Leitsatz (amtlich)

Untersuchung iS des RVO § 555 ist nicht nur eine Maßnahme, welche der Aufklärung des medizinischen Sachverhalts dient, sondern auch eine nach RVO § 1559 angeordnete polizeiliche Unfalluntersuchung.

 

Normenkette

RVO § 555 Fassung: 1963-04-30, § 1559 Abs. 2 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. März 1968 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin wurde am 10. Juli 1963 von einem Verkehrsunfall betroffen. Sie war zur Gemeindeverwaltung ihres Wohnortes unterwegs, um der Aufforderung zur ortspolizeilichen Untersuchung eines Unfalls nachzukommen, den sie am 12. Juni 1963 im Tankstellenunternehmen ihres Ehemannes erlitten hatte. Diesen Unfall erkannte die beklagte Berufsgenossenschaft als Arbeitsunfall an und gewährte der Klägerin durch Bescheid vom 7. Februar 1964 Rente. Den Unfall vom 10. Juli 1963 hingegen sah sie nicht als Arbeitsunfall an und lehnte durch Bescheid vom 18. Oktober 1963 den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, die Klägerin sei nicht auf einem Wege verunglückt, welcher dem Versicherungsschutz des § 555 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unterliege; nach dieser Vorschrift sei ein Weg, welchen der Verletzte zu einer Untersuchung zwecks Aufklärung des Sachverhalts wegen eines Arbeitsunfalls zurücklegen müsse, nur geschützt, wenn es sich um eine ärztliche Untersuchung handele.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage.

Das Sozialgericht (SG) München hat die Deutsche Angestellten-Krankenkasse zum Verfahren beigeladen.

Durch Urteil vom 23. Februar 1966 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 18. Oktober 1963 aufgehoben und sie dem Grunde nach verurteilt, die Klägerin für die Folgen des Unfalls vom 10. Juli 1963 zu entschädigen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 13. März 1968 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt (Breith. 1968, 562): Die Frage, ob sich der Versicherungsschutz des § 555 RVO auch auf Unfälle erstrecke, welche sich, wie im vorliegenden Falle, auf dem Weg zu einer der Aufklärung des Sachverhalts wegen eines Arbeitsunfalls dienenden Untersuchung nicht medizinischer Art ereignen, sei zwar umstritten. Der auf Wortlaut und Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift gestützten Auffassung der Beklagten, die neue Regelung des Versicherungsschutzes beziehe sich nur auf medizinische Vorgänge, könne jedoch nicht beigetreten werden. Wäre eine solche Auslegung vom Gesetzgeber beabsichtigt, hätte er dies im Gesetzestext zum Ausdruck bringen müssen. Den an der Gesetzgebung beteiligten Organen könne im Hinblick auf die Regelung der Unfalluntersuchung in §§ 1559 ff RVO nicht unbekannt gewesen sein, daß es sich in der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) bei aufklärungsbedürftigen Sachverhalten nicht nur um solche medizinischer Art handele. Nach der Entstehungsgeschichte des § 555 RVO hätten zwar Unfälle eines Verletzten im Zusammenhang mit ärztlichen Maßnahmen den Anlaß zur Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf die in dieser Vorschrift geregelten Tatbestände gegeben; Ziel und Zweck der Regelung in der Gesetz gewordenen Fassung des § 555 RVO ließen jedoch eine Beschränkung der Anwendung des Gesetzes auf Vorgänge medizinischer Art nicht rechtfertigen. Der Versicherungsschutz des § 555 RVO setze entgegen der Meinung der Beklagten auch nicht voraus, daß der frühere Unfall bereits als Arbeitsunfall festgestellt sein müsse, als der zweite Unfall sich ereignet habe. Da der zum Unfall führende Weg der Klägerin am 10. Juli 1963 zur Gemeindeverwaltung notwendig gewesen sei, um eine angeordnete Untersuchung des Unfalls vom 12. Juni 1963 zu ermöglichen, und sich dieser Unfall als Arbeitsunfall erwiesen habe, sei der Entschädigungsanspruch begründet.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist der Beklagten am 14. Mai 1968 zugestellt worden. Sie hat am 4. Juni 1968 Revision eingelegt und diese am 19. Juni 1968 begründet: Das LSG habe § 555 RVO unrichtig angewendet. Es habe verkannt, daß diese Vorschrift nur die Vorgänge umfasse, welche der medizinischen Klärung des fraglichen Sachverhalts dienten. Die weitergehende Auffassung des LSG stehe nicht mit der herrschenden Rechtslehre im Einklang. In den an der Gesetzgebung zu § 555 RVO beteiligten Gremien sei allein an die Einführung des Versicherungsschutzes für Unfälle auf Wegen zur medizinischen Klärung des Sachverhalts gedacht gewesen; sonst hätte der erweiterte Versicherungsschutz auch für Hinterbliebene zu gelten, wenn und soweit diese im Interesse der Sachaufklärung tätig würden. Dem stünde jedoch entgegen, daß § 555 RVO ausdrücklich vom "Verletzten" spreche. Auch aus dem allgemeinen Sprachgebrauch ergebe sich, daß "Untersuchung" nur im medizinischen Sinne zu verstehen sei.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 18. Oktober 1963 abzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin und die Beigeladene beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie pflichten dem angefochtenen Urteil bei.

