Prof. Dr. Dr. Julia Krampitz
Die Arbeitswelt unterliegt einem stetigen Wandel. Neben zunehmenden Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen an die Beschäftigten verändert sich die Arbeit auch selbst, d. h., sie wird vielfältiger, komplexer und zum Teil auch intensiver. Mit der Einführung neuer Führungskonzepte entstehen neue Vereinbarungen von Zielen, die auf höhere Planungs- und Steuerungsanforderungen der Beschäftigten ausgerichtet sind. Unternehmen reagieren schneller als früher mit Restrukturierungsmaßnahmen auf Krisen. Ausgehend von den im Rahmen des Konzeptes Industrie 4.0 beschriebenen Zukunftsszenarien muss darüber hinaus von einer stärkeren Vernetzung und Kooperation von Menschen und Maschine ausgegangen werden.
Mit den verschiedenen Entwicklungen geht auch eine Verschiebung der auftretenden Arbeitsanforderungen einher. Die Anzahl der Tätigkeiten, bei denen kognitive, informatorische sowie emotionale Faktoren dominieren und somit die psychische Belastung überwiegt, ist gestiegen und dürfte noch weiter zunehmen. In Bezug zum Anstieg der Arbeitsunfähigkeitstage und Erwerbsminderungsrenten aufgrund psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen hat das Themenfeld der psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt an Bedeutung gewonnen und wird auch in der Öffentlichkeit breit diskutiert.
Körperliche Belastungen durch Schwerstarbeit, Lärm etc. treten zunehmend in den Hintergrund. Weiterhin sind Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeitsteams zu beobachten. Der Anteil akademischer Fachkräfte ist wesentlich niedriger als noch vor 20 Jahren. Die Mitarbeiter stehen Kollegen gegenüber, die unterschiedlichste ethnische, kulturelle sowie religiöse Hintergründe haben. Der auffälligste Wandel findet auf dem Gebiet neuer Medien statt – es stehen immer schnellere und günstigere Informations- und Kommunikationssysteme zur Verfügung. Dies ermöglicht eine weltweite Vernetzung innerhalb eines Unternehmens. Das Internet hat starke Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Konkurrenz ist nicht mehr nur national, sondern international vertreten. Der Erfolg der Unternehmen hängt wesentlich vom Handeln der Mitarbeiter ab. Diese müssen ihre Einstellungen und Verhaltensweisen den veränderten Bedingungen anpassen; aber nicht jeder ist diesen Anpassungsprozessen gewachsen. Inzwischen wird zunehmend erkannt, dass zwischen arbeitsbedingtem Stress und innerbetrieblichen Spannungen, Fehlzeiten und Leistungsabfall ein Zusammenhang besteht.
Wird die Arbeit heute als belastend erlebt, bezieht sich diese Aussage zumeist auf psychosoziale Belastungen, die den Einzelnen fordern bzw. überfordern. Dies macht es notwendig, einerseits psychosoziale Risiken durch ganzheitliche Gefährdungsbeurteilungen zu erfassen, sie zu minimieren bzw. zu vermeiden und die Ressourcen der Mitarbeiter zu fördern. Andererseits steht das frühzeitige Erkennen psychischer Beeinträchtigungen von Mitarbeitern im Vordergrund, um bei Bedarf professionelle Unterstützung zu ermöglichen. Eine wichtige Funktion übernehmen dabei die Führungskräfte. Sie nehmen eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung entsprechender Präventionsstrategien ein.
Durch den in der zurückliegenden Dekade zu beobachtenden Anstieg der Erwerbsminderungsrenten aufgrund "psychischer und Verhaltensstörungen" sowie der in den Statistiken der Krankenkassen sichtbar werdenden Erhöhung entsprechender Diagnosen hat die psychische Gesundheit zunehmendes öffentliches Interesse gefunden. Die verstärkte Aufmerksamkeit zeigt sich u. a. auch
- in der vom BMAS, der BDA und dem DGB verfassten gemeinsamen Erklärung zur psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt,
- in dem neu für die Periode 2013–2018 aufgenommenen Arbeitsschutzziel der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie "Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung",
- in der im Arbeitsschutzgesetz 2013 vorgenommenen Klarstellung, in der nun explizit die psychische Belastung als ein möglicher Gefährdungsfaktor genannt wird (vgl. §§ 4, 5 ArbSchG),
- in der Verordnungsinitiative des Bundesrates "Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastungen".
Die mit dem Wandel der Arbeit auftretenden Belastungsveränderungen und die daraus resultierenden neuen Arbeitsbedingungen sollten den Kriterien menschengerechter Arbeit entsprechen. Eine menschengerechte Tätigkeit wird dabei verstanden als eine Beschäftigung, die die physische und psychische Gesundheit, das Wohlbefinden sowie die Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt, der vorhandenen Qualifikation des Beschäftigten entspricht und die Entfaltung der individuellen Potenziale und Kompetenzen erlaubt. Dieser Forderung in der Praxis nachzukommen, erweist sich als schwierig. Eine Tätigkeit als menschengerecht zu definieren, erfordert umfassende Kenntnisse über das zur psychischen Belastung vorliegende Wissen, um darauf aufbauend Handlungsmöglichkeiten für die Arbeitsgestaltung sowie regulatorische Optionen ableiten zu können.
Defizite bestehen v. a. im Fehlen einer Zusammenschau des vorhandenen Erkenntnisstan...