Entscheidungsstichwort (Thema)
Tragen eines Kopftuchs während der Arbeit als Erzieherin. Mittelbare Diskriminierung wegen Verbot des Tragens religiöser Symbole. Schutz der Äußerung religiöser Ansichten durch Tragen eines Kopftuchs. Rechtfertigung mittelbarer Ungleichbehandlung wegen Religion. Verhältnis von Neutralität und Diskriminierung. Nachweis der Gefahr der Beeinträchtigung im Sinne des Art. 4 GG
Leitsatz (amtlich)
1. Wenn eine Bewerberin für eine Stelle als Erzieherin vom zukünftigen AG danach gefragt wird, ob sie bereit sei, während der Dienstzeit ein religiöses Symbol abzulegen und nicht zu tragen und dies damit begründet wird, dass beim zukünftigen AG eine Neutralitätsanordnung im HInblick auf das Zeigen und Tragen von Kleidungsstücken mit religiöser Symbolik besteht, so liegt darin zumindest eine mittelbare Diskriminierung gemäß § 3 Abs. 2 AGG wegen der Religion, wenn danach eine Stellenbesetzung unterbleibt.
2. Geschützt ist nämlich nicht nur das Recht, religiöse Überzeugung zu haben, sondern auch das Recht, sie zu äußern, einschließlich dem einer entsprechenden Bekleidung oder sonstiger Zeichen.
3. Damit wird klargestellt, dass eine Benachteiligung wegen der Religion nicht nur dann vorliegt, wenn Religionsanhänger schlechter behandelt werden, als Nicht-Religiöse, sondern bereits dann, wenn jemand im Zusammenhang mit der Religion einen Nachteil erleidet. Die Neutralitätsanordnung des AG, die als Verbot jeder Bekundung irgendeiner Religion oder Weltanschauung formuliert ist, schließt aber nicht generell eine Ungleichbehandlung aus (EuGH v. 15.7.2021 - (- 804/18, (- 342/19).
4. Der zukünftige AG hat keine Umstände dargelegt, die diese mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion rechtfertigen könnten, § 3 Abs. 2 AGG.
5. Gegenüber den sozialpolitischen Zielen, wie den Schutz vor Diskriminierungen im Arbeitsleben ist nämlich eine von der unternehmerischen Freiheit umfasste Maßnahme, wie eine Neutralitätspolitik, n icht automatisch vorrangig, sondern setzt sich nur im konkreten Einzelfall gegen das Diskriminierungsverbot durch, sofern sie einem wirklichen Bedürfnis dieses AG dient (EuGH v. 15.7.2021 - vorzitiert).
6. Dabei hat der AG auch zu belegen, dass zum Zeitpunkt der Einführung der fraglichen internen Regel eine hinreichend konkrete Gefahr der Beeinträchtigung dieses Ziels der Neutralität bestand und gegenwärtig besteht, wie beispielsweise die Gefahr konkreter Unruhe innerhalb des Unternehmens oder die konkrete Gefahr von Ertragseinbußen (EuGH v. 15.7.2021 - vorzitiert).
7. Der AG hat dabei keine tatsächliche, konkrete Gefahr oder Beeinträchtigung der genannten Rechtsgüter dargelegt. Dazu reicht die empirisch nicht untermauerte Prognose nicht aus, dass möglicherweise sämtliche Mitarbeiter der Einrichtung desselben Glaubens oder derselben Weltanschauung angehören würden, dies offen zeigen könnten und deshalb eine Beeinflussung der negativen Glaubensfreiheit der Kinder der Kindertagesstätte und deren Eltern entstehen könnten.
8. Soweit aus verfassungsrechtlichen Gründen, Art. 4 GG, eine verfassungskonforme Auslegung der Neutralitätspolitik zu fordern ist, ändert sich unter Würdigung der Grundrechtspositionen der Kinder, deren Eltern und der Bewerberin an dieser Bewertung nichts. Aus dem Tatsachenvortrag des AG geht nicht hervor, dass eine solche Gefahr schon eingetreten ist oder unmittelbar oder unvermeidlich bevorsteht.
Normenkette
AGG § 3; GG Art. 4; AGG §§ 8, 1, 7 Abs. 1, § 15 Abs. 2, 4; SGB VIII § 3
Verfahrensgang
ArbG Offenbach am Main (Entscheidung vom 25.09.2019; Aktenzeichen 4 Ca 230/19) |
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main – 4 Ca 230/19 – vom 25. September 2019 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt eine Entschädigung wegen einer Diskriminierung.
Die Klägerin ist 27 Jahre alt, verheiratet und ausgebildete Sozialpädagogin. Die Klägerin erwarb an der Frankfurt University of Applied Sciences den Bachelor Soziale Arbeit und hat verschiedene Praktika absolviert. Als Berufserfahrung in dem Beruf Sozialpädagogin hatte die Klägerin zum Zeitpunkt der Bewerbung bei der Beklagten 2 Jahre aufzuweisen.
Am 09.02.2019 hat sich die Klägerin auf eine bei der Beklagten ausgeschriebene Vollzeitstelle als Erzieherin beworben. Wegen der hierzu von der Beklagten veröffentlichten Stellenanzeige wird auf die Anlage zur Klageschrift (Bl. 9 f d.A.) Bezug genommen. Die Stelle als Erzieherin sollte nach den einschlägigen TVöD-Regelungen vergütet werden.
Bei der Beklagten handelt es sich um eine Gemeinde mit knapp 40.000 Einwohnern. Im Stadtgebiet der Beklagten gibt es 26 Kindertagesstätten mit unterschiedlichen Betreuungsangeboten. Ca. 80% der betreuten Kinder in den Kindertagesstätten der Beklagten haben einen Migrationshintergrund. Unter den Kindern wird eine Vielfalt von Religionen vertreten. In den Kindertagesstätten der Beklagten werden fast alle traditionellen Feste gefeiert, überwiegend aber ohne konkret...