II

Die Revision ist zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Das LSG hat zu Recht entschieden, daß die Klägerin bei dem Unfall, den sie am 10. Juli 1963 auf dem Weg zur Gemeindeverwaltung ihres Wohnortes zur Durchführung der Untersuchung wegen des ihr am 12. Juni 1963 im Tankstellenunternehmen ihres Ehemannes zugestoßenen Unfalls erlitt, auf Grund des § 555 RVO unter Versicherungsschutz stand. Diese Vorschrift ist gemäß Art. 4 § 2 Abs. 1 und § 16 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) auf den vorliegenden Streitfall anwendbar (vgl. BSG 23, 139, 142). Der Unfall vom 12. Juni 1963 hat sich als Arbeitsunfall i.S. des § 548 RVO erwiesen. Die Entscheidung über den Klaganspruch hängt somit allein davon ab, ob auch eine wegen eines Arbeitsunfalls zur Aufklärung des Sachverhalts angeordnete polizeiliche Unfalluntersuchung i.S. des § 1559 RVO eine Untersuchung i.S. des § 555 RVO ist. Das LSG hat dies nach Auffassung des erkennenden Senats zu Recht bejaht. Zu einer in diesem Sinne ausdehnenden Auslegung des § 555 RVO zwingt allerdings, wie in dem angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt ist, der Wortlaut des § 555 RVO nicht. Die Textfassung allein gewährt keinen eindeutigen Aufschluß über die Reichweite der für die Beurteilung des vorliegenden Falles in Betracht kommenden Regelung. Das LSG hat daher zu Recht den fraglichen Anwendungsbereich des § 555 RVO im Wege der Auslegung ermittelt und hierbei die in Rechtsprechung und Rechtslehre für die Gesetzesauslegung entwickelten Grundsätze (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., Bd. I S. 190 p I/III mit Nachweisen, vor allem BSG 23, 276 und BVerfG 11, 126, 130) berücksichtigt. Es ist hierbei zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, daß nach dem in dieser Vorschrift objektivierten gesetzgeberischen Willen, so wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang, in den er hineingestellt ist, ergibt, eine ausdehnende Auslegung gerechtfertigt ist. Der hiergegen Zweifel veranlassende Gesetzestext "zur Aufklärung des Sachverhalts angeordneten Untersuchung" läßt entgegen der Meinung der Revision keine Einschränkung des sprachlichen Verständnisses in der Richtung erkennen, daß nur Untersuchungen medizinischer Art gemeint seien. Dies wird vor allem dadurch verdeutlicht, daß in § 555 RVO alternativ Fallgruppen angeführt sind, die insofern unterschiedlich bezeichnet sind, als im Gegensatz zu den ersten vier Alternativfällen, welche eindeutig medizinische Sachbezüge aufweisen, die fünfte, im vorliegenden Fall maßgebliche Alternative einen solchen Bezug nicht erkennen läßt. Hätte der Gesetzgeber eine in allen Varianten des § 555 RVO einheitlich auf medizinische Vorgänge gerichtete Regelung des erweiterten Versicherungsschutzes gewollt, würde es aus gesetzestechnischen Gründen nicht nur nahegelegen haben, sondern um der Klarheit des Gesetzes willen notwendig gewesen sein, diesen Willen zum Ausdruck zu bringen; das ist indessen nicht geschehen. Mit dem LSG hält daher auch der erkennende Senat die von Semlitsch ("Die Betriebskrankenkasse" 1964, Spalte 326 ff) und Podzun ("Der Unfallsachbearbeiter", 3. Aufl., 090 S. 2) vertretene Ansicht für zutreffend, daß der Wortlaut des § 555 RVO keine ausreichende Handhabe für eine enge Auslegung biete. Die im Schrifttum zutage getretenen Gegenstimmen, vor allem von Ilgenfritz ("Die Berufsgenossenschaft" 1963, 329) und Lauterbach (Gesetzl. UV, 3.Aufl., Bd. I S. 318 Anm. 9 a und b zu § 555 RVO), vermögen nicht zu überzeugen. Sie berufen sich im wesentlichen zwar auf die Entstehungsgeschichte des § 555 RVO und können mit Recht für sich in Anspruch nehmen, daß den Anstoß zu der Erweiterung des Versicherungsschutzes durch § 555 RVO die Rechtsprechung gegeben hat, nach welcher bei Unfällen auf dem "Wege zum Arzt" wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls der Verletzte nur als versichert angesehen werden konnte, wenn es sich dabei um mittelbare Folgen dieses Arbeitsunfalls handelte oder die ärztliche Behandlungsbedürftigkeit im betrieblichen Interesse lag (vgl. Urt. des BSG vom 25.3.1964 - 2 RU 106/60 - in "Die Berufsgenossenschaft" 1965, 73; RVA in EuM 42, 385; Hess. LSG in Breith. 1961, 416). Aus diesem Grund erklärt es sich auch, daß der Bundesrat, auf dessen Anregung es zur Erweiterung des Versicherungsschutzes auf die Tatbestände des § 555 RVO gekommen ist, in seiner Stellungnahme zu dem ursprünglichen, noch keine derartige Regelung enthaltenden Entwurf der Bundesregierung zu einem Unfallversicherungsgesetz für eine Ergänzung dieses Entwurfs mit folgendem Wortlaut eintrat: "Als Arbeitsunfälle gelten weiter Unfälle versicherter Personen auf dem Wege zwischen ihrer Wohnung oder ihrer Arbeitsstätte (Ausbildungsstätte) und einem Arzt, den sie auf dessen Aufforderung oder auf Aufforderung einer sonstigen Stelle zur Untersuchung oder Heilbehandlung wegen eines Arbeitsunfalls aufsuchen" (BT-Drucks. 3318 S. 1 u. 120 der 2. Wahlperiode). Bei dieser Anregung ließen es die gesetzgebenden Gremien indessen nicht bewenden. Es wurde nicht nur von der vom Bundesrat vorgeschlagenen Systematik abgegangen, indem die in den Versicherungsschutz einzubeziehenden Unfälle nicht als selbständige Arbeitsunfälle, sondern als Folge der Arbeitsunfälle, derentwegen sie sich ereigneten, zu gelten haben. Der Inhalt des § 555 RVO ist außerdem durch die von der Bundesregierung vertretene Neufassung des Gesetzes über den Vorschlag des Bundesrates hinaus um verschiedene Fallgruppen erweitert worden. Insofern ist von besonderer Bedeutung, daß im Unterschied zu der ursprünglich vorgeschlagenen Regelung nicht nur der zum Unfall führende Weg, sondern auch die Durchführung der in § 555 RVO angeführten Maßnahmen selbst unter Versicherungsschutz gestellt worden sind.

