Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Arbeitszeitgestaltung. Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub. Nationale Regelung, die den Verlust des nicht genommenen Jahresurlaubs und der finanziellen Vergütung für diesen Urlaub vorsieht, wenn der Arbeitnehmer vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses keinen Urlaubsantrag gestellt hat
Normenkette
Richtlinie 2003/88/EG Art. 7
Beteiligte
Tenor
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, sofern sie dazu führt, dass der Arbeitnehmer, der vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses keinen Antrag auf Wahrnehmung seines Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, die ihm nach dem Unionsrecht bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für diesen nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub verliert, und zwar automatisch und ohne vorherige Prüfung, ob er vom Arbeitgeber z. B. durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses wahrzunehmen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 14. September 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 29. November 2016, in dem Verfahren
Sebastian W. Kreuziger
gegen
Land Berlin
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten M. Vilaras, T. von Danwitz und F. Biltgen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter M. Ilešič, J. Malenovský, E. Levits, L. Bay Larsen und S. Rodin,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Januar 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Kreuziger,
- des Landes Berlin, vertreten durch B. Pickel und S. Schwerdtfeger als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwältin L. von Laffert,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Di Matteo, avvocato dello Stato,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch E. Sebestyén und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und T. S. Bohr als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. Mai 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Sebastian W. Kreuziger und seinem früheren Arbeitgeber, dem Land Berlin (Deutschland), über dessen Weigerung, Herrn Kreuziger eine finanzielle Vergütung für den vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub zu zahlen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 4 und 5 der Richtlinie 2003/88 heißt es:
„(4) Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.
(5) Alle Arbeitnehmer sollten angemessene Ruhezeiten erhalten. Der Begriff ‚Ruhezeit’ muss in Zeiteinheiten ausgedrückt werden, d. h. in Tagen, Stunden und/oder Teilen davon. Arbeitnehmern in der [Union] müssen Mindestruhezeiten – je Tag, Woche und Jahr – sowie angemessene Ruhepausen zugestanden werden. …”
Rz. 4
Art. 7 „Jahresurlaub”) dieser Richtlinie lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.”
Rz. 5
Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Eine Abweichung von Art. 7 der Richtlinie ist jedoch nicht zulässig.
Deutsches Recht
Rz. 6
§ 9 der Verordnung über den Erholungsurlaub der Beamten und Richter vom 26. April 1988 (GVBl. 1988, S. 846, im Folgenden: EUr...