Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen Berufsunfähigkeit. Überprüfungsantrag. Zweitbescheid. Darlegungslast und objektive Beweislast. Hauptberuf. Mehrstufenschema
Leitsatz (amtlich)
- Eine gerichtliche Entscheidung verletzt Bundesrecht, wenn ihr nicht zu entnehmen ist, zu welchem Zeitpunkt die festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen eingetreten sind und ab wann sie (einzeln oder durch Kumulation) zu einer gesundheitsbedingten Minderung der Berufsfähigkeit geführt haben.
- Im Überprüfungsverfahren gem. § 44 SGB X darf das Gericht nur prüfen, ob die Ablehnungsentscheidung der Beklagten im Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe rechtswidrig war.
Normenkette
SGB VI a.F. § 43; SGB VI § 99 Abs. 1, § 50 Abs. 1 Nr. 2, § 51 Abs. 1; SGB X § 44; AVG § 23 Abs. 2 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 19. Februar 2003 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist der Anspruch auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) für Bezugszeiten ab 1. Februar 1994 oder ab einem späteren Zeitpunkt.
Der 1955 geborene Kläger wuchs in der DDR auf und erlernte nach dem Abschluss der zehnten Schulklasse den Beruf des Zerspannungsfacharbeiters, welchen er nach Abschluss der Ausbildung im Juli 1974 bis Oktober 1974 ausübte. Von November 1974 bis April 1976 absolvierte er seinen Wehrdienst und begann ab Mai 1976 den Dienst bei der Volkspolizei im Dienstgrad eines Oberwachtmeisters. Von 1979 bis 1983 besuchte er die Offiziersschule des Ministeriums des Innern in A.… und erwarb am 20. Oktober 1983 den Fachschulabschluss als Offizier der mittleren Laufbahn der Organe des Ministeriums des Innern sowie die Berechtigung die Berufsbezeichnung “Staatswissenschaftler” zu führen. Zuletzt hatte er den Rang eines Leutnants der Volkspolizei inne und war in der politischen Abteilung der Bezirksdirektion der Volkspolizei als Jugendoffizier tätig. Mit Ablauf des Februar 1986 wurde das Dienstverhältnis auf Grund von Kontakten zur Verwandtschaft in den alten Bundesländern beendet. Mit Bescheid vom 12. März 1998 erklärte das Amt für Rehabilitierung und Wiedergutmachung die Aufhebung des Dienstvertrages für rechtsstaatswidrig (und stellte fest, dass der Kläger Verfolgter iS des § 1 Abs 1 Nr 3 des beruflichen Rehabilitierungsgesetzes sei. Die Verfolgungszeit habe vom 1. März 1986 bis zum 2. Oktober 1990 angedauert).
Nach Beendigung des Dienstverhältnisses nahm der Kläger bis April 1987 eine Tätigkeit als Arbeitsschutzinspektor, Propagandist und Lehrer beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) in der Bezirksgewerkschaftsschule auf. Sodann war er von Mai 1987 bis Dezember 1990 als “wissenschaftlicher Mitarbeiter” im Verkehrskombinat O.… tätig. Die danach aufgenommene Ausbildung zum Fahrlehrer brach der Kläger ohne Abschluss im Juni 1991 ab. Nach anschließender Arbeitslosigkeit bzw Arbeitsunfähigkeit (AU) war er von Januar 1993 bis Dezember 1994 im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) als Projektkoordinator tätig. In der Zeit von Januar 1995 bis März 1997 belegte er diverse Blockkurse des Institutes für Datenverarbeitung und Betriebswirtschaft im Bereich Betriebswirtschaftslehre, Rechnungswesen und EDV. Seither ist er arbeitslos bzw arbeitsunfähig krank.
Einen am 13. April 1994 gestellten Antrag auf Gewährung einer Rente wegen BU bzw Erwerbsunfähigkeit (EU) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. August 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 1995 ab. Die Ablehnung wurde bestandskräftig. Am 11. April 1997 stellte der Kläger erneut einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen BU/EU, in welchem er als Eintritt des Versicherungsfalles das Jahr 1992 angab. Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 17. September 1997 ab, ohne sich auf die Bindungswirkung des Bescheides vom 29. August 1994 zu berufen. Auf das am 4. November 1997 bei der Beklagten eingegangene Widerspruchsschreiben wies diese den Kläger darauf hin, dass der Widerspruch verfristet und damit unzulässig sei, der Widerspruch aber als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gewertet werde. Mit Bescheid vom 15. Dezember 1997 lehnte die Beklagte die Aufhebung des Bescheides vom 17. September 1997 ab, weil dieser rechtmäßig sei. Den am 9. Januar 1998 hiergegen eingelegten Widerspruch wies sie mit der gleichen Begründung durch Widerspruchsbescheid vom 6. August 1998 zurück.
