Verfahrensgang
SG Dortmund (Urteil vom 14.06.1989) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 14. Juni 1989 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Vormerkung einer weiteren Ausbildungs-Ausfallzeit.
Der 1930 geborene Kläger bestand im Mai 1950 die Reifeprüfung am Städtischen Gymnasium in Saarlouis. Anschließend besuchte er in dem hier streitigen Zeitraum vom 1. September 1950 bis zum 30. September 1952 am fränzösischen Gymnasium Lycée Maréchal Ney in Saarbrücken die Klassen „Mathématiques élémentaires” und „Mathématiques supérieures” als Voraussetzung der Aufnahmeprüfung für die Zulassung zum Studium an der Ecole Nationale des Mines in Nancy (Frankreich). Nach dem Bestehen der Aufnahmeprüfung studierte er dort vom Wintersemester 1952/53 bis zum Sommer 1955. Dieses Bergbaustudium schloß er mit dem Diplom ab.
Im Rahmen des Kontenklärungsverfahrens merkte die Beklagte ua als Ausfallzeit die Zeit vom 15. Oktober 1952 bis zum 30. Juni 1955 als abgeschlossene Hochschulausbildung vor. Die Anerkennung der Zeit der Ausbildung am Lycée in Saarbrücken als Zeit der Hochschulausbildung lehnte sie mit der Begründung ab, das Lycée sei Teil des sekundären Schulsystems, so daß eine Anerkennung als abgeschlossene Hochschulausbildung im Sinne des Ausfallzeittatbestandes ausgeschlossen sei. Auch eine Anrechnung als Ausfallzeit wegen Schulausbildung komme nicht in Betracht, da die gesetzlich vorgesehene Höchstdauer von vier Jahren bereits mit dem 28. Februar 1950 erschöpft sei.
Die Klage hatte Erfolg (Urteil des Sozialgerichts – SG -Dortmund vom 14. Juni 1989). Das SG hat zur Begründung ausgeführt, die weitere Ausbildung des Klägers nach dem Bestehen der Reifeprüfung sei als Hochschulausbildung im Sinne des § 57 Abs 1 Satz 1 Nr 4b des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) zu beurteilen. Für die Zuordnung einer Ausbildungsstätte zum Schul- oder Hochschulbereich sei bei ausländischen Institutionen stärker als bei inländischen Institutionen auf Art und Inhalt der absolvierten Ausbildung abzustellen. Wesentliche Ausbildungsfächer des „Grundstudiums” in Saarbrücken seien Mathematik, Physik und Chemie gewesen, während die Ausbildung in den spezifisch bergbaulichen Fächern erst in Nancy erfolgt sei. Auch bei vielen Studiengängen in Deutschland seien im ersten Studienabschnitt Fächer zu belegen, die in Grundzügen zuvor bereits Teil der gymnasialen Ausbildung gewesen seien. Die sachliche Zuordnung der Vorbereitungsphase für die Aufnahme an die Grandes Ecoles in Frankreich, zu der die Bergbauakademie in Nancy rechne, zur Hochschulausbildung werde auch daran deutlich, daß die Vorbereitungsphase bei dem Erreichen eines gewissen Mindestnotendurchschnitts in vollem Umfang auf die Zeit des Studiums einer regulären Universität in Frankreich angerechnet werde. Schließlich gebiete die besondere politische Situation des Saarlandes zur Zeit der Ausbildung des Klägers, diesen gegenüber Studenten im Bereich der anderen deutschen Länder nicht zu benachteiligen. Das SG hat die Revision zugelassen.
Mit der Sprungrevision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des § 57 Abs 1 Satz 1 Nr 4b RKG. Für die Frage, ob die Bildungsstätte, an der die Ausbildung erfolgt ist, eine Hochschule gewesen sei, komme es in erster Linie auf den Status als anerkannte Universität oder Hochschule an. Der Kläger sei nicht als Student an einer anerkannten Universität oder Hochschule immatrikuliert gewesen. Auch die Lerninhalte rechtfertigten die Zuordnung zu einer Hochschulausbildung nicht, da es sich nicht um eine wissenschaftliche Ausbildung gehandelt habe. Der Kläger habe daher keinen Anspruch auf die Vormerkung der Zeit vom 1. September 1950 bis 30. September 1952 als Ausfallzeit wegen Hochschulausbildung.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Dortmund vom 14. Juni 1989 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, bei der Vorbereitungszeit habe es sich materiell um eine Hochschulausbildung gehandelt.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –).
