Leitsatz (redaktionell)
Nach AVG § 4 Abs 1 Nr 4 (= RVO § 1228 Abs 1 Nr 3) sind nur solche Studierende versicherungsfrei, deren Zeit und Arbeitskraft ganz oder überwiegend durch ihr Studium in Anspruch genommen werden ("ordentliche Studierende"). Zu ihnen gehören nicht Personen, die eine zur Ausbildung von Berufstätigen bestimmte Abendschule besuchen, solange die Ausbildung mindestens noch eine Halbtagsbeschäftigung zuläßt.
Normenkette
AVG § 4 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1228 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 5. Mai 1964 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Sohn des Klägers, der Beigeladene zu 1, der wie sein Vater Architekt werden wollte und zu diesem Zweck an mehreren Abenden der Woche eine Fachschule besuchte, während der streitigen Zeit aber auch im Büro seines Vaters arbeitete, in der Angestelltenversicherung (AV) versichert oder nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) als “ordentlicher Studierender einer der fachlichen Ausbildung dienenden Schule” versicherungsfrei war.
Der 1936 geborene Beigeladene hatte nach Beendigung einer Tischlerlehre und Ablegung der Gesellenprüfung im Herbst 1958 das – auf 10 Semester berechnete – Abendstudium an der Bauschule der beigeladenen Stadt begonnen. Der Unterricht wurde an vier Abenden der Woche erteilt und dauerte jeweils von 17.45 bis 21.00 Uhr (= wöchentlich 16 Unterrichtsstunden). Wähernd der ersten sechs Semester war der Beigeladene im Büro seines Vaters und seit Anfang 1960 bei einer mit Planungsarbeiten befaßten Architektengemeinschaft tätig und erhielt zuletzt eine Vergütung von monatlich 600 DM. Von August 1961 bis zum Herbst 1962 war er wiederum bei seinem Vater beschäftigt, und zwar bis Februar 1962 unter Anleitung eines Bauleiters auf einer größeren Baustelle, wo er für die Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung zu sorgen und die Eintragungen im Bautagebuch zu entwerfen hatte; für Studienzwecke war er täglich zwei bis drei Stunden von der Arbeit freigestellt. Ab März 1962 half er bei der Anfertigung von Skizzen und Modellen sowie bei Vervielfältigungs- und Buchbindearbeiten; er war nunmehr drei bis vier Stunden täglich für das Studium Äbeurlaubt. Er beendete dieses im Juli 1963 mit gutem Erfolg.
Für die Zeit vom 15. August 1961 bis zum 31. März 1962 entrichtete der Kläger für seinen Sohn Pflichtbeiträge zur AV nach einem Monatsverdienst von 800 DM. Im April 1962 beantragte er die Rückzahlung dieser Beiträge, weil sein Sohn nur nebenher gegen Entgelt arbeite; seine Beschäftigung diene der praktischen Ausbildung für den künftigen Beruf und sei deshalb versicherungsfrei. Die beklagte Krankenkasse lehnte den Rückzahlungsantrag ab und wies auch den Widerspruch des Klägers zurück: Nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG seien nur Studierende versicherungsfrei, die ihr Studium ganztägig betrieben.
Klage und Berufung des Klägers blieben erfolglos. Das LSG führte aus, Studierende einer Abendschule entsprächen nicht dem üblichen Erscheinungsbild der ordentlichen Studierenden, weil sie sich nicht während der Haupttagesstunden dem Studium widmeten; bei ihnen liege das Gewicht vielmehr auf der beruflichen Tätigkeit. Sie gehörten nicht zu den sog. Werkstudenten, die nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG allein von der Versicherungspflicht befreit werden sollten (Urteil vom 5. Mai 1964).
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und geltend gemacht: Der Begriff des “ordentlichen Studierenden” kennzeichne ausschließlich das Verhältnis des Studierenden zu seiner Schule und habe auch in § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG keinen anderen Sinn. Wer im Gegensatz zum Gasthörer ein Vollstudium betreibe, wie der Sohn des Klägers während der streitigen Zeit, sei ordentlicher Studierender. Im übrigen stelle der Besuch einer Abendschule und eine gleichzeitige Beschäftigung, die Teil des Studiums sei, viel höhere Ansprüche an den Studierenden als ein Tagesstudium. Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Hamburg vom 5. Mai 1964, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Oktober 1963 und die Bescheide der Beklagten vom 24. April und 2. November 1962 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die für die Zeit vom 15. August 1961 bis zum 31. März 1962 zur AV geleisteten Beiträge zurückzuzahlen.