Bei Berücksichtigung aller dieser Auslegungsgesichtspunkte wäre es nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht gerechtfertigt und auch nicht sinnvoll, den Versicherungsschutz auf Unfälle zu beschränken, die sich im Zusammenhang mit medizinischen Vorgängen ereignen. Dieses Ergebnis wird auch durch die amtliche Begründung zu § 555 RVO bestätigt (BT-Drucks. IV/120 S. 9 u. 55). In ihr ist zwar zum Ausdruck gebracht, daß § 555 RVO in der damaligen wie auch in der schließlich Gesetz gewordenen Fassung inhaltlich der Bestimmung entspreche, welche der Bundesrat zu dem Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes vorgeschlagen habe, und daß dieser Vorschlag berechtigt sei. Dies könnte allerdings den Anschein erwecken, als habe am Inhalt der vom Bundesrat empfohlenen Regelung nichts geändert werden sollen. Da aber die angeführte amtliche Begründung den Vorschlag des Bundesrates ausdrücklich deshalb für berechtigt erklärt, weil die Rechtsprechung den besonderen sozialpolitischen Bedürfnissen der UV nicht immer hinreichend Rechnung getragen habe, ist sie nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht geeignet, als Grund für eine Einengung des Anwendungsbereiches des § 555 RVO auf Vorgänge medizinischer Art zu dienen. In der Bezugnahme auf den Vorschlag des Bundesrats kommt vielmehr eine Zielsetzung zum Ausdruck, welche durch eine derart enge Auslegung des § 555 RVO nicht verwirklicht werden könnte. Den sozialpolitischen Bedürfnissen der UV entspräche es nur zu einem Teil, wenn bei einem Unfall, der sich anläßlich einer Unfalluntersuchung ereignet, die Schutzbedürftigkeit des Verletzten verneint werden müßte. Jedenfalls läßt sich kein ausreichender Grund dafür anführen, daß Verletzte, die bei der Aufklärung des Sachverhalts i.S. dieser Vorschrift, vor allem bei der behördlichen Unfalluntersuchung, mitzuwirken haben und dabei verunglücken, vom Versicherungsschutz des § 555 RVO auszunehmen seien. Überdies wird allein eine in dem dargelegten Sinne ausdehnende Auslegung des § 555 RVO dem Gleichheitssatz des Art. 3 des Grundgesetzes gerecht.

Soweit die Revision ein überzeugendes Argument gegen diese Auffassung darin erblickt, daß als Folge eines Arbeitsunfalls nur ein Unfall des Verletzten, nicht aber dessen Hinterbliebene in Betracht kämen, verkennt sie, daß für eine Einbeziehung der Hinterbliebenen in den unmittelbaren Versicherungsschutz des § 555 RVO schon deshalb kein Raum ist, weil es an der nach dieser Vorschrift erforderlichen Identität zwischen dem durch den Arbeitsunfall Verletzten und dem später Verunglückten fehlt.

Die Entstehung des Entschädigungsanspruchs nach § 555 RVO ist, wie in dem angefochtenen Urteil mit zutreffender Begründung ausgeführt und von der Revision nicht beanstandet worden ist, unabhängig davon, daß im Zeitpunkt des zweiten Unfalls der Arbeitsunfall bereits Gegenstand einer förmlichen Feststellung war. Es ist im vorliegenden Streitfall daher unerheblich, daß die Beklagte den Unfall vom 12. Juni 1963 erst nach dem Unfall vom 10. Juli 1963 als Arbeitsunfall anerkannt hat.

Hiernach ist der Klaganspruch begründet. Bei der Schwere der Verletzungen der Klägerin durch den Unfall vom 10. Juli 1963 - Schulterblattfraktur, Kontusion im Kniegelenk und Gehirnerschütterung - haben die Vorinstanzen zu Recht ein Grundurteil erlassen (vgl. SozR Nr. 3 und 4 zu § 130 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision der Beklagten ist somit unbegründet und war zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten ergeht auf Grund des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1670132

BSGE, 50

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