Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfähigkeit. Ausschlussfristen. Urlaubsabgeltung. Verjährung. Vertrauensschutz
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub und der Anspruch auf den Zusatzurlaub für Schwerbehinderte entsteht auch dann, wenn der Arbeitnehmer im gesamten Bezugszeitraum oder in Teilen davon arbeitsunfähig erkrankt ist.
2. Für Urlaubsansprüche im bestehenden Arbeitsverhältnis bei andauernder Arbeitsunfähigkeit ist mangels Erfüllbarkeit des Anspruchs kein Verfall der Urlaubsansprüche anzunehmen.
Normenkette
BUrlG § 7 Abs. 4; EGRL 88/2003 Art. 7 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Urteil vom 06.05.2010; Aktenzeichen 11 Ca 10661/09) |
Nachgehend
BAG (Aktenzeichen 9 AZR 43/11) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 06. Mai 2010 – 11 Ca 10661/09 – teilweise unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen abgeändert und zur Klarstellung wie folgt gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 29.198,23 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01. Oktober 2009 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens haben die Klägerin 3% und die Beklagte 97% zu tragen. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Zahlung von Urlaubsabgeltung.
Die Klägerin war bei der beklagten Stadt in der Zeit vom 29. Juli 1969 bis 30. September 2009 angestellt. Gemäß § 2 des Arbeitsvertrags vom 29. Juli 1969 richtete sich das Arbeitsverhältnis u.a. nach den Bestimmungen des Bundesmanteltarifvertrags für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G). Künftige Änderungen dieser Bestimmungen oder an ihre Stelle tretende Vorschriften oder Tarifverträge sollten in ihrer jeweiligen Fassung vom Tag ihres Inkrafttretens an für das Arbeitsverhältnis der Parteien gelten. Die Klägerin wurde zunächst in die Lohngruppe 6 HLT eingruppiert. Nach dem Zusatzvertrag vom 26. Juni 1997 wurde sie ab 1. Januar 1997 als Köchin in der Kinderkrippe A weiterbeschäftigt, wobei sie an fünf Tagen in der Woche arbeitete, und in die Lohngruppe 4 HLT eingruppiert. Hätte die Klägerin im Jahr 2009 noch gearbeitet, hätte sie ein Bruttomonatsentgelt in Höhe von EUR 2.014,74 brutto erhalten.
Ab 23. November 1997 war die Klägerin dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt. Durch Abhilfebescheid des Hessischen Amtes für Versorgung und Soziales vom 31. August 1999 wurde bei der Klägerin mit Wirkung ab 1. März 1999 ein Grad der Behinderung von 50 festgestellt. Mit Bescheid vom 19. April 2007 wurde der Grad der Behinderung auf 60 festgesetzt.
Mit Schreiben vom 9. November 2007 verlangte die Klägerin eine leidensgerechte Beschäftigung. Nachdem die Beklagte den Einsatz der Klägerin abgelehnt hatte, erhob die Klägerin im Juni 2008 Klage auf leidensgerechte Beschäftigung als Köchin unter Berücksichtigung einer maximalen Hebe- und Tragelast von fünf Kilogramm. In diesem Rechtsstreit, der beim Arbeitsgericht Frankfurt am Main unter dem Aktenzeichen 11 Ca 4123/08 geführt wurde, wurde am 25. August 2008 ein Vergleich gemäß § 278 Abs. 6 ZPO durch Beschluss festgestellt, der im Wesentlichen folgenden Inhalt hat:
- Das Arbeitsverhältnis der Parteien endet im Hinblick auf die lang andauernde Erkrankung der Klägerin und zur Vermeidung des Ausspruchs einer arbeitgeberseitigen Kündigung am 30. September 2009.
- Die Parteien sind sich darüber einig, dass die Voraussetzungen zur leidensgerechten Beschäftigung der Klägerin bei der Beklagten nicht vorliegen.
- Die Beklagte zahlt an die Klägerin als Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes gemäß den §§ 9, 10 KSchG einen Betrag in Höhe von EUR 15.000,00 (in Worten: Fünfzehntausend und 00/100 Euro) brutto. Der Anspruch auf die Abfindung ist bereits jetzt entstanden und vererblich. Die Abfindungssumme ist zur Zahlung fällig am 30. September 2009.
- Damit ist der vorliegende Rechtsstreit erledigt.
- Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses erhielt die Klägerin keine Vergütung. Die Klägerin nahm von 1997 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2009 keinen Urlaub.
Nachdem die Klägerin die Beklagte mit Schreiben vom 26. November 2009 erfolglos zu Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs und des Zusatzurlaubs für Schwerbehinderte für die Jahre 1997 bis 2009 aufgefordert hatte, erhob sie am 17. Dezember 2009 die vorliegende Klage, die der Beklagten am 23. Dezember 2009 zugestellt worden ist.
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, dass ihr gesetzlicher Mindesturlaubsanspruch und der Zusatzurlaubsanspruch für Schwerbehinderte nicht erloschen seien. Dazu hat sie behauptet, bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig erkrankt gewesen zu sein. Da eine leidensgerechte Beschäftigung nicht möglich gewesen sei, habe sie keinen Urlaub nehmen kön...