Beteiligte
AOK Westfalen-Lippe -Pflegekasse- |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 28. April 1998 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger begehrt von der beklagten Pflegekasse Pflegegeld nach der Pflegestufe I für die Zeit ab Mai 1996.
Der 1982 geborene Kläger leidet an Mukoviszidose. Die beklagte Pflegekasse lehnte die im Mai 1996 beantragte Gewährung von Pflegegeld ab, weil bei dem Kläger nach Auffassung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) lediglich ein Mehraufwand im Bereich der Grundpflege für Hilfen beim Waschen und bei der Begleitung zum Arzt bzw Therapeuten von durchschnittlich 15-20 Minuten täglich bestehe (Bescheid vom 25. Oktober 1996, Widerspruchsbescheid vom 11. September 1997).
Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 28. April 1998). Der Mehrbedarf an Hilfeleistungen im Bereich der Grundpflege liege beim Kläger im Vergleich zu einem gesunden Gleichaltrigen bei weniger als 45 Minuten im Tagesdurchschnitt. Auch unter Zugrundelegung der Angaben seiner Eltern benötige der Kläger lediglich im Anschluß an seine abendliche Gymnastik Hilfe beim Waschen von 5-10 Minuten täglich, beim nachfolgenden Umziehen ebenfalls von 5-10 Minuten täglich sowie auf der Fahrt zur Krankengymnastik im Tagesdurchschnitt ca 8,5 Minuten (wöchentlich 60 Minuten). Darüber hinaus müsse der Kläger vierteljährlich einmal auf der Fahrt zur Medizinischen Hochschule begleitet werden. Hieraus ergebe sich für den Bereich der Grundpflege ein Gesamtaufwand von etwa 22-32 Minuten. Die übrigen Hilfeleistungen fielen zum Teil in den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung; im übrigen handele es sich um einen Pflegebedarf, der nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) nicht berücksichtigungsfähig sei.
Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 14 Abs 4 und 15 Abs 3 Nr 1 SGB XI. Das SG habe die zur Bekämpfung der Symptome der Mukoviszidose erforderlichen Hilfeleistungen zu Unrecht nicht berücksichtigt. Hierbei handele es sich um Hilfen, die erforderlich seien, um dem Kläger überhaupt das Atmen zu ermöglichen. Allein die Vorbereitung und die Desinfektion des Inhaliergerätes erforderten einen täglichen Zeitaufwand von insgesamt 30 Minuten. Darüber hinaus müsse die Toilette nach dem Stuhlgang sowie das Badezimmer nach der Benutzung durch den Kläger wegen erhöhter Infektionsgefahr desinfiziert werden. Hierauf entfalle ein täglicher Aufwand von weiteren 15 Minuten. Berücksichtigt werden müsse auch die Überwachung der Einnahme des Antibiotikums, was zum Bereich „Nahrungsaufnahme” in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang stehe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 28. April 1998 zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 25. Oktober 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 1997 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab Mai 1996 Leistungen aus der Pflegeversicherung entsprechend der Pflegestufe I zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Sprungrevision ist zulässig. Es fehlt insbesondere nicht an der nach § 161 Abs 1 SGG erforderlichen schriftlichen Zustimmung des Gegners. Die nach Satz 3 dieser Vorschrift erforderliche Beifügung der Zustimmungserklärung kann durch die Vorlage einer beglaubigten Kopie der Sitzungsniederschrift ersetzt werden. Aus der Sitzungsniederschrift geht hervor, daß die Beteiligten ausdrücklich der Einlegung der Sprungrevision durch den Prozeßgegner und nicht nur der Zulassung der Sprungrevision durch das SG zugestimmt haben. Dies wird den Anforderungen, die die Rechtsprechung an die Zustimmungserklärung stellt, gerecht (BSG SozR 1500 § 161 Nr 29; BSGE 12, 230, 236).
In der Sache ist die Revision des Klägers nicht begründet.