Die zulässige Sprungrevision hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das SG die Beklagte verpflichtet, im Rahmen des Kontenklärungsverfahrens (§ 108h Abs 3 RKG) die Ausbildungszeit am Lycée in Saarbrücken als Ausfallzeit im Sinne einer abgeschlossenen Hochschulausbildung nach § 57 Abs 1 Satz 1 Nr 4b RKG (= § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4b der Reichsversicherungsordnung – RVO – und § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b des Angestelltenversicherungsgesetzes – AVG –) vorzumerken (zur „Vormerkung” einer Ausfallzeit vgl BSG SozR 2200 § 1259 Nr 82).
Der genannte Ausfallzeittatbestand ist nicht auf inländische Ausbildungen beschränkt, sondern er kann auch durch eine Ausbildung im Ausland (BSGE 56, 36, 37 = SozR 2200 § 1259 Nr 80; BSGE 61, 35 = SozR aaO Nr 96) und dementsprechend auch auf eine sich nach ausländischem Recht vollziehende Ausbildung angewandt werden. Maßgebend für die Abgrenzung der in § 57 Abs 1 Satz 1 Nr 4b RKG genannten Ausfallzeittatbestände einer weiteren Schulausbildung oder einer abgeschlossenen Fachschul- oder Hochschulausbildung, die weder im RKG noch in anderen rentenrechtlichen Vorschriften näher erläutert werden, ist allerdings, worauf die Revision zu Recht hinweist, in erster Linie der Status der jeweiligen Ausbildungseinrichtung (vgl BSGE 52, 86, 88 = SozR 2200 § 1259 Nr 52; BSGE 56, 36, 38 = SozR aaO Nr 80; BSGE 61, 35, 36 = SozR aaO Nr 96). Für diese formale Betrachtungsweise sprechen sowohl der typisierende Wortlaut der in § 57 Abs 1 Satz 1 Nr 4b RKG enthaltenen Regelung, als auch Gründe der Praktikabilität. Der Gesetzgeber hat nicht alle Ausbildungszeiten schlechthin als Ausfallzeiten anerkannt, sondern lediglich typische Ausbildungsgänge in den Ausbildungsausfallzeittatbestand aufgenommen und diese zeitlich begrenzt. Der Status der Bildungsstätte bietet im Gegensatz zu anderen denkbaren Abgrenzungskriterien einen Anknüpfungspunkt, der eine verhältnismäßig sichere Zuordnung der Ausbildungsabschnitte zuläßt. Voraussetzung für die Bejahung des Ausfallzeittatbestandes der abgeschlossenen Hochschulausbildung ist daher grundsätzlich, daß es sich um Zeiten handelt, in denen ein als ordentlicher Hörer immatrikulierter Student einen geregelten Ausbildungsgang einer anerkannten Universität durchläuft (BSGE 19, 239, 240 = SozR Nr 8 zu § 1259 RVO).