Die beklagte Krankenkasse und die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) beantragen unter Hinweis auf mehrere Urteile des Bundessozialgerichts (BSG 18, 254 und 21, 247),
die Revision zurückzuweisen.
Nach Ansicht der BfA dienen Abendschulen der Ausbildung von Berufstätigen (sog. zweiter Bildungsweg); schon deshalb sei die Ausbildung an ihnen kein ordentliches Studium im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG.
Die Schulbehörde der beigeladenen Stadt hat auf ihre früheren Ausführungen verwiesen. Danach handelt es sich bei den Studierenden der Abendschule überwiegend um ältere und erfahrene Menschen. Als Voraussetzung für den Schulbesuch werde eine volle Berufstätigkeit gefordert. Die Studierenden seien überwiegend im Baugewerbe beschäftigt, und zwar in den ersten Semestern als Handwerker, später als technische Zeichner und Bauleiter uä. Nur in den letzten Semestern sei eine wesentliche Einschränkung der beruflichen Tätigkeit, wenn nicht ihre gänzliche Einstellung, erwünscht und auch notwendig.
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Er hat keinen Anspruch auf Rückzahlung der streitigen Beiträge.
Ob der Kläger die für seinen Sohn entrichteten Beiträge in voller Höhe, d.h. einschließlich des Arbeitnehmeranteils (§ 119 AVG), zurückfordern könnte, wenn er die Beiträge zu Unrecht entrichtet hätte, kann dahinstehen (vgl. § 146 Abs. 4 AVG; BSG 26, 120, 124). Die genannten Beiträge sind nicht zu Unrecht entrichtet worden. Entgegen der Ansicht des Klägers war sein Sohn während der fraglichen Zeit (15. August 1961 bis 31. März 1962) in der AV versicherungspflichtig.
Die Tätigkeit, die der Sohn des Klägers in der genannten Zeit im Architektenbüro seines Vaters verrichtete (Beaufsichtigung einer Baustelle, Entwurf von Eintragungen in das Bautagebuch, Anfertigung von Skizzen und Modellen, Vervielfältigungs- und Buchbindearbeiten), war eine Angestelltentätigkeit; er erhielt für sie ein Entgelt von monatlich 800 DM und erfüllte somit die Voraussetzungen der Versicherungspflicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AVG. Gegen die Annahme einer rein familienrechtlichen Dienstleistung (§ 1617 BGB) spricht insbesondere die Höhe der ihm gezahlten Vergütung (vgl. Palandt, BGB 15. Aufl., § 1617 Anm. 4).
Seine Beschäftigung wurde dadurch, daß er anfangs zwei bis drei, zuletzt drei bis vier Stunden täglich für Studienzwecke von der Arbeit befreit war, keine Nebenbeschäftigung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. Abs. 2 AVG. Weder war er nur gelegentlich beschäftigt (§ 4 Abs. 2a AVG), noch war sein Entgelt so gering, daß es unterhalb der maßgebenden Verdienstgrenze blieb (§ 4 Abs. 2b AVG).