1. Der Anspruch auf Pflegegeld, den der Kläger seit Mai 1996 geltend macht, setzt voraus, daß Pflegebedürftigkeit iS des § 14 SGB XI zumindest in einem Ausmaß vorliegt, das in § 15 Abs 1 Nr 1 und § 15 Abs 3 Nr 1 SGB XI festgelegt ist (zu den Anforderungen an das zeitliche Ausmaß des Pflegebedarfs in der Zeit bis zum Inkrafttreten des 1. SGB XI-Änderungsgesetzes am 25. Juni 1996 vgl BSG SozR 3-3300 § 15 Nr 1). Das SG hat zutreffend entschieden, daß diese Voraussetzungen bei dem Kläger nicht vorliegen, weil der bei ihm bestehende Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege nicht so hoch ist, daß er als erheblich pflegebedürftig angesehen werden kann.
2. Nach § 14 Abs 1 SGB XI sind pflegebedürftig iS des SGB XI solche Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer zumindest in erheblichem Maße der Hilfe bedürfen. Zu berücksichtigen ist hierbei, wie der Senat bereits mit Urteil vom 19. Februar 1998 (B 3 P 3/97 R = BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2) entschieden hat, grundsätzlich allein der Umfang des Pflegebedarfs bei den gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen, die Abs 4 der Vorschrift in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Grundpflege) sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung aufteilt. Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des SG hat der an Mukoviszidose leidende Kläger einen krankheitsbedingten Hilfebedarf in den Bereichen Mobilität und Körperpflege. Während er die übrigen im Katalog des § 14 Abs 4 SGB XI aufgeführten Verrichtungen der Grundpflege normalerweise eigenständig durchführen kann, ist er beim Waschen und Anziehen nach der abendlichen Gymnastik, die er wegen der Auswirkungen der Mukoviszidose betreiben muß, auf Hilfe angewiesen. Das SG hat darüber hinaus unterstellt, daß auf der Fahrt zur Krankengymnastik eine Begleitung des Klägers erforderlich ist, was bei einem vierzehnjährigen, ansonsten normal entwickelten Jugendlichen zweifelhaft erscheint. Zur Klärung dieser und der weiteren Frage, ob wegen der Bejahung des Begleitungsbedarfs konsequenterweise auch die zwangsläufig anfallende Aufenthaltszeit in der krankengymnastischen Praxis zu berücksichtigen ist (vgl BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 6), bedarf es jedoch keiner weiteren Ermittlung durch die Tatsacheninstanzen. Denn das SG hat in Übereinstimmung mit den Beteiligten bei den genannten Verrichtungen nur einen Zeitbedarf von bis zu 28,5 Minuten ermittelt. Dieser würde sich auch durch eine Berücksichtigung einer Wartezeit in üblichem Umfang nicht in einem solchen Maße erhöhen, daß die Voraussetzungen des § 15 Abs 3 Nr 1 SGB XI erfüllt wären.
Den zeitlichen Aufwand für die Begleitung bei einer vierteljährlich einmal anfallenden Fahrt zur Medizinischen Hochschule Hannover hat das SG zu Unrecht als Hilfe beim Verlassen und Aufsuchen der Wohnung berücksichtigt. Verrichtungen, die seltener als zumindest einmal pro Woche anfallen, zählen nicht zum berücksichtigungsfähigen Pflegeaufwand. Das Gesetz stellt in § 15 Abs 3 SGB XI mit hinreichender Deutlichkeit klar, daß für die Bemessung des für die Pflege erforderlichen Zeitaufwands auf die Woche abzustellen ist. Aus dem gesamten in einer Woche anfallenden Pflegeaufwand ist der Tagesdurchschnitt zu ermitteln. Dies schließt es aus, bei der Feststellung des zeitlichen Pflegebedarfs auch Verrichtungen einzubeziehen, die seltener als zumindest einmal wöchentlich anfallen.