Mit der dagegen am 27. August 1998 erhobenen Klage begehrte der Kläger nur noch die Gewährung einer Rente wegen BU. Das Sozialgericht (SG) Rostock hat die Klage mit Urteil vom 23. Februar 2001 abgewiesen, weil der Kläger mit dem festgestellten Leistungsvermögen noch die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als “wissenschaftlicher Mitarbeiter” ausüben könne und deshalb nicht berufsunfähig sei. Das LSG Mecklenburg-Vorpommern hat die dagegen eingelegte Berufung mit Urteil vom 19. Februar 2003 zurückgewiesen und ausgeführt:
Der Kläger sei nicht berufsunfähig, weil er noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten und anteilig bis halbschichtig auch mittelschwere Arbeiten unter Meidung von Arbeiten in Zwangshaltung für die Wirbelsäule, ohne Überkopfarbeiten, ohne Arbeiten in Haltungskonstanz, ohne längere Hock- oder Beugehaltungen, ohne häufiges Bücken und häufiges Strecken, ohne häufiges Steigen, im Sitzen mit Unterbrechung oder im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen (wobei Stehen und Gehen nicht den überwiegenden Anteil ausmachen sollten), ohne ungeschützte Exposition durch Kälte, Nässe und Zugluft und ohne Akkord verrichten könne. Der Sachverständige K.… habe in seinem Gutachten ausgeführt, dass aus nervenärztlicher Sicht eine Alkoholabhängigkeit (seit 2000 in Abstinenz) ohne Folgeschäden sowie eine depressive Neurose bestehe. In geistiger Hinsicht bestehe eine Einschränkung des Leistungsvermögens lediglich dahingehend, dass der Kläger keine Aufgaben mit außerordentlich hohen Anforderungen an die kognitiven Funktionen verrichten könne. Mit diesem Leistungsvermögen könne der Kläger noch auf Büroarbeiten der Tarifgruppe VIII BAT zumutbar verwiesen werden, etwa als Registrator.
Die Feststellung, welches der für die Beurteilung der BU maßgebliche Beruf des Klägers sei, könne ausnahmsweise dahinstehen, weil zum einen die frühere Tätigkeit als Polizeioffizier und zum anderen die Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Verkehrskombinat O.… in Betracht kämen, die jedoch nach der im ersten Verwaltungsverfahren eingeholten Arbeitgeberauskunft des Verkehrskombinates als qualitativ und sozial gleichwertig anzusehen seien. Es handele sich dabei um Tätigkeiten, die nach dem vom BSG entwickelten Mehrstufenschema dem eines gelernten Angestellten (im oberen Bereich dieser Gruppe) aber nicht der obersten Gruppe (Akademiker) entsprechen würden, weil das Studium an der Offiziersschule zwar nach einer Richtlinie des Landes Mecklenburg-Vorpommern zum Eintritt in den gehobenen Polizeidienst berechtige, jedoch einer akademischen Ausbildung und dem damit verbundenen Zugang zur höheren Beamtenlaufbahn gerade nicht entspreche. Der Kläger könne daher auf Tätigkeiten des angelernten Bereichs zumutbar verwiesen werden, weil er in der Lage sei, die Tätigkeit eines angelernten Verwaltungsmitarbeiters, zB eines Registrators entsprechend der Tarifgruppe BAT VIII, auszuüben.
Das BSG hat durch Beschluss vom 18. Dezember 2003 die Revision zugelassen. Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 43 Abs 2 SGB VI (idF bis 31. Dezember 2000 – aF) und des § 128 SGG. Das LSG habe nicht offen lassen dürfen, ob der maßgebliche Beruf des Klägers seine zuletzt versicherungspflichtig ausgeübte Tätigkeit bei der Firma O.… oder die bis Februar 1986 ausgeübte Tätigkeit als Leutnant der Volkspolizei gewesen sei. Diese Tätigkeiten seien entgegen der insoweit verfahrensfehlerhaft zu Stande gekommenen Auffassung des LSG nicht gleichwertig, insbesondere deshalb, weil durch das Berufungsgericht nicht festgestellt worden sei, welchen konkreten Inhalt bzw soziale Wertigkeit die jeweiligen Tätigkeiten gehabt hätten. Das LSG habe fehlerhaft allein darauf abgestellt, dass für beide Tätigkeiten eine wissenschaftliche Ausbildung an einer Hochschule bzw Fachhochschule erforderlich gewesen sei. Hingegen habe es keinerlei Feststellungen bezogen auf das Gesamtbild der jeweiligen Tätigkeiten (Dauer und Umfang der Ausbildung, bisheriger Beruf, besondere Anforderung der bisherigen Berufstätigkeit) getroffen.
Der als maßgeblich anzusehende, zuletzt ausgeübte Beruf sei weiterhin der des Polizeioffiziers. Es handele sich dabei um die sozial und qualitativ höchste Tätigkeit, die der Kläger ausgeübt habe. Von diesem Beruf habe er sich auch nicht gelöst, da die Auflösung des Dienstverhältnisses nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen aus politischen Gründen erfolgt sei. Er habe sich auch mit dem Ausscheiden aus dem Polizeidienst nicht abgefunden, weil er bis Ende der 90er-Jahre wiederholt versucht habe, in den Polizeidienst der Länder Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern aufgenommen zu werden. Die Tätigkeit als Polizeioffizier sei in der Stufe 5 des vom BSG entwickelten Mehrstufenschemas für die Angestelltenberufe einzuordnen. Dies ergebe sich insbesondere daraus, dass nach einer Richtlinie des Innenministeriums des Landes Mecklenburg-Vorpommern Absolventen, die den Fachschulabschluss der Offiziersschule des ehemaligen Ministeriums des Innern der DDR in A.… erworben hätten, in den gehobenen Polizeivollzugsdienst der Schutzpolizei übernommen werden könnten. Die Laufbahn des gehobenen Polizeivollzugsdienstes würde aber nach der Laufbahnverordnung der Länder regelmäßig einen Fachhochschulabschluss voraussetzen, sodass auf Grund der Gleichstellung des Abschlusses er so behandelt werden müsse, als habe er einen Fachhochschul- bzw Hochschulabschluss erworben. Auf Grund der Alkoholabhängigkeit (gegenwärtig in Abstinenz), die als krankheitswertig eingestuft worden sei, und der Leistungseinschränkungen dahingehend, dass überdurchschnittliche Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten nicht gestellt werden könnten, sei er für den Polizeidienst nicht dienstfähig. Er könne somit nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die eine Meisterprüfung oder den erfolgreichen Abschluss einer Fachschule voraussetzten. In diesbezüglichen Tätigkeiten käme es überwiegend auf planende, disponierende und überwachende Funktionen an. Zudem seien in diesen Tätigkeiten hohe kognitive Fähigkeiten und ein großes Umstellungsvermögen erforderlich, für welche gerade bei ihm eine medizinische Leistungsminderung festgestellt worden sei.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 19. Februar 2003 und das Urteil des Sozialgerichts Rostock vom 23. Februar 2001 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. Dezember 1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. August 1998 aufzuheben, die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 17. September 1997 zurückzunehmen und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend. Der maßgebliche Beruf des Klägers sei der des wissenschaftlichen Mitarbeiters in einem Verkehrskombinat. Von der Tätigkeit im Polizeidienst habe er sich freiwillig gelöst, weil ihm auf Grund seines Ausscheidens aus dem Polizeidienst und seines Lebensalters eine Rückkehr praktisch unmöglich sei. Mit dem festgestellten Leistungsvermögen sei er jedoch noch in der Lage, seinen bisherigen Beruf als wissenschaftlicher Mitarbeiter vollschichtig auszuüben.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Für eine abschließende Sachentscheidung fehlen noch tatsächliche Feststellungen.
Streitgegenstand ist das Begehren des Klägers, die Ablehnung eines Rücknahmeanspruchs aus § 44 SGB X im Bescheid der Beklagten vom 15. Dezember 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. August 1998 aufzuheben, die Beklagte zu verpflichten, die bindend gewordene Ablehnung des Rechts auf Rente wegen BU im Bescheid vom 17. September 1997 zurückzunehmen und diese zu verurteilen, ihm im größtmöglichen Umfang eine Rente wegen BU zu zahlen. Der Kläger verfolgt sein Begehren zulässig in einer Kombination von Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklagen (§ 54 Abs 1 und 4 SGG).
Gemäß § 44 Abs 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Der Senat kann auf Grund der vom LSG getroffenen Feststellungen nicht beurteilen, ob zwischen dem vom Kläger angegeben frühesten Zeitpunkt (1. Januar 1992) und der bindend gewordenen (und soweit es den Zeitraum bis zur Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 1995 betrifft) – erneuten – Ablehnung des Antrags mit Bekanntgabe des Bescheides vom 17. September 1997 der Versicherungsfall der BU eingetreten ist und dem Kläger ein Recht auf Rente wegen BU zustand, so dass die Ablehnung des Rentenantrages im Bescheid vom 17. September 1997 und damit die Ablehnung des Überprüfungsantrages vom 4. November 1997 rechtswidrig waren.
Gegenstand des vom Kläger begehrten Überprüfungsverfahrens ist der Zeitraum, von dem er erstmalig Zahlung aus seinem behaupteten Recht auf Rente wegen BU verlangen kann bis zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Ablehnungsentscheidung mit Bescheid vom 17. September 1997. In seinem erneuten Rentenantrag vom 11. April 1997 gab der Kläger an, nach eigener Einschätzung seit 1992 berufs- bzw erwerbsunfähig zu sein. Mit der Ablehnung dieses Antrags, der insoweit auch einen Zeitraum umfasste, für den bereits mit Bescheid vom 29. August 1994 bzw Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 1995 ein Recht auf Rente wegen BU / EU bindend abgelehnt worden war, hat die Beklagte erneut über diesen Zeitraum (Zweitbescheid) und für die Zeit nach Bekanntgabe des ersten Widerspruchsbescheides erstmalig entschieden. Im Rahmen des § 44 SGB X ist daher der gesamte Zeitraum, über den die Beklagte im Ablehnungsbescheid vom 17. September 1997 entschieden hat, Gegenstand des Überprüfungsverfahrens. Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass der Kläger ausgehend von seinem ersten Rentenantrag im April 1994 – unterstellt der Versicherungsfall der BU wäre im Januar 1994 oder früher eingetreten und unter Beachtung des § 99 Abs 1 SGB VI – frühestens ab dem 1. Februar 1994 Zahlung verlangen könnte.
Ob die Voraussetzungen für das Recht auf Rente wegen BU in dem genannten Zeitraum erfüllt sind, kann der Senat wegen ungenügender Feststellungen des LSG nicht entscheiden:
Gemäß § 43 Abs 1 SGB VI (idF bis 31. Dezember 2000 – aF) haben Versicherte, die das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, “Anspruch” auf Rente wegen BU, wenn sie die allgemeine Wartezeit (§ 50 Abs 1 Nr 2 iVm § 51 Abs 1 SGB VI) von fünf Kalenderjahren mit Beitragszeiten (oder Ersatzzeiten) vor Eintritt der BU erfüllt haben (§ 43 Abs 1 Satz 1 Nr 3 aaO), berufsunfähig sind (§ 43 Abs 1 Satz 1 Nr 1, Abs 2 aaO) und in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der BU drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (§ 43 Abs 1 Nr 2, Abs 3 und 4 aaO).
Nach § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI (aF) ist ein Versicherter berufsunfähig, wenn seine Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Die “Erwerbsfähigkeit” (nicht: Erwerbsmöglichkeit) des Versicherten (genauer: seine Berufsfähigkeit) muss also allein wesentlich wegen Krankheit oder Behinderung für die Dauer von mehr als 26 Wochen auf weniger als die Hälfte derjenigen eines gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken sein, die verbliebene Berufsfähigkeit darf somit nur noch für weniger als die Hälfte der entsprechenden Arbeit eines gleichqualifizierten gesunden Versicherten ausreichen.
Gemäß § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI umfasst der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Berufsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsfähigkeit iS der sozialen (gesetzlichen) BU-Versicherung ist also das Vermögen des Versicherten, dh die ihm zu Gebote stehende Fähigkeit, seine durch Ausbildung oder bisherige Berufstätigkeit erworbene berufliche Qualifikation (Berufskompetenz) im (inländischen) Arbeitsleben zur Erzielung von Einkommen einsetzen zu können.
Der Versicherungsfall der BU (dazu und zum Folgenden BSGE 78, 207 = SozR 3-2600, § 43 Nr 13) ist eingetreten, sobald krankheits- oder gebrechensbedingte Einschränkungen der körperlichen, seelischen oder geistigen Leistungsfähigkeit die Fähigkeit des Versicherten, seine bislang auf einer bestimmten Qualifikationshöhe betätigte Berufsfähigkeit weiter einzusetzen, auf weniger als die Hälfte herabgesetzt haben. Anhaltspunkte dafür, beim Kläger könnten die Voraussetzungen für die richterrechtlich entwickelte Arbeitsmarktrente wegen BU vorgelegen haben, gibt es nach den bisherigen Feststellungen des LSG nicht.
Rechtsbegründende Voraussetzungen des Versicherungsfalls der BU sind, dass das Leistungsvermögen des Versicherten allein wesentlich bedingt durch Krankheit oder Behinderung ab einem bestimmten Zeitpunkt dauerhaft, dh für mehr als 26 Wochen, derart herabgesunken ist, dass er seinen rentenversicherten “bisherigen Beruf (sog Hauptberuf)” nicht mehr hälftig und vollwertig (und bei der Arbeitsmarktrente wegen BU: vollschichtig) ausüben kann. Hierfür trägt der Versicherte die Darlegungs- sowie die objektive Beweislast. Ist iS des Vollbeweises festgestellt, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, muss die von Amts wegen zu beachtende materiell-rechtliche rechtshindernde Einwendung des zumutbaren Vergleichsberufs (Verweisungsberufs) geprüft, also festgestellt werden, ob der Versicherte gesundheitlich fähig ist, einen Beruf, der seinem bisherigen Beruf qualitativ gleichwertig ist, noch vollwertig und wenigstens hälftig (bei der Arbeitsmarktrente wegen BU: vollschichtig) zu verrichten. Hierfür obliegt dem Versicherungsträger sowohl die Darlegungs- als auch die objektive Beweislast. Kann der Versicherte den typischen Aufgaben eines zumutbaren Verweisungsberufs (fachliches Anforderungsprofil) und den mit diesen fachlichen Anforderungen üblicherweise verbundenen gesundheitlichen Belastungen (gesundheitliches Belastungsprofil) genügen, ist er grundsätzlich nicht berufsunfähig, ist also die Einwendung begründet. Liegen aber besondere (“spezifische”) Leistungseinschränkungen oder eine ungewöhnliche Summierung von Leistungseinschränkungen vor oder ist der benannte Vergleichsberuf nicht “arbeitsmarktgängig”, wofür der Versicherte die Darlegungs- und Beweislast trägt, muss konkret festgestellt werden, ob es gleichwohl genügend (grundsätzlich mehr als 300) Arbeitsplätze des Vergleichsberufs gibt, an denen der Versicherte arbeiten könnte (oder, bei der Arbeitsmarktrente wegen BU, binnen eines Jahres ein geeigneter Arbeitsplatz vermittelt werden).
Das Berufungsgericht hat bereits keine ausreichenden Feststellungen zu den Entstehungsvoraussetzungen des subjektiven Rechts auf Rente getroffen (1) und nach seinen Feststellungen zu Unrecht angenommen, die Voraussetzungen für die rechtshindernde Einwendung des zumutbaren Verweisungsberufs seien erfüllt (2).
1) Das LSG hat bei der Prüfung des § 43 SGB VI aF Bundesrecht insoweit verletzt, als dem Berufungsurteil bereits nicht zu entnehmen ist, zu welchem Zeitpunkt die festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen eingetreten sind und ab wann sie (einzeln oder durch Kumulation) zu einer gesundheitsbedingten Minderung der Berufsfähigkeit geführt haben. Durch das krankheits- oder behinderungsbedingte Herabsinken der Berufsfähigkeit muss zu einem bestimmten Zeitpunkt die Anspruchsschwelle überschritten worden sein, dass das gesundheitliche Vermögen des Versicherten bei keinem Beruf, der seiner geschützten Berufskompetenz entspricht (ihn also fachlich-qualitativ weder über- noch unterfordert), ausreicht, diesen wenigstens hälftig auszuüben.
Nach den Feststellungen des LSG bestehen vorwiegend im orthopädischen Bereich gesundheitliche Beeinträchtigungen, jedoch ist dem Urteil nicht zu entnehmen, welche Krankheiten oder Gebrechen vorliegen, zu welchem Zeitpunkt sie jeweils eingetreten sind, ob und ggf welche negativen Auswirkungen sich daraus auf die bis zu ihrem Eintritt vorhandene körperliche, seelische oder geistige Leistungsfähigkeit und dadurch auf die Berufsfähigkeit ergeben und ob die Anspruchsschwelle des Versicherungsfalls der BU hierdurch überschritten ist. Der Zeitpunkt, in dem die gesundheitlichen Einschränkungen eingetreten sind, lässt sich auch nicht aus den übrigen Feststellungen des LSG entnehmen, der Kläger sei noch in der Lage, vollschichtig leichte Arbeiten und anteilig bis halbschichtig auch mittelschwere Arbeiten verrichten zu können. Die Beschreibung des noch vorhandenen Leistungsvermögens lässt zwar den Schluss zu, dass dieses jedenfalls spätestens zum Zeitpunkt der Entscheidung des LSG so vorhanden war. Auf diesen Zeitpunkt kommt es im Überprüfungsverfahren gemäß § 44 SGB X jedoch nicht an, weil das Gericht nur prüfen darf, ob die Ablehnungsentscheidung der Beklagten im Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe rechtswidrig war.
Das LSG wird auch zu beachten haben, dass es bereits bei der Prüfung, ob die gesundheitlichen Beeinträchtigungen Auswirkungen auf die Berufsfähigkeit haben, auf die Qualität und die fachlichen Anforderungen der maßgeblichen beruflichen Tätigkeit des Klägers ankommt. Nur wenn der Kläger aufgrund seiner krankheits- oder gebrechensbedingten Leistungseinschränkungen die qualitativen Anforderungen seines bisherigen Berufs (Hauptberuf) nicht mehr erfüllen kann, liegt eine – im Sinne der Rentenversicherung relevante – Minderung der Berufsfähigkeit vor.
Der Hauptberuf ist regelmäßig die der Versicherungspflicht zugrundeliegende Berufstätigkeit, die der Versicherte zuletzt auf Dauer, dh mit dem Ziel verrichtet hat, sie bis zum Erreichen der Altersgrenze oder bis zum Eintritt der auf Krankheit oder Behinderung beruhenden Unfähigkeit auszuüben. Wurde zuvor im Laufe des Erwerbslebens eine höherqualifizierte Tätigkeit im wesentlichen krankheits- oder gebrechensbedingt aufgegeben, so ist zu prüfen, ob diese Tätigkeit maßgeblicher Hauptberuf geblieben ist oder ob der Versicherte ihn dennoch “freiwillig” aufgegeben bzw sich mit seinem Verlust dauerhaft abgefunden hat.
Nach diesen Kriterien kommt nach den bisherigen Feststellungen des LSG als Hauptberuf die Tätigkeit als “wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Verkehrskombinat O.…” in Betracht, weil es sich um die zuletzt, dh vor dem behaupteten Zeitpunkt des Eintritts der BU (1992), auf Dauer ausgeübte Berufstätigkeit handelt. Hierbei kommt es für die Bestimmung des fachlichen Niveaus dieser Berufstätigkeit nicht darauf an, ob es sie noch gibt. Entscheidend ist allein, welche qualitativen Anforderungen die vollwertige Ausübung des Berufs eines “wissenschaftlichen Mitarbeiters beim Verkehrskombinat O.…” stellte, insbesondere, welche Berufsausbildung auf welcher Stufe und mit welcher Dauer regelmäßig vorausgesetzt wurde, ob und welche weiteren beruflichen Erfahrungen erforderlich waren und, hilfstatsächlich, wie dieser Beruf im Entlohnungsgefüge eingestuft war.
Das LSG wird ferner klären müssen, ob es diesen Beruf im streitigen Zeitraum noch mit demselben qualitativen Niveau im Sinne des Mehrstufenschemas (dazu sogleich unter 2) noch gab und ggf, ob der Kläger ihn noch mindestens halbschichtig (bei der Arbeitsmarktrente wegen BU: vollschichtig) verrichten konnte.
2) Das LSG hat Bundesrecht auch verletzt, weil es das vom BSG entwickelte Mehrstufenschema zu § 43 Abs 2 SGB VI aF nicht bzw falsch angewandt und dadurch Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) verletzt hat. Es ist daher nur unter Verletzung von Bundesrecht zum Ergebnis gekommen, der Kläger könne auf den Vergleichsberuf eines Verwaltungsangestellten nach BAT VIII verwiesen werden.
