Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz. Verbot der Kündigung. Arbeitnehmerin, die nach Ablauf der Frist für die Erhebung einer Klage gegen ihre Kündigung von ihrer Schwangerschaft Kenntnis erlangt hat. Möglichkeit, eine solche Klage zu erheben, sofern innerhalb von zwei Wochen ein Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage gestellt wird. Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Effektivitätsgrundsatz
Normenkette
Richtlinie 92/85/EWG
Beteiligte
Firma Haus Jacobus Alten- und Altenpflegeheim gGmbH |
Tenor
Art. 10 und 12 der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG)
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine schwangere Arbeitnehmerin, die von ihrer Schwangerschaft erst nach Ablauf der für die Erhebung einer Klage gegen ihre Kündigung vorgesehenen Frist Kenntnis erlangt hat, eine solche Klage nur dann erheben kann, wenn sie binnen zweier Wochen einen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage stellt, sofern die Verfahrensmodalitäten im Zusammenhang mit diesem Zulassungsantrag insoweit nicht den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes genügen, als sie Nachteile mit sich bringen, die geeignet sind, die Umsetzung der Rechte übermäßig zu erschweren, die Art. 10 dieser Richtlinie schwangeren Arbeitnehmerinnen vermittelt.
Tatbestand
In der Rechtssache C-284/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Arbeitsgericht Mainz (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. April 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Mai 2023, in dem Verfahren
TC
gegen
Firma Haus Jacobus Alten- und Altenpflegeheim gGmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen sowie des Richters N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin),
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Firma Haus Jacobus Alten- und Altenpflegeheim gGmbH, vertreten durch Rechtsanwalt I. Michalis,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann, D. Recchia und E. Schmidt als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) (ABl. 1992, L 348, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen TC und der Firma Haus Jacobus Alten- und Altenpflegeheim gGmbH (im Folgenden: Haus Jacobus), einer Gesellschaft deutschen Rechts, die eine Pflegeeinrichtung für ältere Menschen betreibt, über die Kündigung von TC, die zum Zeitpunkt der Kündigung schwanger war.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 92/85 definiert als „schwangere Arbeitnehmerin“ „jede schwangere Arbeitnehmerin, die den Arbeitgeber gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten von ihrer Schwangerschaft unterrichtet“.
Rz. 4
Art. 10 („Verbot der Kündigung“) der Richtlinie 92/85 sieht vor:
„Um den Arbeitnehmerinnen im Sinne des Artikels 2 die Ausübung der in diesem Artikel anerkannten Rechte in Bezug auf ihre Sicherheit und ihren Gesundheitsschutz zu gewährleisten, wird Folgendes vorgesehen:
1. Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die Kündigung der Arbeitnehmerinnen im Sinne des Artikels 2 während der Zeit vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubs nach Artikel 8 Absatz 1 zu verbieten; davon ausgenommen sind die nicht mit ihrem Zustand in Zusammenhang stehenden Ausnahmefälle, die entsprechend den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten zulässig sind, wobei gegebenenfalls die zuständige Behörde ihre Zustimmung erteilen muss.
2. Wird einer Arbeitnehmerin im Sinne des Artikels 2 während der in Nummer 1 genannten Zeit gekündigt, so muss der Arbeitgeber schriftlich berechtigte Kündigungsgründe anführen.
3. Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um Arbeitnehmerinnen im Sinne des Artikels 2 vor den Folgen einer nach Nummer 1 widerrechtlichen Kündigung zu schützen.“
Rz. 5
Art. 12 („Rechtsschutz“...