Entscheidungsstichwort (Thema)
Höhe des Arbeitslosengeldes. Erweiterung des Bemessungsrahmens. unbillige Härte. Lohnverzicht wegen Arbeitsplatzsicherung. Bemessungsentgelt. Zuflussprinzip
Leitsatz (amtlich)
Bestand beim Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis ein vom Arbeitgeber nicht erfüllter Anspruch auf volles Arbeitsentgelt, so kann ein Anspruch auf höheres Arbeitslosengeld nicht unter Annahme eines Härtefalls darauf gestützt werden, dass zum Bemessungszeitraum auch Zeiten heranzuziehen sind, in denen der Arbeitgeber noch volles Arbeitsentgelt gezahlt hat.
Normenkette
SGB 3 § 130 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 Fassung: 2003-12-23; SGB 3 § 131 Abs. 1 S. 2 Fassung: 2003-12-23
Verfahrensgang
Tatbestand
Im Streit ist die Zahlung höheren Arbeitslosengeldes (Alg) für die Zeit ab 1. Mai 2005.
Der Kläger war von 1969 bis April 2005 bei der Gesellschaft für Aus- und Weiterbildung mbH (GAW) beschäftigt; die Kündigung erfolgte aus betrieblichen Gründen. Im Jahr 2004 schloss der Betriebsrat mit der GAW eine vom 1. April 2004 bis 31. März 2005 befristete Betriebsvereinbarung. Danach wurden zur Sicherung der Arbeitsplätze eine tarifliche Sonderzahlung im Oktober 2004 nicht ausgezahlt und ab April 2004 vom Gesamtbrutto-Gehalt 4 vH monatlich einbehalten. Zusätzlich wurde ua festgelegt, dass bei betriebsbedingter Kündigung "eine Rückzahlung" erfolgen solle. Zur Auszahlung der einbehaltenen Beträge kam es nicht. Die Beklagte bewilligte dem Kläger Alg ab 1. Mai 2005 auf der Grundlage des abgesenkten, niedrigeren Arbeitsentgelts der Betriebsvereinbarung (Bescheid vom 11. Mai 2005; Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 2005).
Während das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen hat (Urteil vom 6. Januar 2006), hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG "geändert und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11.5.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.7.2005 verurteilt, dem Kläger Arbeitslosengeld aufgrund eines Bemessungsentgelts in Höhe von 129,92 € zu gewähren" (Urteil vom 31. Mai 2006). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, das Alg sei nach dem höheren Verdienst des Klägers vor Abschluss der Betriebsvereinbarung zu berechnen. Die Berechnung nach dem niedrigeren Jahresentgelt des unmittelbar vor der Arbeitslosigkeit liegenden Jahres stelle eine "unbillige Härte" iS von § 130 Abs 3 Satz 1 Nr 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung (SGB III) dar. Bei wertender Betrachtung dürfe der Kläger nicht neben einem Lohnverzicht zusätzlich durch ein niedrigeres Alg, und damit doppelt, belastet werden. Der Gehaltsunterschied von 6,47 vH sei wirtschaftlich deutlich spürbar und überschreite die noch zumutbare Grenze von 5 vH.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 130 Abs 3 Satz 1 Nr 2 SGB III. Das LSG habe zu Unrecht das Bemessungsentgelt nur aus dem Entgelt errechnet, das der Kläger vor der vereinbarten Entgeltminderung erzielt habe. Wegen der vereinbarten Gehaltsabsenkung hätte allenfalls das durchschnittliche Entgelt aus den Abrechnungszeiträumen der letzten zwei Jahre zugrunde gelegt werden dürfen. Die Berücksichtigung dieser Entgelte komme jedoch nur dann in Betracht, wenn die Zahlung von Alg auf der Grundlage des Bemessungsentgelts allein aus dem letzten (einen) Jahr unbillig hart wäre. Eine solche unbillige Härte liege nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erst bei einer Differenz von 25 vH vor; sie selbst (die Beklagte) nehme eine Unbilligkeit bereits bei einer Differenz von 10 vH an. Dieser Prozentsatz werde vorliegend bei einer Differenz von 6,05 vH nicht erreicht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Ob dem Kläger ein Anspruch auf höheres Alg zusteht, kann nicht beurteilt werden, weil die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG fehlen. Nicht zu folgen ist dem LSG jedoch, soweit dieses eine unbillige Härte iS des § 130 Abs 3 Satz 1 Nr 2 SGB III angenommen hat.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bewilligungsbescheid vom 14. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 2005 (§ 95 SGG). Dabei handelt es sich bei dem Rechtsstreit um einen sog Höhenstreit im Rahmen einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs 1 und 4, 56 SGG), bei der Grund und Höhe des Alg-Anspruchs in vollem Umfang zu überprüfen sind (stRspr; vgl: BSGE 95, 8 ff RdNr 6 = SozR 4-4300 § 140 Nr 1; BSGE 95, 191 ff RdNr 13 = SozR 4-4300 § 37b Nr 2). Weder zum Grund des Anspruchs noch zur Höhe hat das LSG Feststellungen getroffen.