Selbst wenn seine Tätigkeit, wie der Kläger vorgetragen hat, nur seiner praktischen Ausbildung gedient hätte, wäre er deswegen nicht versicherungsfrei gewesen. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AVG macht nämlich auch die als Lehrlinge oder sonst zu ihrer Ausbildung für den Beruf eines Angestellten Beschäftigten versicherungspflichtig. Eine Versicherungsfreiheit Eine Versicherungsfreiheit von “Personen, die zu … ihrer wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf gegen Entgelt tätig sind (so § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO für die Krankenversicherung), kennt die Rentenversicherung seit der Neuregelung des Jahres 1957 nicht mehr. In der AV ist vielmehr seitdem nur noch versicherungsfrei, “wer während der Dauer seines Studiums als ordentlicher Studierender einer Hochschule oder einer sonstigen der wissenschaftlichen oder fachlichen Ausbildung dienenden Schule gegen Entgelt beschäftigt ist” (§ 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG). Die AV (und ähnlich auch die Arbeiterrentenversicherung) hat somit von den beiden in § 172 Abs. 1 Nr. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geregelten Fällen der Versicherungsfreiheit (entgeltliche Tätigkeit zu oder während der wissenschaftlichen Ausbildung) nur den zweiten Fall in das neue Recht übernommen. Auch dessen Voraussetzungen lagen jedoch bei dem Sohn des Klägers in der fraglichen Zeit nicht vor, wie die Vorinstanzen zutreffend angenommen haben.
Daß eine Beschäftigung, die neben einem Studium ausgeübt wird, deswegen nicht ohne weiteres versicherungsfrei ist, hat der erkennende Senat schon wiederholt ausgesprochen. So hat er in BSG 18, 254 zu § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO entschieden, daß Arbeitnehmer, die ein Studium aufnehmen, ihren Beruf aber weiterhin in vollem Umfang ausüben, nicht nach der genannten Vorschrift versicherungsfrei sind; der Senat hat dabei auf den Schutzgedanken der Sozialversicherung und den Ausnahmecharakter des § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO verwiesen. In einer weiteren Entscheidung, die die Versicherungspflicht von “vollbeschäftigten” Lernschwestern betraf, hat der Senat die Anwendung des § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG auf solche Personen beschränkt, die neben ihrem Studium einer Beschäftigung nachgehen, die im allgemeinen von vorübergehender Dauer ist und den Beschäftigten regelmäßig nicht voll in Anspruch nimmt (BSG 21, 247, 251 f).
Der Sohn des Klägers hat nach Aufnahme seines Studiums nicht seinen früheren Beruf “weiterhin” ausgeübt; er war während der streitigen Zeit auch nicht “in vollem Umfang” berufstätig, sondern täglich zwei bis drei Stunden, seit März 1962 drei bis vier Stunden für Studienzwecke von der Arbeit befreit. Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall von den früher entschiedenen. Gleichwohl unterlag auch der Beigeladene während seiner “Teilbeschäftigung” beim Kläger der Versicherungspflicht in der AV, weil die Beschäftigung seine Zeit und Arbeitskraft überwiegend beanspruchte und das Studium demgegenüber zurücktrat.
Nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG ist – anders als nach § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO – nur noch eine während eines Studiums ausgeübte Beschäftigung eines “ordentlichen” Studierenden versicherungsfrei. Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ergibt sich, daß man dabei an sog. Werkstudenten gedacht hat, d.h. an Studenten, die neben ihrem Studium eine entgeltliche Beschäftigung ausüben, um sich durch ihre Arbeit die zur Durchführung des Studiums und zum Bestreiten ihres Lebensunterhalts erforderlichen Mittel zu verdienen (BSG 18, 255 f; Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik zu BT-Drucks. 3080, 2. Wahlperiode, bei § 1228 Abs. 2 Nr. 3 RVO). Durch § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG sollten also nicht etwa Beschäftigte (Voll- oder Teilbeschäftigte) wegen eines daneben betriebenen Studiums von der Versicherungspflicht ausgenommen werden – dazu bestand keinerlei Veranlassung –; die genannte Befreiungsvorschrift wurde vielmehr nur für Studenten geschaffen, die neben ihrem Studium einer ihm nach Zweck und Dauer untergeordneten Beschäftigung nachgehen. Wer mithin in erster Linie Beschäftigter ist, seinem “Erscheinungsbild” nach zum Kreis der Beschäftigten gehört, wird durch ein gleichzeitiges Studium nicht versicherungsfrei. Versicherungsfreiheit besteht vielmehr nur für solche Personen, deren Zeit und Arbeitskraft ganz oder überwiegend durch ihr Studium in Anspruch genommen werden. Nur sie sind “ordentliche Studierende” im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG.
Zu ihnen gehören nicht Personen, die – wie der Sohn des Klägers – eine (im übrigen gerade zur Ausbildung von Berufstätigen bestimmte) Abendschule besuchen, solange die Schulausbildung mindestens noch eine Halbtagsbeschäftigung zuläßt. Dabei ist es unerheblich, ob es sich bei dem Besuch der Abendschule um ein ordentliches Studium im Sinne des für die jeweilige Ausbildungsstätte geltenden Schulrechts handelt. Der schulrechtliche Begriff des “ordentlichen Studierenden” (im Unterschied zum Gasthörer) ist für das Sozialversicherungsrecht, das anderen Zwecken dient, irrelevant. Das gilt jedenfalls für die Anwendung des § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG.
Die hier vom Senat vertretene Auffassung stimmt mit der Rechtsprechung des BSG zu § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG (= § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO) überein. Nach dieser Vorschrift ist die Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus bis längstens zur Vollendung des 25. Lebensjahres zu gewähren, wenn sich die Waise “in Schul- oder Berufsausbildung” befindet. Wie das BSG entschieden hat, liegt eine Schul- oder Berufsausbildung nur vor, wenn die Ausbildung Zeit und Arbeitskraft des Kindes ausschließlich oder überwiegend beansprucht; das ist nicht der Fall, wenn es sich bestimmungsgemäß um eine Ausbildung “Berufstätiger” handelt und die Ausbildung so gestaltet ist, daß sie jedenfalls eine Halbtagsbeschäftigung zuläßt (BSG 21, 185 mit weiteren Hinweisen; vgl. aber auch BSG 23, 227; vgl. ferner SozR BVG § 45 Nr. 11).
Der Senat hat schließlich bei seiner einschränkenden Auslegung des § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG den engen Zusammenhang zwischen dieser Vorschrift und § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG (= § 1259 Abs. 1 Nr. 4 RVO) berücksichtigt. Danach werden unter bestimmten Voraussetzungen Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden “weiteren Schulausbildung oder einer abgeschlossenen Fachschul- oder Hochschulausbildung” bei der Rentenberechnung als Ausfallzeiten angerechnet (vgl. dazu BSG 19, 239 und 20, 35). Wäre eine neben einem Abendstudium ausgeübte Beschäftigung nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG versicherungsfrei, andererseits aber auch die Zeit des Abendstudiums nicht als Ausfallzeit anrechenbar, so könnten dem Betreffenden daraus bei einer späteren Rentengewährung schwerwiegende Nachteile entstehen.
Zusammenfassend ist hiernach festzustellen, daß nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG nur solche Studierende versicherungsfrei sind, deren Zeit und Arbeitskraft ganz oder überwiegend durch ihr Studium in Anspruch genommen werden; dazu gehören nicht Personen, die eine zur Ausbildung von Berufstätigen bestimmte Abendschule besuchen, solange die Ausbildung mindestens noch eine Halbtagsbeschäftigung erlaubt (ebenso oder ähnlich Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl., RVO § 1228, Erl. II C S. 109; Hanow-Lehmann-Bogs, Reichsversicherungsordnung, 4. Buch, 5. Aufl., § 1228 Rand-Nr. 8; Koch-Hartmann, AVG, 2. u. 3. Aufl., Teil V, § 4 AVG Anm. E 2 und 4; Kommentar zur RVO, 4. und 5. Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, 6. Aufl., § 1228 Anm. 6, jeweils mit weiteren Nachweisen, auch aus der Rechtsprechung; a.A. Elsholz-Theile, Die gesetzliche Rentenversicherung, S. 17 oben).
Da der Sohn des Klägers während der streitigen Zeit mehr als halbtägig im Büro seines Vaters tätig war, sind somit für ihn mit Recht Beiträge zur AV entrichtet worden. Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Unterschriften
Dr. Krebs, Spielmeyer
Bundesrichter Schroeder-Printzen ist beurlaubt
Dr. Krebs
Fundstellen
BSGE 27, 192 (LT1) |
BSGE, 192 |
RegNr, 3185 (BSG-Intern) |
USK, 67110 (LT1) |
Die Beiträge 1968, 380 (LT1) |
SozR § 1228 RVO (LT1), Nr 3 |