Ist somit auch in erster Linie der Status als Schule, Fach-oder Hochschule der maßgebliche Anknüpfungspunkt für eine Zuordnung, so schließt das jedenfall bei erheblichen Abweichungen des Ausbildungsganges von der Ausbildungsstättenart (Status der Bildungseinrichtung) eine Berücksichtigung nach Art und Inhalt der Ausbildung nicht aus. Diese Betrachtungsweise wird, worauf bereits der 11. Senat in BSGE 56 aaO hingewiesen und der 11a Senat mit Urteil vom 25. November 1986 – 11a RA 66/85 – (BSGE 61, 35 = SozR 2200 § 1259 Nr 96) ergänzt hat, durch die Regelung des § 2 Abs 1 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) über die Arten der Ausbildungsstätten, deren Besuch nach dem BAföG förderungsfähig ist, bestätigt. Während in Satz 1 der Vorschrift bestimmte Gattungsbegriffe von förderungsfähigen Ausbildungsstätten genannt sind, enthält der durch das Zweite BAföGÄndG vom 31. Juli 1974 (BGBl I 1649) eingefügte Satz 2 die Aussage, daß für die Zuordnung Art und Inhalt der Ausbildung maßgebend sind. Die genannte Vorschrift wird vom Bundesverwaltungsgericht (Buchholz 436.36 § 7 BAföG Nr 30; FamRZ 1987 S 608) in der Weise ausgelegt, daß zwar grundsätzlich auf die Art der in § 2 Abs 1 Satz 1 BAföG bezeichneten Ausbildungsstätten abzustellen ist, es jedoch auf die Ausprägung des Ausbildungsganges dort ankommt, wo dieser nach Art und Inhalt mit der Ausbildungsstätte nicht übereinstimmt.
Dementsprechend hat die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bereits unter engen Voraussetzungen eine vom formalen Status der Ausbildungsstätte abweichende Zuordnung vorgenommen. So kann die Zurechnung einer nicht durch eine Prüfung abgeschlossenen Hochschulausbildung zu einer Fachschulausbildung ausnahmesweise in Betracht kommen, wenn für die Fachschulausbildung die Anrechnung einer vorhergehenden Hochschulausbildung vorgesehen oder zugelassen ist und insoweit die Fachschulausbildung infolge einer Gleichstellung und Gleichbewertung von Studienzeiten als „planmäßig und unverkürzt” zurückgelegt gilt. Außerdem ist erforderlich, daß die Ausbildung in einem Mindestumfang tatsächlich an der Fachschule zurückgelegt und im Regelfall mit der vorgesehenen Prüfung abgeschlossen wurde (BSG SozR 2200 § 1259 Nr 4; Urteil vom 18. März 1982 – 11 RA 32/81 – und vom 16. Februar 1989 – 4 RA 8/88 –; BSG SozR 2200 § 1259 Nr 111). Es bedarf mithin schon bei einer sich nach inländischem Recht vollziehenden Ausbildung wegen der sich aufgrund der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes (GG) im Bereich der Schul- und der Hochschulausbildung ergebenden Besonderheiten bei der Fassung schulrechtlicher Organisationsvorschriften im Einzelfall eines Rückgriffs auf Art und Inhalt der Ausbildung.
Den genannten Abgrenzungskriterien kommt wegen der Verschiedenartigkeit ausländischer Ausbildungen und der sich nach ausländischem Recht vollziehenden Ausbildung eine erhöhte Bedeutung zu (BSGE 56, 36, 38 = SozR 2200 § 1259 Nr 80). Den Unterschieden der Ausbildungssysteme ist dadurch Rechnung zu tragen, daß es nicht etwa erforderlich ist, daß eine nahezu gleiche Ausbildung auch im Inland hätte erfolgen können (BSGE 61, 35 = SozR 2200 § 1259 Nr 96), sondern es genügt, daß die absolvierte Ausbildung in Zielsetzung und Charakter einer der im Gesetz genannten Ausbildungsgattungen in Deutschland in wesentlichen Zügen vergleichbar ist (so der erkennende Senat zu den Anforderungen an eine im Ausland erfolgte Berufsausbildung im Kindergeldrecht in BSG SozR 5870 § 2 Nr 51).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Annahme des SG nicht zu beanstanden, die grundsätzlich andersartige Organisation und Sonderstellung des Studiums an einer „Grande Ecole” (vgl hierzu Ewert/Lullies, Das Hochschulwesen in Frankreich, 1985, S 166 ff) rechtfertige die Zuordnung des fraglichen Ausbildungsabschnittes zur Hochschulausbildung im Sinne des Ausfallzeittatbestandes, und dies, obwohl die Ausbildung am Lycée in Saarbrücken an sich nach dem Status der Ausbildungsstätte als Schulausbildung anzusehen wäre. Die getroffenen Feststellungen des SG reichen für eine abschließende Entscheidung des Senates aus. Danach werden Bewerber zu einem Studium an einer Grande Ecole nur zugelassen, wenn sie einen sog „concours d'entrée” bzw „concours d'admission” bestanden haben. Voraussetzung hierfür ist das Absolvieren einer im allgemeinen zwei Jahre dauernden Vorbereitungsklasse. Die Aufnahme in diese Vorbereitungsklasse setzt als Vorbildungserfordernis, wie dies für ein Studium typisch ist, den Abschluß der gymnasialen Ausbildung voraus (vgl zur Bedeutung dieser Zugangsvoraussetzung BSG vom 12. Juli 1988 – 4/11a RA 69/87 –). Auch die vom SG festgestellten Lerninhalte – es handelte sich im wesentlichen um eine vertiefende Ausbildung in den Fächern Mathematik, Physik und Chemie -stehen der Qualifizierung als Hochschulausbildung nicht entgegen. Es entspricht dem Charakter einer Hochschulausbildung, nicht ausschließlich berufsbezogene Kenntnisse zu vermitteln, sondern auch zu einer Hebung des allgemeinen Bildungs- und Wissenstandes beizutragen (vgl BSG in SozR 2200 § 1259 Nr 74). Darüberhinaus ist – wie das SG zu Recht ausgeführt hat – die weiterführende Ausbildung in Fächern, die in Grundzügen auch an allgemeinbildenden Schulen gelehrt werden, Gegenstand einer Vielzahl von inländischen Studienfächern und stellt deshalb keine Abweichung vom Leitbild des inländischen Hochschulstudiums dar.
Schließlich sieht es der Senat als entscheidendes Kriterium für eine Zuordnung zur Hochschulausbildung an, daß der erforderliche Besuch der Vorbereitungsklasse dem ersten Studienabschnitt an einer französischen Universität gleichsteht und ein unmittelbarer Wechsel in den zweiten universitären Studienabschnitt (3. Studienjahr) erfolgen kann. Regelungen über die Gleichstellung und Gleichbewertung von Ausbildungszeiten erlangen, wie die bereits angeführte Rechtsprechung zum Wechsel von einer Hochschul- zur Fachschulausbildung zeigt (BSG SozR 2200 § 1259 Nr 111), für die Zuordnung der jeweiligen Ausbildung ein besonderes Gewicht. Da die Fassung des Ausfallzeittatbestandes keine Gleichwertigkeit mit einer entsprechenden Hochschulausbildung im Inland erfordert (BSGE 61, 35, 37 = SozR 2200 § 1259 Nr 96), kann die nach ausländischem Recht absolvierte Ausbildung eine vom Status der Bildungsstätte abweichende Zuordnung rechtfertigen. Daß im übrigen der betreffende Ausbildungsabschnitt auch qualitativ – was nicht erforderlich wäre – einer entsprechenden Studienzeit im Inland gleichzustellen ist, ist der „Gemeinsamen Empfehlung der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Conference de Grandes Ecoles über die Befreiung von Studienzeiten, Leistungen und Prüfungen im Partnerland in den Natur- und Ingenieurwissenschaften” vom 27. Mai 1983 (Arbeitsbericht WRK 1983, S 71) zu entnehmen. Nach Art 1 Nr 1 dieser Empfehlung gilt als Vorbildungsvoraussetzung für die Aufnahme eines Studiums an einer Grande Ecole mit ein- oder zweijähriger Vorbereitungszeit der Nachweis über den Abschluß einer Diplomvorprüfung oder etwas in der Bundesrepublik Deutschland Gleichgestelltem.
Demnach sind die Vorbereitungszeit am Lycée und das Studium an der Grande Ecole als eine einheitliche Hochschulausbildung zu werten. Diesen Ausbildungsgang hat der Kläger durch die vorgesehene Prüfung abgeschlossen. Die Höchstdauer des Ausfallzeittatbestandes von fünf Jahren wird hierdurch nicht überschritten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1174620 |
NZA 1992, 88 |