3. Die darüber hinaus geltend gemachten krankheitsspezifischen Hilfeleistungen (Vorbereitung und Desinfektion des Inhaliergerätes und des Bades, Hilfe beim Inhalieren und bei der Gymnastik sowie bei der Medikamenteneinnahme) können nicht der Grundpflege zugeordnet werden. Krankheitsspezifische Maßnahmen sind zwar nicht von vornherein schon deshalb aus dem berücksichtigungsfähigen Pflegebedarf ausgeschlossen, weil die
Behandlungspflege der Krankenversicherung zuzuordnen ist. Sie zählen jedoch nur dann zu dem nach § 14 SGB XI zu berücksichtigenden Pflegebedarf, wenn und soweit sie (a) Bestandteil der Hilfe für die sogenannten Katalog-Verrichtungen sind oder (b) im unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dieser Hilfe erforderlich werden (Urteil des erkennenden Senats vom 19. Februar 1998, aaO und Urteil des 10. Senats des BSG vom 27. August 1998, B 10 KR 4/97 R = SozR 3-3300 § 14 Nr 7). Krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen sind dann Bestandteil einer Verrichtung, wenn sie mit ihr untrennbar verbunden sind, wie dies etwa bei der Sondenernährung und der Stomaversorgung (Darmentleerung) der Fall ist. Ein zeitlicher Zusammenhang mit einer Verrichtung reicht nur dann aus, wenn die zeitgleiche Durchführung der krankheitsspezifischen Maßnahme mit der Verrichtung – wie etwa bei einem Pflegebad und anschließender Hautbehandlung bei einem Neurodermitis-Patienten – objektiv erforderlich ist (vgl BSG, Urteil vom 26. November 1998, B 3 P 20/97 R, zur Veröffentlichung vorgesehen). Danach kommt, entgegen dem noch zu den §§ 53 ff Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) aF ergangenen Urteil des erkennenden Senats vom 17. April 1996 (3 RK 28/95 = SozR 3-2500 § 53 Nr 10) auch die Berücksichtigung solcher Hilfeleistungen nicht in Betracht, die der Aufrechterhaltung von Vitalfunktionen dienen, soweit die Maßnahme nicht notwendig im zeitlichen Zusammenhang mit einer der im Katalog des § 14 Abs 4 SGB XI aufgeführten Verrichtung durchgeführt werden muß.
Die Frage, welche Hilfeleistungen nach dieser Vorgabe „verrichtungsbezogen” und daher als Pflegebedarf iS des § 14 SGB XI berücksichtigungsfähig sind, kann bei Mukoviszidosekranken nicht einheitlich beantwortet werden. Die Antwort hängt nicht nur vom Schweregrad der Erkrankung, sondern vor allem vom Lebensalter der Betroffenen ab. Dies wird auch aus einem Vergleich der Feststellungen deutlich, die den Urteilen des erkennenden Senats vom 17. April 1996 (aaO) und des 10. Senats vom 27. August 1998 (B 10 KR 4/97 R) einerseits sowie dem vorliegenden und dem Verfahren B 3 P 13/98 R (Urteil vom 29. April 1999) andererseits zugrunde liegen: Die Erkrankung macht bei einem dreijährigen (Urteil vom 17. April 1996) oder achtjährigen Kind (Urteil des 10. Senats vom 27. August 1998) wegen des altersbedingt noch fehlenden oder zumindest nur eingeschränkt ausgeprägten Verständnisses für die Beachtung krankheitsbedingter Besonderheiten bei mehreren Verrichtungen der Grundpflege Maßnahmen einer Pflegeperson (zumeist eines Elternteils) erforderlich, die mit zunehmendem Alter entweder nicht mehr anfallen oder von dem Betroffenen selbst und ohne fremde Hilfe durchgeführt werden. Dies gilt etwa für den Bereich der Ernährung (§ 14 Abs 4 Nr 2 SGB XI – mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung). Der 10. Senat (Urteil vom 27. August 1998, aaO) hat einen zur Grundpflege zählenden Hilfebedarf bei der Aufnahme der Nahrung mit der Erwägung bejaht, daß bei einem Kind ein Hilfebedarf bestehe, wenn es zum Essen angehalten werden müsse, weil bei ihm die Einsichtsfähigkeit dafür fehle, daß es aus Gesundheitsgründen notwendig sei, Widerwillen erregende Speisen oder Speisen in großen Mengen – über den Appetit hinaus – einzunehmen. Während bei einem Kleinkind die Einhaltung der erforderlichen überhöhten Nahrungsmittelzufuhr