Entscheidungsstichwort (Thema)
Ermessensausübung der Finanzbehörde bei der Inanspruchnahme des Arbeitsgebers als Lohnsteuerhaftungsschuldner oder des Arbeitnehmers als Steuerschuldner durch ein Leistungsgebot im Sinne des § 219 AO
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Leistungsgebot im Sinne von § 219 AO in Verbindung mit § 254 Abs. 1 Satz 1 AO muss eine Aufforderung enthalten, einen dem Grunde und der Höhe nach genau bezeichneten Geldbetrag bei bestimmt bezeichneten Stellen in näher bezeichneter Weise (z. B. Überweisung) zu leisten.
2. Im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung: Ist die Arbeitgeberin in Bezug auf rückständige Lohnsteuerverbindlichkeiten unstreitig Abzugs- und Abführungsverpflichtete nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG in Verbindung mit §§ 39b, 41a EStG gewesen und soll sie aufgrund eines bestandskräftigen Haftungsbescheids durch ein Leistungsgebot in Anspruch genommen werden, so muss die Finanzbehörde auch in diesem Fall ungeachtet dessen eine Ermessensentscheidung treffen, dass § 219 Satz 2 AO den Subsidiaritätsgrundsatz einschränkt und den Erlass eines Leistungsgebotes zulässt, ohne dass Vollstreckungsversuche gegenüber dem Steuerschuldner vorgenommen worden sind.
3. Im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung: Der Grundsatz, dass in erster Linie der Erstschuldner für den geschuldeten Steuerbetrag aufzukommen hat, wird durch die in § 219 AO vorgenommene Modifizierung des Erhebungsverfahrens nicht außer Kraft gesetzt. Das Finanzamt hat demnach vorrangig die Realisierung des Steueranspruchs beim Steuerschuldner in Erwägung zu ziehen. Ist dies zuverlässig und ohne erheblichen Aufwand möglich (z. B. wenn erhebliche Bankguthaben oder unbelastete Immobilien vorhanden sind), kann die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ermessensfehlerhaft sein (im Streifall: gegenüber Arbeitgeber als Haftungsschuldner nach vorherigen erfolglosen Vollstreckungsversuchen beim Arbeitnehmer ergangenes Leistungsgebot nicht ermessensfehlerhaft).
Normenkette
AO §§ 5, 126 Abs. 1 Nr. 2, § 219 Sätze 1-2, § 254 Abs. 1 S. 1; EStG § 42d Abs. 3 S. 1; FGO § 69 Abs. 3 S. 1, Abs. 2 S. 2
Tenor
Der Antrag wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Antragstellerin auferlegt.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines Leistungsgebotes vom 13. April 2022 in Gestalt eines Ergänzungsbescheids vom 9. November 2022.
Die Antragstellerin ist ein Unternehmen in der Rechtsform einer GmbH mit Sitz in B…. Unternehmensgegenstand ist die Erbringung von Verpflegungsleistungen.
Anfang des Jahres 2018 führte das Finanzamt C… bei der Antragstellerin eine Lohnsteuer-Außenprüfung durch (vgl. Bericht vom 16. Mai 2018). Unter Bezugnahme auf die dabei getroffenen Prüfungsfeststellungen erließ der Antragsgegner am 31. Mai 2018 gegenüber der Antragstellerin einen auf § 42 d Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gestützten Haftungsbescheid ohne Leistungsgebot über insgesamt 22 497,87 EUR, der nach Rücknahme einer zunächst hiergegen gerichteten Klage beim FG Berlin-Brandenburg (Az.: 9 K 9002/21) seit Anfang 2022 bestandskräftig ist. In den „Erläuterungen” zum Haftungsbescheid heißt es u.a.: „Ein Leistungsgebot (Zahlungsaufforderung) ergeht derzeit nicht, weil für den oben angegebenen Gesamtbetrag vorrangig die Arbeitnehmer in Anspruch genommen werden. Der Erlass eines Leistungsgebots bleibt für den Fall vorbehalten, dass die Steuererhebung bei den Arbeitnehmern nicht möglich ist. …..”
Der Haftungsbescheid betraf u.a. rückständige Lohnsteuern für nur einen einzigen Mitarbeiter namens D… mit Wohnsitz in E…, den der Antragsgegner als Arbeitnehmer einstufte.
Mit Schreiben vom 19. Oktober 2020 teilte das Finanzamt F… dem Antragsgegner mit, dass die Ergebnisse der Lohnsteuer-Außenprüfung für die Jahre 2015 – 2017 in entsprechenden Einkommensteuer-Schätzungsbescheiden vom 9. Januar 2019 sowie anschließenden Änderungsbescheiden vom 14. September 2020 berücksichtigt worden seien. Die festgesetzten Mehrsteuern seien aber bislang nicht getilgt und inzwischen durch die Finanzkasse niedergeschlagen worden.
Unter dem Datum „13.04.2022” erließ der Antragsgegner eine schriftliche „Zahlungsaufforderung” gegenüber der Antragstellerin über 22 497,87 EUR mit einer Fristsetzung zum 19. Mai 2022. Eine Rechtsbehelfsbelehrung war dem Schreiben nicht beigefügt. Wörtlich ist in dem Schreiben u.a. Folgendes ausgeführt: „Aufgrund des erteilten Mandats werden die mit * gekennzeichneten Beträge zum Fälligkeitstag vom Konto ….. durch Lastschrift eingezogen. …” In den „Erläuterungen” hierzu heißt es: „Unter Hinweis auf das Leistungsgebot im Haftungsbescheid vom 31.05.2018 erfolgt diese Zahlungsaufforderung, weil die Inanspruchnahme bei dem betroffenen Arbeitnehmer nicht möglich war. Sie werden für die mit Haftungsbescheid vom 31.05.2018 festgesetzten Beträge in Anspruch genommen, weil die Erhebung bei den betroffenen Arbeitnehmern nicht möglich war.”
Gegen die „Zahlungsaufforderung” legte die Antragstellerin Einspruch ein und beantragte deren Aussetzung der Vollziehung. Zur...