Die Höhe des Alg richtet sich gemäß § 129 SGB III (hier idF, die die Norm durch das Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften vom 16. Februar 2001 - BGBl I 266 - erhalten hat) nach dem Bemessungsentgelt, das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat. Der Bemessungszeitraum umfasst die beim Ausscheiden des Klägers aus dem Beschäftigungsverhältnis abgerechneten (vollen) Entgeltabrechnungszeiträume des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses im Bemessungsrahmen; dieser wiederum beträgt ein Jahr und endet mit dem letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor der Entstehung des Anspruchs, vorliegend am 30. April 2005 (§ 130 Abs 1 SGB III idF, die die Norm durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 - BGBl I 2848 - erhalten hat). Zu den maßgeblichen Bruttoentgelten bestimmt § 131 Abs 1 Satz 1 SGB III (hier idF, die die Norm durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 erhalten hat), dass nur das durchschnittlich auf den Tag entfallende beitragspflichtige Arbeitsentgelt zu berücksichtigen ist, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (= tatsächlicher Zufluss). Als zugeflossen gelten nach § 131 Abs 1 Satz 2 SGB III auch Arbeitsentgelte, auf die der Arbeitslose beim Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis Anspruch hatte, wenn sie (später noch) zugeflossen oder nur wegen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht zugeflossen sind. Die für den Bemessungsvorgang erforderlichen tatsächlichen Feststellungen des LSG fehlen gänzlich.
Das LSG wird die erforderlichen Feststellungen nachzuholen haben. Dabei wird es zu berücksichtigen haben, dass der Kläger beim Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis noch unerfüllte Ansprüche auf Arbeitsentgelt besaß, die die Arbeitgeberin auch später nicht erfüllt hat. Diese Ansprüche ergeben sich aus dem Arbeitsvertrag unter Zugrundelegung der Betriebsvereinbarung des Jahres 2004, die eine Nichtauszahlung einer tariflichen Sonderzahlung im Oktober 2004 und einen befristeten Einbehalt (bis 31. März 2005) des monatlichen Bruttogehalts in Höhe von 4 vH vorsieht. Die insoweit einbehaltenen Arbeitsentgeltanteile wurden jedoch auch unter Zugrundelegung der Wirksamkeit dieser Vereinbarung vor Ende des Arbeitsverhältnisses auf Grund der betriebsbedingten Kündigung der Arbeitgeberin wieder fällig. Bei Auslegung (§§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫) der Betriebsvereinbarung ergibt sich nämlich, dass sowohl die tarifliche Sonderzahlung als auch die Gehaltsansprüche ab April 2004 nur gestundet waren, und zwar auflösend bedingt durch eine betriebliche Kündigung (§ 158 Abs 2 BGB). Selbst wenn die Vereinbarung über den Einbehalt des Arbeitsentgelts wirksam war, hätte die betriebsbedingte Kündigung nunmehr zur Folge, dass die zunächst einbehaltenen Anteile des laufenden Arbeitsentgelts für die Beitragspflicht so zu behandeln wären, als wäre die Stundung nicht vereinbart worden (vgl nur Jochim in juris PraxisKommentar SGB IV, § 28a Nr 26 mwN). Für eine evtl Einmalzahlung (Oktober 2004) wären die §§ 22, 23a Viertes Buch Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) zu beachten. Ob diese fälligen Arbeitsentgeltansprüche nur wegen Zahlungsunfähigkeit der Arbeitgeberin nicht zugeflossen sind, ist vom LSG nicht festgestellt. Wäre dies jedoch der Fall, müsste das Alg unter Berücksichtigung des beitragspflichtigen höheren Arbeitsentgelts gezahlt werden.
Die Nichtzahlung des Arbeitsentgelts trotz eines bestehenden Anspruchs rechtfertigt allerdings nach der Systematik des Gesetzes nicht die Annahme eines Härtefalls iS des § 130 Abs 3 Satz 1 Nr 2 SGB III. Danach wird der Bemessungsrahmen, aus dem sich der Bemessungszeitraum nach oben geschilderter Maßgabe errechnet, von einem Jahr auf zwei Jahre erweitert, wenn es mit Rücksicht auf das Bemessungsentgelt im erweiterten Bemessungsrahmen (zwei Jahre) unbillig hart wäre, von dem Bemessungsentgelt im Bemessungszeitraum (beim Ausscheiden des Klägers aus dem Beschäftigungsverhältnis abgerechnete Entgeltabrechnungszeiträume innerhalb des letzten Jahres der Beschäftigung) auszugehen. Der Regelung in § 131 Abs 1 Satz 2 2. Alt SGB III (fiktiver Zufluss wegen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgeber) hätte es ansonsten nicht bedurft. Während der Gesetzgeber mit § 131 Abs 1 Satz 2 SGB III auf die Rechtsprechung des BSG (im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes) zur nachträglichen Vertragserfüllung reagiert hat (vgl hierzu Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III § 131 RdNr 56 ff, Stand Juni 2007), erfasst die Härtefallregelung des § 130 Abs 3 Satz 1 Nr 2 SGB III die Fälle, in denen das geringere Arbeitsentgelt des Bemessungszeitraums - gewissermaßen im Sinne einer Momentaufnahme - nicht repräsentativ für die Höhe des Alg die wahren Verhältnisse widerspiegelt, die sich aus höheren Arbeitsentgeltansprüchen eines längeren Bemessungszeitraums ergeben. Auf die vom LSG aufgeworfene Rechtsfrage (prozentuale Höhe des Arbeitsentgeltverlusts als Voraussetzung für die Annahme eines Härtefalls) kommt es deshalb, unabhängig davon, dass das LSG § 130 Abs 3 SGB III ohnedies nicht richtig angewandt hat, nicht an.
Da das LSG schon wegen fehlender tatsächlicher Feststellungen über die Sache neu zu befinden hat, ist nicht entscheidungserheblich, dass nach der Rechtsprechung des 4. und 9. Senats des BSG die Sache (auch) deswegen an das LSG zurückzuverweisen wäre, weil das Verfahren vor dem LSG mangels vorschriftsmäßiger Besetzung an einem absoluten, von Amts wegen zu beachtenden Mangel leidet (Urteile vom 23. August 2007 - B 4 RS 2/06 R - und 8. November 2007 - B 9/9a SB 3/06 R: Entscheidung des Einzelrichters trotz Annahme einer grundsätzlichen Bedeutung der Sache, wie sich aus der Zulassung der Revision durch den Einzelrichter ergibt).
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen