Entscheidungsstichwort (Thema)
Neuberechnung nach § 307a Abs 10 SGB 6. Ost- und Westzeiten
Leitsatz (amtlich)
Der Anwendungsbereich von § 307a Abs 10 SGB 6 aF erstreckt sich auf alle Bestandsrentner des Beitrittsgebietes mit „Ost-” und „Westzeiten”, die am 31.12.1995 einen Anspruch auf individuelle Neuberechnung der „übergeleiteten” Rente hatten.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SGB VI § 307a Abs. 10 Fassung: 1991-07-25, Abs. 10 Fassung: 1994-07-26
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen die Urteile des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 19. Oktober 1995 und des Sozialgerichts Halle vom 9. Mai 1995 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über den monatlichen Wert des Rechts auf Erwerbsunfähigkeitsrente, insbesondere darüber, ob die westdeutschen Beitragszeiten der Klägerin zu berücksichtigen sind.
Die 1935 geborene Klägerin legte 1956 in S. … das Abitur ab und bestand im Jahre 1961 in H. … die erste juristische Staatsprüfung. Anschließend war sie von Januar 1962 bis 30. Juni 1967 versicherungspflichtig in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt. Danach übersiedelte sie in die ehemalige DDR. Ab 1. Juni 1989 erhielt die Klägerin eine Invalidenrente – ua auf der Grundlage von 37 Arbeitsjahren – und eine Zusatzinvalidenrente aus der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung ≪FZR≫ (Bescheid des FDGB – Verwaltung der Sozialversicherung – vom 18. Mai 1989). Mit Bescheid über die „Umwertung und Anpassung der Rente aufgrund des ab 1. Januar 1992 geltenden neuen Rentenrechts” vom 27. November 1991 wurde anstelle der bisher gezahlten Versichertenrenten eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit geleistet; unter Zugrundelegung der persönlichen Entgeltpunkte (Ost), des Rentenartfaktors für die Erwerbsunfähigkeitsrente von 1,0 und des aktuellen Rentenwerts (Ost) betrug die monatliche Rente 1.192,55 DM; da der Monatsbetrag der Rente für Dezember 1991 höher gewesen war, wurde der Klägerin zusätzlich ein sogenannter Auffüllbetrag gewährt; abzüglich ihres Beitrags zur gesetzlichen Krankenversicherung belief sich der Auszahlbetrag der Leistungen für Januar 1992 auf 1.475,11 DM. Den Widerspruch, mit dem die Klägerin auch die Berücksichtigung der im Bundesgebiet zurückgelegten Beitragszeiten begehrt hatte, wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 1993).
Mit Schreiben vom 17. Mai 1994 beantragte die Klägerin die teilweise Rücknahme des Umwertungsbescheides im Hinblick auf die nach ihrer Auffassung zu berücksichtigenden, in der Bundesrepublik Deutschland (ohne das Beitrittsgebiet) zurückgelegten Beitragszeiten. Die Beklagte berechnete im Bescheid vom 23. August 1994 die Rente unter Anrechnung von nunmehr zwei Zurechnungsjahren neu; der Zahlbetrag der Erwerbsunfähigkeitsrente belief sich danach am 1. Januar 1992 auf 1.478,49 DM; im übrigen wies sie den Antrag der Klägerin zurück. Mit dem Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie habe wegen ihrer versicherungspflichtigen Tätigkeit im Bundesgebiet einen eigenständigen Rentenanspruch nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland (ohne das Beitrittsgebiet) erworben; sie werde jedoch von der Beklagten so gestellt, als hätte sie nie Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland gezahlt. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. Januar 1995 zurück und führte aus: Gemäß Art 23 des Gesetzes zu dem Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR (Staatsvertragsgesetz) vom 25. Juni 1990 (BGBl II S 518) sei für die Rentenzahlung der Versicherungsträger zuständig, in dessen Bereich sich der Rentenempfänger am 18. Mai 1990 aufgehalten habe; die Rente sei daher unter Beachtung der zu diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Regelungen weiter zu gewähren; die im Bundesgebiet zurückgelegten Zeiten seien nach der Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialpflichtversicherung (Renten-VO) vom 23. November 1979 (GBl I Nr 38 S 401) bei der Berechnung der Rente bereits als Arbeitsjahre zugrunde gelegt worden.
Das Sozialgericht (SG) Halle hat die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide sowie der Rentenanpassungsmitteilung zum 1. Januar 1995 verurteilt, der Klägerin ab 1. Januar 1992 eine nach den Vorschriften des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) neu berechnete Rente zu zahlen, soweit diese die bisher gewährte Leistung übersteigt (Urteil vom 9. Mai 1995). Das Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt hat durch Urteil vom 19. Oktober 1995 die Berufung der Beklagten mit folgender Begründung zurückgewiesen: Die Klägerin habe gemäß § 307a Abs 10 SGB VI idF des Renten-Überleitungsgesetzes (RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I S 1606) einen Anspruch auf Neuberechnung der Rente; sie habe Beitragszeiten im Bundesgebiet (ohne das Beitrittsgebiet) zurückgelegt; aus diesen Zeiten sei eine Leistung von einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland noch nicht erbracht worden. Dieser Feststellung stehe die Berücksichtigung – auch – von versicherungspflichtigen Zeiten außerhalb der DDR iS der Renten-VO nicht entgegen. Soweit diese Zeiten in dem Rentenanspruch bis Dezember 1991 enthalten gewesen seien, handele es sich lediglich um eine Leistung aus der Rentenversicherung der DDR.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine fehlerhafte Auslegung des § 307a Abs 10 SGB VI und trägt vor:
Der Auslegung des § 307a Abs 10 SGB VI in dem angefochtenen Urteil könne – ebenso wie der Entscheidung des 13. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 8. November 1995 (13/4 RA 19/94 = BSGE 77, 35 = SozR 3-2600 § 307a Nr 2) nicht gefolgt werden. Sie sei zwar mit § 307a Abs 10 SGB VI idF des RÜG vereinbar gewesen, habe aber nicht der Regelungsabsicht des Gesetzgebers entsprochen. Durch das Gesetz zur Änderung des SGB VI und anderer Gesetze (SGB VI-ÄndG) vom 15. Dezember 1995 (BGBl I S 1824) sei die Vorschrift durch einen Satz 2 ergänzt und damit klargestellt worden. Danach sei die Beitrittsgebietsrente nicht neu zu berechnen, wenn im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet zurückgelegte rentenrechtliche Zeiten bei der Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte (Ost) als Arbeitsjahre berücksichtigt worden seien. Diese Ergänzung sei am 1. Januar 1996 gemäß Art 17 Abs 1 SGB VI-ÄndG in Kraft getreten. Sie sei eine authentische Interpretation der Vorschrift durch den Gesetzgeber und daher keine Gesetzesänderung. Infolgedessen stelle sich die Frage, ob eine – unzulässige – Rückwirkung des Gesetzes vorliege, hier nicht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 19. Oktober 1995 und das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 9. Mai 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin ist anwaltlich nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Gegenstand des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens und damit auch des Revisionsverfahrens ist der Bescheid der Beklagen vom 23. August 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides, soweit der Antrag der Klägerin vom 17. Mai 1994 abgelehnt worden war, ihr unter Abänderung des „Umwertungsbescheides” vom 27. November 1991 für die Zeit ab 1. Januar 1992 eine Erwerbsunfähigkeitsrente unter Zugrundelegung – auch – ihrer im Bundesgebiet (ohne das Beitrittsgebiet) zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten „Westzeiten”), bewertet mit Entgeltpunkten West, zu gewähren und insoweit einen sog Zweitbescheid zu erteilen. Die Vorinstanzen haben zutreffend dem Begehren der Klägerin entsprochen und die Beklagte verpflichtet, die Rente unter Berücksichtigung dieser Zeiten – individuell – neu zu berechnen (und festzustellen).
Rechtsgrundlage für den von der Klägerin im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) geltend gemachten Anspruch ist § 307a Abs 10 SGB VI aF. Die Vorschrift ist eine Auffangregelung für Bestandsrentner mit einer in das SGB VI „übergeleiteten Beitrittsgebietsrente”, die auch rentenrechtliche Zeiten im Bundesgebiet (ohne das Beitrittsgebiet) zurückgelegt und hieraus noch keine Leistung von einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung bezogen haben. Zu dieser Gruppe der Bestandsrentner gehört die Klägerin im Hinblick auf ihre im Gebiet der alten Bundesländer zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten, aus denen noch kein Vollrecht entstanden ist. Diese Zeiten sind bei der „Überleitung” der bis zum 31. Dezember 1991 gewährten Rente ab 1. Januar 1992 in einem – hinsichtlich der Rentenhöhe – pauschalierten Verfahren gemäß § 307a Abs 1 ff SGB VI ausschließlich als Arbeitsjahre mit Entgeltpunkten Ost bewertet worden.
Hierzu im einzelnen:
1. Die Klägerin hat am 1. Januar 1994 gemäß § 307a Abs 8 Satz 5 und 6 SGB VI iVm § 307a Abs 10 SGB VI aF einen Anspruch auf Erlaß eines Zweitbescheides und auch auf individuelle Neuberechnung und Neufeststellung ihrer Rente erlangt. § 307a Abs 10 SGB VI aF findet für den gesamten streitigen Zeitraum auf das Rechtsverhältnis zwischen der Klägerin und der Beklagten Anwendung, und zwar sowohl für die Zeit ab 1. Januar 1992 bis 31. Dezember 1995 (a) als auch für den sich anschließenden Zeitraum ab 1. Januar 1996 (b).
a) Einer Anwendung von § 307a Abs 10 SGB VI aF für den Zeitraum 1. Januar 1992 bis 31. Dezember 1995 steht nicht entgegen, daß der Gesetzgeber die Vorschrift – später – geändert und durch einen Satz 2 ergänzt hat, wonach eine Neuberechnung nicht erfolgt, wenn die im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten bei der Ermittlung der Entgeltpunkte (Ost) als Arbeitsjahre berücksichtigt worden sind. Zwar hat das BSG im Revisionsverfahren neues Recht zu beachten, das – wie hier – nach Erlaß des angefochtenen Urteils in Kraft getreten ist, sofern es das Streitverhältnis erfaßt (BSGE 70, 138, 139 = SozR 3-6180 Art 13 Nr 2; vgl Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 162 RdNr 8). Von letzterem kann jedoch nicht ausgegangen werden, obwohl die „Westzeiten” der Klägerin in der „übergeleiteten Beitrittsgebietsrente” als Arbeitsjahre gemäß §§ 2 Abs 2 Buchst n und 5 Abs 2 Buchst b Renten-VO zugrunde gelegt worden sind. Denn die Änderung kann erst ab 1. Januar 1996 Geltung beanspruchen.
aa) Die Neufassung des § 307a Abs 10 SGB VI ist durch Art 1 Nr 63 SGB VI-ÄndG vom 15. Dezember 1995 eingefügt worden und gemäß Art 17 Abs 1 SGB VI-ÄndG erst am 1. Januar 1996 in Kraft getreten. Eine Rückwirkung auf die Zeit vor ihrem Inkrafttreten hat sich die geänderte Vorschrift nicht beigemessen. Eine – andere – Bestimmung, nach der die Neufassung auch vor ihrem Inkrafttreten auf Fallgestaltungen vor dem 1. Januar 1996 Anwendung finden soll, enthält das Gesetz nicht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus §§ 300 ff SGB VI; im Gegensatz zum Inkrafttreten der Neuregelung des § 315b SGB VI (Art 1 Nr 66 iVm Art 17 Abs 3 SGB VI-ÄndG) hat der Gesetzgeber bei Änderung des § 307a Abs 10 SGB VI gerade nicht angeordnet, daß die Vorschrift mit Wirkung vom 1. Januar 1992 in Kraft tritt.
bb) Eine Rückwirkung der geänderten Vorschrift aufgrund einer sog authentischen Interpretation des § 307a Abs 10 SGB VI aF kommt ebenfalls nicht in Betracht. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat § 307a Abs 10 Satz 2 SGB VI nicht lediglich klarstellende Bedeutung in dem Sinne, daß die ursprüngliche Fassung der Vorschrift von Anfang an so auszulegen ist, als hätte Satz 2 aaO bereits bei Inkrafttreten von § 307a Abs 10 SGB VI aF am 1. Januar 1992 gegolten. Die „Interpretation” eines Gesetzes durch den Gesetzgeber, der eine Vorschrift in dem von ihm (jetzt) gewünschten Sinn angewandt wissen will, und zwar entgegen einer Auslegung durch das zuständige Gericht, ist jedenfalls dann nicht zulässig, wenn er einen – wie hier (siehe unten) – schon bekannten streitigen Sachverhalt neu bewertet und dementsprechend gegenüber dem alten Recht eine abweichende Grenze zieht (vgl hierzu BSG SozR 4100 § 168 Nr 22; SozR 3-4100 § 56 Nr 4). In diesen Fällen kann eine Rechtsänderung verfassungsrechtlich zulässig nur aufgrund eines neuen Gesetzes in Bindung an das Rechtsstaatsprinzip, also durch Schaffung neuen Rechts herbeigeführt werden. Denn nach Verabschiedung des Gesetzes durch den Gesetzgeber und nach seinem Inkrafttreten fällt ein Auslegungsstreit nicht mehr in die Kompetenz der Gesetzgebung; zuständig ist in diesen Fällen allein die rechtsprechende Gewalt, das mit der Anwendung (und Auslegung) der Vorschrift befaßte Gericht (Art 20 Abs 2 Satz 2 Grundgesetz ≪GG≫).
Die Auslegung von § 307a Abs 10 SGB VI aF war in diesem Sinne streitig. Nach der Entscheidung des 13. Senats vom 8. November 1995 (13/4 RA 19/94 = BSGE 77, 35 = SozR 3-2600 § 307a Nr 2) hatten nämlich alle Bestandsrentner mit „Westzeiten”, die hieraus keine „originäre” beitragsbezogene Leistung eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland bezogen, entgegen der Auffassung des „Gesetzgebers” (vgl BT-Drucks 13/3150 S 45) Anspruch auf individuelle Berechnung ihrer Rente unter Zugrundelegung ihrer mit Entgeltpunkten West zu bewertenden rentenrechtlichen Zeiten, und zwar unabhängig davon, ob in der „übergeleiteten Beitrittsgebietsrente” die in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten als Arbeitsjahre mit Entgeltpunkten Ost berücksichtigt waren.
Der Senat folgt der Auffassung des 13. Senats (BSGE 77, 35 = SozR 3-2600 § 307a Nr 2), der den Inhalt des § 307a Abs 10 SGB VI aF zutreffend interpretiert hat. Dies ergibt Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik der Vorschrift.
§ 307a Abs 10 SGB VI aF lautet: „Abweichend von Abs 1 ist eine Rente nach den Vorschriften dieses Buches auch neu zu berechnen, wenn aus im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten eine Leistung noch nicht erbracht worden ist und die Voraussetzungen für einen Rentenanspruch nach den Vorschriften dieses Buches erfüllt sind”. Begründet wurde diese Vorschrift nach den Materialien (BT-Drucks 12/826 S 19) wie folgt: „Die Regelung in Abs 10 stellt sicher, daß Personen, deren Rente aus dem Beitrittsgebiet grundsätzlich umzuwerten ist, dennoch ihre Rente nach den Vorschriften des SGB VI neu berechnet erhalten, wenn aus rentenrechtlichen Zeiten in den alten Bundesländern eine Leistung noch nicht erbracht wird”. Beispielhaft wurde insoweit auf die Fälle einer Rückkehr in das Gebiet der ehemaligen DDR nach dem 18. Mai 1990 verwiesen, in denen bereits vor 1992 eine Rente nach den Vorschriften des DDR-Rentenrechts bewilligt worden war, ein Anspruch auf eine Rente aus Beitragszeiten in den alten Bundesländern aber (noch) nicht bestanden hat.
Wie sowohl dem Wortlaut als auch der Begründung zu entnehmen ist, handelt es sich bei § 307a Abs 10 SGB VI aF um eine Auffangregelung für alle Bestandsrentner des Beitrittsgebiets mit „Westzeiten”, die aufgrund dieser Zeiten noch keine originäre (beitragsbezogene) Leistung von einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten haben. Erfaßt werden von dieser Regelung einmal Bestandsrentner mit „Westzeiten”, die nach dem derzeitigen Stand westdeutsche rentenrechtliche Zeiten nur in einem solch – geringen – Umfang zurückgelegt haben, daß ein Vollrecht (nach dem SGB VI) nicht entstehen kann; unter diese Regelung fallen zum anderen Bestandsrentner, bei denen die zurückgelegten westdeutschen rentenrechtlichen Zeiten – noch – nicht zum Vollrecht erstarkt sind, bei denen also lediglich eine Anwartschaft auf eine zukünftige „originäre” SGB VI-Rente besteht. Letztlich erstreckt sich die Auffangregelung auch auf Bestandsrentner, die sowohl ein Recht auf eine in das SGB VI „übergeleitete Beitrittsgebietsrente” als auch auf eine SGB VI-Rente aus „originären” rentenrechtlichen Zeiten des Bundesgebiets (ohne das Beitrittsgebiet) haben, die jedoch eine Leistung „aus diesen Zeiten” deshalb nicht erhalten, weil der Wert der Rente aus „Westzeiten” geringer ist als derjenige der in das SGB VI „übergeleiteten” Beitrittsgebietsrente und weil im Hinblick hierauf die „originäre” (West)Rente gemäß § 89 SGB VI ruht (vgl hierzu Urteil vom 29. Juli 1997 – 4 RA 41/96 – zur Veröffentlichung vorgesehen). In diesen Fällen ist anstelle der pauschalierten „Umwertung” nach § 307a Abs 1 ff SGB VI entsprechend §§ 254b und 254d SGB VI zu verfahren und der Wert der Rente entsprechend dem individuellen Versicherungsverlauf sowohl mit Entgeltpunkten West als auch mit Entgeltpunkten Ost individuell zu berechnen (vgl hierzu entsprechend BSGE 77, 35 = SozR 3-2600 § 307a Nr 2).
Diese Auslegung entspricht auch der Systematik des § 307a SGB VI.
§ 307a SGB VI (ebenso wie § 307b SGB VI) regelt in Ausführung von Art 30 Abs 5 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag (EV) – vom 31. August 1990, BGBl II S 889, wie der monatliche Wert der aus der Sozialpflichtversicherung und der FZR „übergeleiteten” Rente nach dem SGB VI zu bestimmen ist (vgl hierzu Urteil vom 31. Juli 1997 – 4 RA 103/95 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Gemäß § 307a Abs 1 ff SGB VI werden diese Renten nicht individuell (neu) berechnet und festgestellt; ihr Wert (Rentenhöhe) wird vielmehr in einem pauschalierten Verfahren unter Berücksichtigung von persönlichen Entgeltpunkten (Ost) „umgewertet”, damit er an den Rentenanpassungen teilnehmen kann. Ermittelt werden die persönlichen Entgeltpunkte (Ost), wenn am 31. Dezember 1991 Anspruch auf eine Rente nach dem als sekundären Bundesrecht bis 31. Dezember 1991 weiter geltenden Rentenrecht des Beitrittsgebiets bestanden hat (Art 9 Abs 2 EV iVm Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet F und H).
Abweichend von dieser für die Mehrzahl der Bestandsrentner einer Sozialpflichtversicherungs- und FZR-Rente geltenden, der Verwaltungsvereinfachung dienenden pauschalierenden „Überleitungsregelung” (vgl entsprechend BT-Drucks 12/826 S 19) ist die Rente von Bestandsrentnern des Beitrittsgebiets, die zu dem in § 307a Abs 9 bis 10 SGB VI umschriebenen Personenkreis gehören, unter bestimmten Voraussetzungen unter Berücksichtigung der hierfür vorgesehenen Sonderregelungen (§§ 228 ff SGB VI) individuell neu zu berechnen, sofern sie „westdeutsche” Versicherungszeiten zurückgelegt haben. § 307a Abs 9 Nr 1 SGB VI sieht eine derartige Neuberechnung vor, wenn neben einer Beitrittsgebietsrente auch eine Rente aus in der Zeit von 1949 bis 1961 zurückgelegten westdeutschen Beitragszeiten zu zahlen ist; nach Abs 9 Nr 2 aaO ist eine derartige Neuberechnung bei einem Zusammentreffen einer Beitrittsgebietsrente mit einer solchen nach Art 23 §§ 2 oder 3 des Staatsvertrages vorzunehmen. Beiden Fallgestaltungen ist gemeinsam, daß Bestandsrentner einer Beitrittsgebietsrente auch „Westzeiten” zurückgelegt haben, die im Rahmen einer pauschalen Umwertung nach § 307a Abs 1 bis 3 SGB VI nicht bzw nicht mit dem Wert zu berücksichtigen sind, der bei allen übrigen Beitragszahlern mit in der Bundesrepublik Deutschland (ohne das Beitrittsgebiet) zurückgelegten Beitragszeiten zugrunde gelegt wird. In diesen Zusammenhang ordnet sich § 307a Abs 10 SGB VI aF zwanglos ein. Während in § 307a Abs 9 Nr 1 und 2 SGB IV bestimmte typische Fallgestaltungen normiert sind, enthält § 307a Abs 10 SGB VI aF entsprechend seiner Stellung einen Auffangtatbestand für alle diejenigen Bestandsrentner des Beitrittsgebiets, die von § 307a Abs 9 SGB VI nicht erfaßt werden, jedoch ebenfalls rentenrechtlich relevante „Westzeiten” im Gebiet der alten Bundesländer zurückgelegt haben. Die Regelung sollte somit nach ihrem Sinn und Zweck sicherstellen, daß alle zur gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland (ohne das Beitrittsgebiet) entrichteten Beiträge grundsätzlich nicht verloren gehen, sondern rentensteigernd erhalten bleiben.
Zu Unrecht vertritt die Beklagte die Auffassung, der Gesetzgeber habe bei Normierung von § 307a Abs 10 SGB VI aF lediglich die von Art 23 § 3 Abs 2 des Staatsvertragsgesetzes erfaßten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Beitrittsgebiet in der Zeit vom 19. Mai 1990 bis 31. Dezember 1991 „begünstigen” wollen, also diejenigen, deren „Westzeiten” wegen des Wohnsitzwechsels nach dem 18. Mai 1990 im Hinblick auf §§ 20, 21 des Rentenangleichungsgesetzes (RAnglG) vom 28. Juni 1990 (GBl I Nr 38 S 495, 1457) nicht mehr hätten berücksichtigt werden dürfen. Dieser Auffassung steht bereits die oben dargelegte Systematik entgegen. Nicht gefolgt werden kann der Beklagten auch soweit sie gegen die Auslegung der Vorschrift durch den 13. Senat (BSGE 77, 35 = SozR 3-2600 § 307a Nr 2) einwendet, der Gesetzgeber habe nicht davon ausgehen können, daß im Rahmen einer Beitrittsgebietsrente „Westzeiten” zu berücksichtigen seien, da Rentenansprüche nach der Übersiedlung des Berechtigten in die ehemalige DDR gemäß § 96 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) „untergegangen” seien. Unabhängig davon, daß die Frage streitig ist, wie die Rentenhöhe bei Vorliegen – auch – rentenrechtlicher Zeiten des „alten Bundesgebietes” zu berechnen ist und nicht etwa, ob Rentenansprüche der „alten” Bundesrepublik Deutschland bei der Übersiedlung in die ehemalige DDR untergegangen sind, trifft diese Auffassung nicht zu. Denn § 96 AVG gewährte dem Rentenversicherungsträger bis 31. Dezember 1991 gegenüber diesen Versicherten lediglich eine rechtshindernde, die einzelnen monatlichen Zahlungsansprüche betreffende, also die Auszahlung hindernde Einrede (vgl Urteil vom 29. Juli 1997 – 4 RA 41/96 – zur Veröffentlichung vorgesehen).
Infolgedessen findet § 307a Abs 10 SGB VI aF auf das Rechtsverhältnis zwischen der Klägerin und der Beklagten Anwendung, soweit es den Zeitraum vom 1. Januar 1992 bis 31. Dezember 1995 betrifft.
b) Gleiches gilt auch für die Zeit ab 1. Januar 1996. Die den Abs 10 Satz 1 aaO (= aF) einschränkende Regelung (§ 307a Abs 10 Satz 2 SGB VI = nF) bezieht sich nach Sinn und Zweck nicht auf Bestandsrentner des Beitrittsgebietes mit „Westzeiten”, deren Anspruch auf Neuberechnung (und auf Entscheidung über den Antrag auf Neufeststellung) bereits am 31. Dezember 1995 entstanden war.
Zwar könnte dem Wortlaut von § 307a Abs 10 Satz 2 SGB VI entnommen werden, daß eine Neuberechnung des Wertes der Rente nicht erfolgen soll, wenn im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet zurückgelegte rentenrechtliche Zeiten bei der Ermittlung der Entgeltpunkte Ost als Arbeitsjahre – bereits – berücksichtigt worden sind. Ginge man allein von diesem Wortlaut des Satzes 2 aaO aus, so könnte man zu dem Ergebnis gelangen, daß ab 1. Januar 1996 einer individuellen Berechnung der Rente in den og Fällen des § 307a Abs 10 SGB VI aF im wesentlichen die materiell-rechtliche Grundlage entzogen werden sollte und auch der Wert der Rente demnach nicht mehr individuell unter Berücksichtigung der „Ost”- und „Westzeiten” zu berechnen, sondern ab 1. Januar 1996 wiederum pauschal nach § 307a Abs 1 ff SGB VI festzustellen wäre; denn grundsätzlich könnten, wie dies auch bei der „Überleitung” der Erwerbsunfähigkeitsrente der Klägerin in das SGB VI geschehen, bei der Ermittlung der Entgeltpunkte Ost die „Westzeiten” als Arbeitsjahre berücksichtigt werden (§ 307a Abs 3 Nr 1 SGB VI).
Eine derartige am Wortlaut orientierte Auslegung würde jedoch Sinn und Zweck der Neuregelung widersprechen. Grundanliegen dieser Änderung war die Absicht des Gesetzgebers, aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität die Entscheidung des 13. Senats (BSGE 77, 35 = SozR 3-2600 § 307a Nr 2) zu § 307a Abs 10 SGB VI aF durch eine „Klarstellung” zu korrigieren, weil andernfalls die Rentenversicherungsträger „Hundert-tausende von Bestandsrenten” neu zu berechnen hätten und eine Beschränkung der neuen Berechnung auf den Personenkreis des § 307a Abs 10 SGB VI „kaum noch zu rechtfertigen wäre” (vgl BT-Drucks 13/3150 S 45). Gesetzeszweck der Änderung der Rentenüberleitungsvorschrift war demnach – in erster Linie – der grundsätzlich bei der Ordnung von Massenerscheinungen zulässige Gesichtspunkt der Verwaltungsvereinfachung. Legt man diesen Gesetzeszweck zugrunde und berücksichtigt zudem, daß der Gesetzgeber eine sachgemäße und ausgewogene Regelung treffen wollte, so wird deutlich, daß der og Personenkreis, zu dem auch die Klägerin zählt, deren Anspruch auf individuelle Berechnung der Rente nach § 307a Abs 10 SGB VI aF also bereits am 31. Dezember 1995 entstanden war, nicht von der Regelung des § 307a Abs 10 SGB VI nF erfaßt werden sollte. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, daß der Gesetzgeber die gesetzliche Verpflichtung der Leistungsträger, Anträge umfassend und schnell zu bearbeiten, damit der Berechtigte ihm zustehende Leistungen möglichst umgehend erhält (§ 17 Abs 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB I≫), im Auge hatte. Infolgedessen mußte er bei pauschalierender Betrachtung davon ausgehen, daß bis zum Inkrafttreten der Neufassung sämtliche Anträge auf Neuberechnung (und Neufeststellung) bereits bearbeitet und die – individuellen – Versicherungsverläufe mithin bereits erstellt waren. Im Hinblick darauf, daß eine „rückwirkende Klarstellung” der Regelungsabsicht nur als zukünftige Rechtsänderung in Betracht kam, (siehe oben) konnte eine Verwaltungsvereinfachung in diesen Fällen, in denen bereits eine „Neuberechnung” in dem og Sinn erfolgt war, bei dem genannten Personenkreis durch die Gesetzesänderung nicht mehr erreicht werden. Es wäre sogar sinnwidrig, wollte man nach Erstellung des individuellen Versicherungsverlaufs den früheren Rechtszustand wieder einführen und ab 1. Januar 1996 die Rente pauschal nach § 307a Abs 1 ff SGB VI berechnen. Der in den Materialien für die Änderung genannte weitere (Neben)Gesichtspunkt einer Verpflichtung zur Neuberechnung aller Bestandsrenten aus Gründen der Gleichbehandlung ist nicht nachvollziehbar. Denn bei der von § 307a Abs 10 SGB VI aF erfaßten Gruppe handelt es sich um einen gegenüber der Mehrzahl der Bestandsrentner begrenzten Personenkreis mit rentenrechtlichen Zeiten im Bundesgebiet (ohne das Beitrittsgebiet).
2. Nach alledem kann § 307a Abs 10 SGB VI nF bereits einfach-rechtlich nicht entnommen werden, daß Berechtigte, die am 31. Dezember 1995 nach § 307a Abs 10 SGB VI aF einen Anspruch auf individuelle Neubewertung (und Neufeststellung) ihrer Rente hatten, von der materiell-rechtlich einschränkenden Regelung des § 307a Abs 10 Satz 2 SGB VI hätten erfaßt werden sollen.
Infolgedessen stellt sich – hier – das Problem einer sog echten Rückwirkung „Rückbewirkung von Rechtsfolgen”) oder einer unechten Rückwirkung „tatbestandliche Rückanknüpfung”) nicht (vgl hierzu BVerfGE 72, 200, 242 f). Daher ist auch nicht zu entscheiden, ob durch Einbeziehung in den Auffangtatbestand des § 307a Abs 10 SGB VI aF und hierdurch bedingter Berücksichtigung von Versicherungszeiten „Ost” und „West”, bewertet mit Entgeltpunkten Ost und West, für Berechtigte überhaupt eine eigentumsgeschützte Rechtsposition geschaffen worden ist, in die der Gesetzgeber – ggf ohne rechtfertigenden Grund – durch die Gesetzesänderung eingegriffen hat.
3. Die Klägerin gehört mithin zu dem von dem Auffangtatbestand des § 307a Abs 10 SGB VI aF erfaßten Personenkreis. Sie hat Anspruch auf Berücksichtigung der im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten, die mit Entgeltpunkten West bei der Rentenberechnung (und Neufeststellung) zu bewerten sind. Eine – originäre – Leistung eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund dieser Zeiten hat die Klägerin nicht erhalten. Einen Anspruch auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente allein aus diesen „Westzeiten” steht ihr nicht zu. Sie hat zwar die allgemeine Wartezeit erfüllt (§ 50 Abs 1 Nr 2 SGB VI), hatte jedoch in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit nach Bundesrecht (frühestens mit Eintritt der Invalidität im Jahre 1989) nach den Feststellungen des LSG keine drei Jahre mit bundesgebietsdeutschen Pflichtbeiträgen (sog Dreifünftelbelegung) belegt (§ 44 Abs 1 SGB VI).
Da SG und LSG zutreffend entschieden haben, hat die Revision der Beklagten keinen Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1173752 |
NZS 1998, 294 |
SozR 3-2600 § 307a, Nr.10 |
SozSi 1998, 397 |