angesichts krankheitsbedingter Appetitlosigkeit ständiger Überwachung und Kontrolle bedarf, entwickelt ein Jugendlicher zunehmend Einsicht für die Notwendigkeit dieser Maßnahmen und bedarf schließlich keiner fremden Hilfe mehr. Das Gleiche gilt für die krankheitsbedingt erforderliche Kontrolle des Stuhlgangs und des Afters sowie den Aufsichts- und Hilfebedarf beim An- und Ausziehen. Auch bei dieser Verrichtung, die wegen der krankheitsbedingt übermäßigen Salzausscheidung in Verbindung mit Schwitzen erheblich häufiger anfällt als bei Gesunden, hängt die Berücksichtigung als Pflegebedarf entscheidend von der Einsichtsfähigkeit des Kranken ab. Diesem Umstand tragen auch die Pflegebedürftigkeits-Richtlinien (vom 7. November 1994, idF vom 21. Dezember 1995) Rechnung, die in Ziffer 3.5.1 (2. Abs) bei kranken oder behinderten Kindern auch sonstige pflegerische Maßnahmen zur Hilfeart (§ 14 Abs 3 SGB XI) „Unterstützung” zählen und hierbei als Beispiel auf „Mukoviszidose-Kinder” hinweisen. Soweit dort das Abklopfen allgemein als maßgebende Hilfeleistung aufgeführt wird, wird allerdings verkannt, daß es sich hierbei um eine Maßnahme der Behandlungspflege handelt, die nach den oben beschriebenen allgemeinen Grundsätzen nur dann im Rahmen der Grundpflege zu berücksichtigen ist, wenn sie aus medizinisch-pflegerischen Gründen stets im zeitlichen Zusammenhang mit einer Verrichtung aus dem Katalog des § 14 Abs 4 SGB XI durchzuführen ist. Soweit diese Voraussetzung erfüllt ist, ist eine Beschränkung auf Kinder allerdings nicht zu rechtfertigen.
Nach den Feststellungen des SG besteht beim Kläger der erforderliche zeitliche Zusammenhang zwischen einer Verrichtung und Maßnahmen der Behandlungspflege nicht. Der bei Antragstellung etwa vierzehn- und heute sechzehnjährige Kläger hat danach nur bei den oben genannten Verrichtungen aus den Bereichen Körperpflege und Mobilität krankheitsbedingt einen zeitlich begrenzten Hilfebedarf. Die übrigen Hilfen bei verschiedenen Maßnahmen, die dem Reinigen der Atemwege oder der Bekämpfung anderer Symptome der Mukoviszidose dienen, können keiner Verrichtung der Grundpflege zugeordnet werden. Das SG hat diese Hilfeleistungen – entgegen der Auffassung des Revisionsführers – zu Recht nicht dem Bedarfsbereich „Mobilität” zugeordnet, denn sie stehen mit den in § 14 Abs 4 Nr 3 SGB XI aufgeführten Verrichtungen in keinem Zusammenhang. Die genannten Hilfen können, ausgehend von den Feststellungen des SG, insbesondere nicht den Verrichtungen „Aufstehen” und „Zu-Bett-Gehen” zugeordnet werden. Die Angaben der Eltern des Klägers lassen nicht erkennen, daß die Maßnahmen zur Bekämpfung der Mukoviszidose stets in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Verrichtung „Aufstehen” durchgeführt werden müssen. Eine Berücksichtigung des morgendlichen Weckens als Hilfeleistung scheidet schon deshalb aus, weil nicht zu erkennen ist, daß es sich hierbei um einen krankheits- oder behinderungsbedingten Bedarf iS von § 14 Abs 1 SGB XI handelt. Die gegenteilige Vermutung der Eltern des Klägers widerspricht angesichts ähnlicher Phänomene bei gesunden Gleichaltrigen der Lebenserfahrung. Daß die Hilfe bei der Medikamenteneinnahme nicht zur Grundpflege zählt, hat der Senat bereits in mehreren Urteilen vom 19. Februar 1998 entschieden (BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2). Für den mit der Revision geltend gemachten zeitlichen Zusammenhang zwischen der Nahrungsaufnahme und der Einnahme der Medikamente gibt es nach den auch insoweit vom Kläger nicht angegriffenen Feststellungen des SG keine Anhaltspunkte. Die darüber hinaus als krankheitsbedingter Mehraufwand anfallenden Hilfeleistungen bei der Desinfektion des Bades und der Toilette zählen zur hauswirtschaftlichen Versorgung und nicht zur Grundpflege.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen