abzüglich eines Eigenanteils von 399 DM, verurteilt (Urteil vom 28. Oktober 1999). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Kläger “mit einem Therapie-Tandem mit Doppellenkung und Freilauf” zu versorgen ist (Urteil vom 3. April 2002). Das LSG hat ausgeführt, das Therapie-Tandem sei zwar nicht erforderlich, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern. Nach der zweitinstanzlich angehörten behandelnden Kinderärztin sei es jedoch die einzige Möglichkeit, das Grundbedürfnis des Klägers nach aktiver Bewegung auch außer Hauses bei seinem behinderungsbedingt überschießenden Bewegungsdrang auszugleichen. Auf dem begrenzten elterlichen Grundstück sei ein derartiges Austoben nicht möglich, außerhalb desselben laufe der Kläger seinen Eltern weg. Krankengymnastik oder Wanderungen erfüllten den genannten Zweck nicht.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht die Beklagte die Verletzung der §§ 12 und 33 SGB V geltend. Ein Grundbedürfnis könne nicht nach dem jeweiligen individuellen Gesundheitszustand und Lebensbereich bestimmt werden. Der Kläger habe keine körperlichen Funktionseinschränkungen im Bewegungsapparat. Das Erledigen von Alltagsgeschäften im Nahbereich oder die Integration in Familie und Freundeskreis sei nicht in Frage gestellt. Die eigentlichen (geistigen) Behinderungen des übersteigerten Bewegungsdrangs und des fehlenden Gefahrenbewusstseins würden durch das Tandemfahren aber nicht positiv beeinflusst.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 3. April 2002 sowie das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 28. Oktober 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er erwidert, das Tandemfahren erfülle seinen wie bei allen Kindern und Jugendlichen vorhandenen, aber stärker ausgeprägten Bewegungsdrang; ein Nichtausleben führe zu psychischem Unwohlsein. Es gehe aber auch um die Sicherung von Behandlungserfolgen und um eine Therapie zur weiteren positiven Entwicklung; insbesondere würden durch das Tandemfahren Bewusstsein und Erfahrungshorizont erweitert.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat konnte in Abwesenheit des Klägers entscheiden, weil dieser ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen und auf die Folgen seines Ausbleibens hingewiesen worden war.
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf ein Therapie-Tandem als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung. Seine Klage war deshalb unter Abänderung der anders lautenden Vorentscheidungen abzuweisen.
Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V (vgl jetzt auch die §§ 31 Abs 1, 26 Abs 2 Nr 6 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch ≪SGB IX≫, – dazu Urteil des Senats vom 26. März 2003 – B 3 KR 23/02 R –) haben Versicherte einen Anspruch gegen ihre Krankenkasse auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V durch Rechtsverordnung ausgeschlossen sind.
Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, ist ein Therapie-Tandem kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, sondern eine Spezialanfertigung für Behinderte, denen erst dadurch das Tandemfahren unter der Obhut einer Begleitperson ermöglicht wird. Therapie-Tandems sind auch nicht durch Rechtsverordnung als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Auch das Nichtaufführen im Hilfsmittelverzeichnis nach § 128 SGB V steht einem Anspruch nicht entgegen.
Die Versorgung des Klägers mit einem Therapie-Tandem ist jedoch nicht erforderlich, um eine Behinderung auszugleichen (vgl zum Folgenden Urteil des Senats vom 16. September 1999, B 3 KR 9/98 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 32 sowie zuletzt Urteile des Senats vom 23. Juli 2002, B 3 KR 3/02 R – Dreirad – zur Veröffentlichung vorgesehen – und vom 21. November 2002, B 3 KR 8/02 R – nicht veröffentlicht –). Dieser in § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V genannte Zweck (vgl jetzt auch § 31 Abs 1 Nr 3 SGB IX) eines von der gesetzlichen Krankenkasse zu leistenden Hilfsmittels bedeutet nicht, dass nicht nur die Behinderung selbst, sondern auch sämtliche direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen wären. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weit gehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinaus gehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung liegt daher nur dann vor, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach stRspr (vgl die oben genannten Urteile des Senats) gehören zu den Grundbedürfnisses des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, die Ausscheidung, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums.
Das hier in Betracht kommende Grundbedürfnis des “Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums” hat die Rechtsprechung nur iS eines Basisausgleichs der Behinderung und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden verstanden. So hat der Senat in seiner Entscheidung vom 8. Juni 1994 (3/1 RK 13/93 = SozR 3-2500 § 33 Nr 7 – Rollstuhlboy –) zwar die Bewegungsfreiheit als Grundbedürfnis bejaht, aber dabei auf diejenigen Entfernungen abgestellt, die ein Gesunder zu Fuß zurücklegt. Später (Urteil vom 16. September 1999, B 3 KR 8/98 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 31) hat der Senat das auf die Fähigkeit präzisiert, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang “an die frische Luft zu kommen” oder um die – üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden – Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Soweit überhaupt die Frage eines größeren Radius über das zu Fuß Erreichbare hinaus aufgeworfen worden ist, sind bisher immer zusätzliche qualitative Momente verlangt worden: So hat der Senat in seiner Entscheidung vom 16. April 1998 (B 3 KR 9/97 R – Rollstuhl-Bike für Jugendliche – SozR 3-2500 § 33 Nr 27) zwar diejenigen Entfernungen als Maßstab genommen, die ein Jugendlicher mit dem Fahrrad zurücklegt; das Hilfsmittel ist aber nicht wegen dieser – rein quantitativen – Erweiterung, sondern wegen der dadurch geförderten Integration des behinderten Klägers in seiner jugendlichen Entwicklungsphase zugesprochen worden (vgl dazu neuerdings auch Urteil des Senats vom 23. Juli 2002, B 3 KR 3/02 R – Dreirad – zur Veröffentlichung vorgesehen –). Ganz ähnlich war schon in der Entscheidung vom 2. August 1979 (11 RK 7/78 = SozR 2200 § 182b Nr 13 – Faltrollstuhl –) nicht die angesprochene Fortbewegung auch in Orten außerhalb des Wohnortes, sondern die Ermöglichung des Schulbesuchs der maßgebliche Gesichtspunkt gewesen.
Dem Kläger ist zwar einzuräumen, dass er sich nach den auf die Äußerungen der behandelnden Kinderärztin gestützten Feststellungen des LSG selbstständig, dh ohne räumliche Begrenzung und ohne Aufsicht, nicht bewegen kann. Unselbstständig, dh unter Aufsicht, kann er sich aber in dem oben umrissenen, maßgeblichen Nahbereich bewegen, da er im Gehen völlig unbehindert ist. Ein selbstständiges Bewegen im Nahbereich würde ihm auch durch das Therapie-Tandem nicht ermöglicht; vielmehr handelt es sich insoweit nur um eine andere Form unselbstständiger Bewegung unter Aufsicht, nämlich um Rad fahren. Rad fahren gehört aber einschließlich der damit verbundenen Empfindungen – der Kläger trägt dazu vor: “Glücksgefühl”, “Freude” an der Bewegung, “umfassende Umwelterfahrung”, “Wahrnehmung von Geschwindigkeit” und die “Raumorientierung” – nicht zu den Grundbedürfnissen iS von § 33 SGB V, wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat (vgl BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 32).
Der 8. Senat des Bundessozialgerichts hat eine Versorgung mit einem Therapie-Tandem nur in zwei Fällen zugesprochen, in denen jeweils eine ganz außergewöhnliche Bewegungseinschränkung vorlag und in der konkreten Familiensituation den gemeinsamen Fahrradausflügen eine große Bedeutung zukam (vgl BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 25 und 28). Solche Voraussetzungen liegen beim Kläger indessen weder familiär noch gesundheitlich vor. Dass das Fahrrad fahren in seiner Familie eine besondere Rolle spielt, ist nicht vorgetragen worden. Der Kläger kann sich auch, da er nicht gehbehindert ist, immerhin in abgegrenzten Gebieten, wie in Wohnräumen, auf dem Grundstück der Eltern, in der Behindertenschule oder in sonstigen umzäumten Räumen wie Parks, Sporthallen, Hallen- und Spaßbädern, Kinderspielplätzen und Sportplätzen ohne irgendwelche körperlichen Beeinträchtigungen bewegen. Zur Förderung seiner Integration in den Kreis seiner Familie oder gleichaltriger Spielgefährten ist das Tandem nicht erforderlich.
Soweit das LSG davon ausgegangen ist, dass das Tandem dazu dient, den überschießenden Bewegungsdrang des Klägers abzubauen, und dies ein Grundbedürfnis sei, wendet die Revision zu Recht ein, dass Maßstab für den Behinderungsausgleich immer nur die Bedürfnisse eines gleichaltrigen, gesunden Menschen sein könne. Der Abbau des überschießenden Bewegungsdrangs ist deshalb kein Grundbedürfnis eines gesunden Kindes, weil dieses nur einen normalen Bewegungsdrang hat; der überschießende Bewegungsdrang des Klägers ist gerade Ausdruck seiner geistigen Krankheit oder Behinderung, sodass die Frage nur lauten kann, ob das Tandem der Behandlung dieser Krankheit und Behinderung dienen kann und soll.
Ob das Therapie-Tandem erforderlich ist, “um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern”, ist vom LSG lediglich mit einem Satz und ohne Begründung verneint worden. Im Ergebnis ist dies aber bei Würdigung allgemeinkundiger und daher auch in der Revisionsinstanz verwertbarer Tatsachen zutreffend, sodass der Rechtsstreit nicht zu weiteren Feststellungen zurückverwiesen werden muss. Dabei kann offen bleiben, ob das Tandem – so die ärztliche Verordnung – zur Förderung des Gleichgewichtssinns, der Wahrnehmungsverarbeitung, der Selbstsicherheit und der Spontanreaktion geeignet ist und – so die behandelnde Kinderärztin – bei Fehlen einer Abreaktionsmöglichkeit von der Gefahr einer Steigerung von Aggressionen und Unausgeglichenheiten ausgegangen werden muss. Derartige therapeutische Ziele können nämlich auf einfachere Weise und ohne finanzielle Belastung der Krankenkasse erreicht werden, nämlich durch die verschiedenen Möglichkeiten des Behindertensports oder gemeinsamer Sportausübung im Rahmen der Familie, die nicht mit der Anschaffung teurer Geräte verbunden sind, wie etwa Schwimmen, Laufen oder Ballspielen, und an die Beaufsichtigung des Klägers keine höheren Anforderungen stellen als das Tandemfahren.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
Haufe-Index 954167 |
FEVS 2004, 49 |
KrV 2003, 183 |
SozR 4-2500 § 33, Nr. 2 |
br 2003, 228 |