Das BSG hat zur praktischen Ausführung der rechtlichen Vorgaben ua des früheren § 23 Abs 2 Satz 2 AVG (= § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO), dessen rechtlicher Inhalt von § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI unverändert übernommen worden ist, und zur Vermeidung einer rechtlich nicht zu rechtfertigenden unterschiedlichen Rechtsanwendung bei Berufen mit gleicher Qualität (Art 3 Abs 1 GG) das sog Mehrstufenschema entwickelt. Die Stufen sind von unten nach oben nach ihrer Leistungsqualität, diese gemessen nach Dauer und Umfang der im Regelfall erforderlichen Ausbildung und beruflichen Erfahrung, nicht nach Entlohnung oder Prestige, geordnet. Danach sind zu unterscheiden: Ungelernte Berufe (Stufe 1); Berufe mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren (Stufe 2); Berufe mit einer Ausbildung von mehr als zwei Jahren (Stufe 3); Berufe, die zusätzliche Qualifikationen oder Erfahrungen oder den erfolgreichen Besuch einer Fachschule voraussetzen (Stufe 4), zu ihr gehören Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion gegenüber anderen Facharbeitern, Spezialfacharbeiter, Meister, Berufe mit Fachschulqualifikation als Eingangsvoraussetzung; Berufe, die einen erfolgreichen Abschluss einer Fachhochschule oder eine zumindest gleichwertige Berufsausbildung voraussetzen (Stufe 5); Berufe, deren hohe Qualität regelmäßig auf einem Hochschulstudium oder einer vergleichbaren Qualifikation beruht (Stufe 6). In jedem Fall kann ein Arbeitsverdienst hilfstatsächliche Bedeutung für die Feststellung des qualitativen Werts des bisherigen (oder Vergleichs-)Berufs nur haben, soweit er die Beitragsbemessungsgrenze nicht übersteigt; nur insoweit ist er überhaupt rechtlich relevant. Eine “Verweisung”, die grundsätzlich durch eine konkrete Benennung eines Berufs geschehen muss, der an mindestens 300 Arbeitsplätzen im Bundesgebiet ausgeübt wird, kann nur auf einen Beruf derselben qualitativen Stufe oder der nächstniedrigeren erfolgen. Hierbei ist das Überforderungsverbot (Einarbeitung innerhalb von drei Monaten) zu beachten. Eine konkrete Benennung ist grundsätzlich (Ausnahmen: sog Unüblichkeitsfälle oder Seltenheitsfälle) nur dann nicht erforderlich, wenn der bisherige Beruf der ersten Stufe angehört oder wenn ein sog einfacher Angelernter (Stufe 2, aber Ausbildung bis zu einem Jahr) auf ungelernte Berufe verwiesen wird. Das “Mehrstufenschema” ist nicht “schematisch” zu handhaben; es lässt durchaus zu, Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen, die dann aber in den Entscheidungsgründen hinreichend deutlich zu machen sind.
Falls das LSG ggf nach erneuter Prüfung zu dem Ergebnis kommt, von den Berufen, die der Kläger vor und im streitigen Zeitraum ausgeübt hat, sei versicherungsrechtlich relevant derjenige des “wissenschaftlichen Mitarbeiters”, nicht die späteren “Beschäftigungen” vorübergehender Natur und auch nicht die des Volkspolizeileutnants, die nur relevant werden könnten, wenn sie nach ihrem Anforderungsprofil iS des Mehrstufenschemas einer höheren Stufe angehörten, muss es diesen Beruf in das Mehrstufenschema einordnen, bei “Fachschulniveau” in die Stufe 4. Falls es den Beruf mit gleichem fachlichen und gesundheitlichen Anforderungsprofil noch gibt, ist dann zu prüfen, ob die Berufsfähigkeit unter die Hälfte (bei der Arbeitsmarktrente wegen BU: unter Vollschichtigkeit) gesunken ist; anderenfalls ist direkt zu prüfen, ob es auf dieser oder der nächst niedrigeren Stufe einen binnen drei Monaten vollwertig ausübbaren Beruf gibt, den der Kläger im streitigen Zeitraum vor der Bekanntgabe der Ablehnung des Rücknahmeanspruchs wenigstens hälftig (bei der Arbeitsmarktrente wegen BU: vollschichtig) ausüben kann.
Mangels ausreichender Feststellungen des LSG war das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen